Ruth Weiss
Ruth Weiss
Der Zeitzeugin und Friedensstifterin zum 100. Geburtstag
von Rita Schäfer
Der überzeugte Einsatz gegen Unrecht und für Frieden prägt das Leben von Ruth Weiss, die als Ruth Löwenthal am 26. Juli 1924 in Fürth geboren wurde. Deshalb ist ihr 100. Geburtstag ein Anlass, die engagierte Zeitzeugin zu porträtieren. Als Journalistin sowie Autorin von Sachbüchern und Romanen zur jüdischen Geschichte und zum südlichen Afrika erhielt sie internationale Anerkennung. Vor den Nazis musste ihre Familie nach Südafrika fliehen, dort prangerte Ruth Weiss Antisemitismus und Rassismus an und geriet in Konflikt mit dem Apartheidregime. Sie scheute auch nicht Kritik an nachkolonialen Eliten, wenn diese Menschenrechtsverbrechen begingen und Versprechen aus anti-kolonialen Kriegen nicht einhielten.
Die Kindheit von Ruth Weiss endete jäh, als die Nazis an die Macht kamen und der aggressive Antisemitismus im Großraum Nürnberg ihre Familie zur Flucht nach Südafrika zwang. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft in Johannesburg im Jahr 1936 wurde der wachsamen zwölfjährigen Ruth nach eigener Aussage klar, dass dort zusätzlich zu antisemitischen Vorurteilen ein ausgeprägter Rassismus gegen die schwarze Bevölkerung in der weißen Gesellschaft vorherrschte.1 Dies erläuterte sie in Interviews und Gesprächen, u.a. mit der Verfasserin dieses Textes. Weiße Frauen sollten keine Mitmenschlichkeit gegenüber ihren Hausangestellten zeigen, auch nicht gegenüber schwarzen Müttern mit Babys. Das würde die gesellschaftliche Ordnung stören, bekam Ruths Mutter rasch von ihren neuen Nachbarinnen zu hören. Ruth beschrieb die verstörenden Maßregelungen durch weiße, das soziale Umfeld kontrollierende Hausfrauen viele Jahre später anschaulich in ihrer Autobiographie »Wege im harten Gras« (2016). Schwarze Putzhilfen und Kindermädchen wurden schon vor der Einführung der Apartheid 1948 herablassend behandelt, ein Kulturschock für die geflohene jüdische Familie. Ruth thematisierte ihre frühen Erfahrungen mit Antisemitismus und Rassismus in ihrem Jugendroman »Meine Schwester Sara« (2004) und in Sachbüchern, wie »Frauen gegen Apartheid« (1986), das sie dem von Apartheidgewalt geprägten Leben schwarzer Frauen im Widerstand widmete.
Rassismus im Alltag
Häufig musste Ruth auf ihrem Schulweg auch beobachten, wie Polizisten schwarze Männer auf dem Weg zur Arbeit schikanierten. Das hinterließ bei der Schülerin einen bleibenden Eindruck und verstärkte ihr Unrechtsbewusstsein. Als junge Frau, die ab 1944 u.a. als Buchhändlerin, Prokuristin und Wirtschaftsjournalistin arbeitete, erkannte Ruth: Das oft aggressive Kontrollieren von Ausweisdokumenten und Arbeitsbescheinigungen war in den Städten sehr verbreitet. Die weiße Minderheitenregierung wollte mit allen Mitteln den Zuzug vieler schwarzer Menschen in die neuen, prosperierenden Industriemetropolen verhindern. Deshalb erhielten nur junge und körperlich sehr belastbare Männer dort eine temporäre Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. In ihren Südafrikabüchern, etwa »Wir sind alle Südafrikaner« (1986), und in zahlreichen fundierten Zeitungsartikeln erläuterte Ruth Weiss historische und politische Hintergründe der ausbeuterischen Strukturen, auf denen das Wirtschaftswachstum in Südafrika basierte. Die Journalistin scheute insbesondere in den 1980er Jahren keine Kritik an deutschen Konzernen in der Bonner Bundesrepublik, die mit dem Apartheidregime und südafrikanischen Firmen gute Geschäfte machten.
Rassismus war eingeprägt in die frühere Siedlerkolonie am Kap der guten Hoffnung, die über mehrere Jahrhunderte von der Sklavenhaltung profitierte: Die Sklav*innen waren von der »Vereinigten Ostindischen Kompanie« vor allem aus der Inselwelt des Indischen Ozeans »importiert« worden. Auch die durch jahrelange brutale Grenzkriege unterworfene, ihres Landes beraubte und nahezu rechtlose schwarze Bevölkerung in der Kapkolonie wurde zur Farmarbeit bei Weißen gezwungen, schlecht behandelt und oft misshandelt, obwohl sie deren Besitz und Wohlstand erwirtschaftete. Unmenschliche Behandlung setzte sich mit der Industrialisierung und Urbanisierung ab Ende des 19. Jahrhunderts fort, fortan musste ein Großteil der Männer in oft unzureichend geschützten Gold- und Kohleminen arbeiten.
Ruth Weiss berichtete über die Misere der Arbeiter*innen in der aufstrebenden Industriemacht Südafrika. Wegen ihrer Kritik, die sie als Journalistin für die »Financial Mail« erhob, stufte das repressive Apartheidregime sie 1966 als persona non grata ein. Nach einem kurzen Zwischenstopp in London kam sie nach (Süd-)Rhodesien, wo sie das Büro der »Financial Mail« leitete. Wegen ihrer Kritik auch an der dortigen rassistischen weißen Siedlerregierung und deren Verstößen gegen UN-Sanktionen und Menschenrechte verwies die (süd-)rhodesische Regierung sie 1968 außer Landes. Das repressive Regime im damaligen Salisbury (ab 1980 Harare) führte bereits gegen anti-koloniale Unabhängigkeitsbewegungen Krieg. Wieder wurde London für Ruth Weiss zum Zwischenstopp, bevor sie 1971 für die »Times of Zambia« in Lusaka tätig wurde.
In Simbabwe nach Kriegsende
1982 kehrte sie in die neue Hauptstadt des kurz zuvor politisch unabhängig gewordenen Simbabwe, dem früheren (Süd-)Rhodesien, zurück. Nun arbeitete sie für die Ausbildung von Wirtschaftsjournalisten und den Aufbau von Medien, die ökonomische Themen in der ganzen Region bearbeiteten. Denn in Südafrika herrschte noch das Apartheidregime, das zerstörerische Grenzkriege in Nachbarländern wie Namibia führte und Mosambik destabilisierte. Ruth Weiss teilte also ihr Wissen über ökonomische, politische und historische Zusammenhänge und ihre jahrzehntelangen journalistischen Erfahrungen. Sie trug zum Aufbau eines professionellen Journalismus und zur kompetenten Berichterstattung im Nachkriegsland Simbabwe bei. Beides war bedeutsam für einen Neubeginn nach jahrzehntelangen militärischen Auseinandersetzungen und angesichts des Ausschlusses von schwarzen Menschen aus Bildung und Medien unter dem Siedlerregime sowie dessen Zensur und Propaganda.
In ihren Sachbüchern über das unabhängige Simbabwe widmete sich Ruth Weiss insbesondere dem Leben schwarzer Frauen – viele waren junge Ex-Kombattantinnen, die traditionelle und koloniale Rollenzuschreibungen durchbrachen und deshalb auf dem Land und in den Städten in der weiterhin patriarchalen Gesellschaft massiv kritisiert wurden. In »Die Frauen von Simbabwe« (2. Auflage 1985) schilderten Ex-Kämpferinnen sehr ehrlich ihre widersprüchlichen Kriegserfahrungen: einerseits die eigene Stärke als trainierte Kombattantinnen und andererseits den Mangel an grundlegender Versorgung, etwa keinen Zugang zu Verhütungsmitteln, sowie die gravierenden Probleme von Schwangeren und jungen Müttern in den militärischen Lagern. Viele wurden nach dem Krieg von den Vätern ihrer Kinder verlassen und als alleinstehende Frauen öffentlich der Prostitution bezichtigt – eine Stigmatisierung, die auch in anderen Nachkriegsgesellschaften anzutreffen ist.
Um so mehr wertschätzte Ruth Weiss das beharrliche Engagement der früheren Unabhängigkeitskämpferinnen für Frauenrechte und Reformen des Familien-, Erb- und Landrechts. Bereits Mitte der 1980er Jahre unterstrich sie in ihrem Buch »Die Frauen von Simbabwe« (1985, S. 8ff.), wie notwendig der Einstellungs- und Verhaltenswandel militarisierter Männer für den Aufbau einer gerechten Nachkriegsgesellschaft sei, zumal die neue Regierung, die aus einer früheren Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangen war, mit Versprechen zur Frauenemanzipation junge Mädchen für den Krieg mobilisiert hatte. An der Regierung unter Robert Mugabe übte Ruth Weiss schon früh Kritik, wenn es um schwere Menschenrechtsverletzungen durch Militär und Polizei sowie Defizite in der Demokratisierung ging, beispielhaft dafür ist das Buch »Zimbabwes Diktator« (2016).
Verhandlungen für ein Ende der Apartheid
Ab Ende der 1980er Jahre organisierte Ruth Weiss zusammen mit Moeletsi Mbeki, dem Bruder des späteren südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki, in einem Vorort von Harare zahlreiche geheime, vertrauensbildende Gespräche zwischen Vertretern der Apartheidregierung und Anti-Apartheidaktivisten. Diese Dialoge boten eine Basis für spätere offizielle Verhandlungen in Südafrika im Vorfeld der ersten demokratischen Wahlen, die Ende 1994, also vor 30 Jahren, stattfanden. Darüber schrieb Ruth in ihrer Publikation »Geteiltes Land. Krieg und Frieden im südlichen Afrika« (1997). Ruth Weiss hatte Nelson Mandela bereits 1960 kennengelernt und war mit vielen Widerstandskämpfern in Kontakt, die ins Exil nach Sambia oder London geflohen waren. Vertreter des Apartheidregimes kannte sie aus eigener Erfahrung in Südafrika. Über die großen Schwierigkeiten in Verhandlungen zu einer friedlichen Konfliktbeilegung berichtete sie in »Peace in their time. War and peace in Ireland and Southern Africa« (2000).
Am 28. April 2023 verlieh der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa Ruth Weiss in Pretoria den nationalen Orden »Companions of O.R. Tambo« für ihre Beiträge zur Überwindung der Apartheid. Bereits 2005 wurde sie als eine der 1.000 Friedensfrauen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Einsatz als Zeitzeugin und Ehrungen
In ihren späteren Lebensjahren setzte sie sich auch in Deutschland für ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion ein; zwischen 2002 und 2015 lebte sie in Nordrhein-Westfalen und berichtete als Zeitzeugin in vielen Schulen, kirchlichen Gemeindezentren und jüdischen Einrichtungen über ihr Leben und die Notwendigkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und jegliche Formen von Feindseligkeit aufzustehen. Am 12. Dezember 2014 – kurz nach dem internationalen Menschenrechtstag – erhielt Ruth Weiss das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Damit wurde sie für ihr jahrzehntelanges Engagement gegen Apartheid und Rassismus geehrt. Auch nach dem Umzug zu ihrem Sohn nach Dänemark 2015 wurde Ruth Weiss wiederholt von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen für Gespräche und Vorträge im gesamten Bundesgebiet eingeladen. Immer wieder betonte Ruth bei solchen Anlässen, ihre Aufgabe als Zeitzeugin sei es, daran zu erinnern, dass die Nazis keine anonyme Gruppe böser Männer waren, sondern gewöhnliche Deutsche. Am 27. Januar 2023, dem Holocaust-Gedenktag, sprach sie im Landtag Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
Als Ehrenpräsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland erhielt sie 2022 den Ovid-Preis für ihre journalistische Arbeit und ihr schriftstellerisches Lebenswerk; dieses umfasste auch zahlreiche historische Romane, u.a. die mehrbändige jüdische Familiensaga »die Löws«, etliche Bände handelten in Deutschland. Der Ovid-Preis wurde Ruth Weiss im Schwurgerichtssaal 600 verliehen, dort hatten die Nürnberger Prozesse gegen führende Kriegsverbrecher des NS-Regimes stattgefunden – eine sinnbildliche Rückkehr an den Ort, aus dem sie vor vielen Jahrzehnten hatte flüchten müssen.
Zusätzliche Informationen zu Ruth Weiss, ihrem Lebenswerk und ihrer Arbeit finden sich unter: ruth-weiss-gesellschaft.de
Anmerkung
1) Zur Verdeutlichung, dass die Zuschreibung schwarz im Apartheidstaat Südafrika ein politisches und rassistisches Konstrukt war, wird das Wort in diesem Text hervorgehoben. Gender-Sternchen werden gesetzt, wenn mehrere Geschlechter gemeint sind. Aufgrund männlicher Dominanzen wird oft nur das Maskulinum verwendet, da es sich dann ausschließlich um Männer handelt.
Literatur
Weiss, R. (1985): Die Frauen von Simbabwe. 2. Auflage, München: Frauenbuchverlag.
Weiss, R. (1986): Frauen gegen Apartheid. 2. Auflage, Reinbek: Rowohlt Verlag.
Weiss, R. (1986): Wir sind alle Südafrikaner. Hamburg: E.B. Verlag Rissen.
Weiss, R. (1997): Geteiltes Land. Krieg und Frieden im südlichen Afrika. Hamburg: E.B. Verlag.
Weiss, R. (2000): Peace in their time. War and peace in Ireland and Southern Africa. London: I.B. Tauris.
Weiss, R. (2004): Meine Schwester Sara, Jugendroman. München: dtv.
Weiss, R. (2016): Zimbabwes Diktator. Lich: Edition AV.
Weiss, R. (2016): Wege im harten Gras. Autobiographie. Lich: Edition AV.
Dr. Rita Schäfer ist freiberufliche Afrikawissenschaftlerin mit Fokus auf Südafrika. Zu ihren Publikationen zählt das Buch: Migration und Neuanfang in Südafrika (2019, Frankfurt a.M.: Brandes und Apsel).