Prominente Vorurteile

Prominente Vorurteile

Wie Berichterstattung (ungewollt) Einstellungen gegenüber Migrant*innen formt

von Stefanie Hechler und Thomas Kessler

Das Ausmaß von Vorurteilen ist nicht nur davon abhängig, wie Menschen »die Anderen« wahrnehmen, sondern auch davon, wie »wir uns« gegenüber »den Anderen« positionieren. Das legt nahe, dass öffentliche Diskurse über pro- und anti-migrantische Einstellungen in einer Gesellschaft individuelle Meinungen beeinflussen. Psychologische Experimente und Umfragen zeigen, wie zum Beispiel Medien, die einseitige Informationen über Feindseligkeit und Solidarisierung mit Migrant*innen geben, Vorurteile ihrer Rezipient*innen verändern können. Die Auswirkungen dieser grundlegenden psychologischen Prozesse regen dazu an, darüber nachzudenken, wie sich die Darstellung kontroverser öffentlicher Debatten auf Konflikte und Frieden auswirken kann.

Anfang des Jahres enthüllten Journalist*innen des Recherchekollektivs »Correctiv« ein Treffen von Neonazis, AfD- und CDU-Politiker*innen und finanzstarken Unternehmer*innen, bei dem Pläne diskutiert wurden, Menschen aus Deutschland aufgrund rassistischer Kriterien auszuweisen (Bensmann und Peters 2024). Das Bekanntwerden der Inhalte des Treffens mobilisierte über eine Million Menschen zu Gegenprotesten. Die große Beteiligung macht deutlich, dass beträchtliche Teile der Gesellschaft diese Diskussionen für inakzeptabel halten und eine klare Haltung gegen Faschismus und Rassismus einnehmen wollen.

Repräsentative Studien verdeutlichen, dass es in Deutschland ein ausgeprägtes Bewusstsein für Rassismus gibt (Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor 2022). Gleichzeitig stellen feindselige Einstellungen gegenüber Migrant*innen mit einer Zustimmung von ca. 30 % ebenfalls kein Randphänomen dar (Zick et al. 2023). Entsprechend schwanken öffentliche Debatten zwischen der Prognose eines gesellschaftlichen Rechtsrucks und einem Klima gesamtgesellschaftlicher Solidarität mit Migrant*innen. Die Warnung von Vertreter*innen aus Medien, Kultur, Politik und Wissenschaft vor der Gefahr durch die ansteigende anti-migrantische Stimmung impliziert, dass rechts(-extreme) Ideen weit verbreitet seien. Sozialpsychologische Forschung zeigt, dass eine solche wahrgenommene Mehrheitsmeinung nicht notwendig abschreckend wirkt, sondern dazu führen kann, dass bestimmte Ideen als normal, sagbar und salonfähig angesehen werden und damit weiterverbreitet werden können (Hogg und Smith 2007). So kann auch mediale Berichterstattung über Einstellungen der Mehrheit gegenüber Migrant*innen individuelle Vorurteile beeinflussen – indem sie einerseits die Mehrheitspositionen bestätigt und verstärkt und andererseits die Abgrenzung für Meinungsminderheiten besonders wichtig macht.

Wie Ulrich Wagner in seinem Artikel über Friedenspsychologie ausführte, spiegeln sich gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse in individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen auf der Mikroebene wider, die wiederum auf die Entwicklung von Konflikten einwirken (Wagner 2023). Dieser Mechanismus beschreibt auch den Zusammenhang zwischen strukturellen Rassismen, gesellschaftlichem Klima und individuellen Haltungen gegenüber Migrant*innen. Die Art und Weise, wie Medien über das gesellschaftliche Klima berichten, beeinflusst unser gemeinsames Verständnis davon, wie »wir« anderen Gruppen gegenüberstehen. Sie gibt Hinweise darauf, welche Meinungen, Äußerungen und Verhaltensweisen in der Gruppe, also »bei uns«, akzeptabel oder nicht akzeptabel sind – wie also die Gesellschaft über eine Gruppe denkt und welche Behandlung dieser Gruppe im Vergleich zu anderen angemessen wäre.

Individuelle Vorurteile orientieren sich am gesellschaftlichen Klima

Gesellschaftliche Diskurse zu Migration und deren Auswirkungen auf Individuen betreffen zwei gut erforschte Kernbereiche der Sozialpsychologie: die Ethnozentrismus- und Vorurteilsforschung, wie und warum also Menschen soziale Gruppen und ihre Mitglieder bewerten, und die Forschung zu sozialem Einfluss, die behandelt, wie Menschen die Einstellungen und das Verhalten anderer beeinflussen. Ihre Forschungsergebnisse begründen, warum eine sozialpsychologische Analyse der Medienberichterstattung und anderer prominenter Stimmen zu migrant*innenbezogenen Einstellungen für die Friedensförderung wichtig ist.

Vorurteile behindern ein positives Miteinander und schüren Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Feindselige Sichtweisen über »andere« können zum Ausschluss dieser Gruppen aus einer Gesellschaft führen und Ungleichbehandlung zwischen gesellschaftlichen Gruppen wie Migrant*innen und Einheimischen legitimieren. Wissenschaftlich ist gut etabliert, dass Menschen grundlegend dazu tendieren, Personen in »uns« und »die Anderen« einzuteilen. Sie heben Unterschiede zwischen den Gruppen hervor, bevorzugen die eigene Gruppe gegenüber anderen und schützen ihre Gruppe vor vermeintlichen Gefahren (für einen Überblick, siehe Hechler und Kessler 2020). Die Abwertung von »anderen«, sog. Fremdgruppen (Gruppen, denen Menschen nicht selbst angehören), ist umso stärker, je mehr man sich durch die anderen bedroht sieht, wie etwa durch Interessen- oder Wertekonflikte.

Soziale Normen haben einen starken Einfluss auf Einstellungen und Verhalten und somit auch auf Vorurteile und Diskriminierung. Sie sind wahrgenommene Standards darüber, wie man sich verhalten sollte (präskriptive Normen) oder wie sich die meisten Menschen tatsächlich verhalten (deskriptive Normen) (Cialdini und Goldstein 2004). Wer von den Normen abweicht, fällt auf, wird ermahnt oder bestraft und im schlimmsten Fall ausgegrenzt. Solomon Asch (1956) verdeutlichte in seinem bekannten Linienexperiment, wie stark soziale Normen auf individuelles Verhalten wirken können. In der Studie hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, vor einer kleinen Gruppe anderer zu bestimmen, welche von drei Linien einer Referenzlinie entspricht. Obwohl die anderen Anwesenden offensichtlich falsche Antworten gaben, stimmten ihnen 76 % der Studienteilnehmenden mindestens einmal zu. Solche Konformität kann Frieden fördern, indem sie zum Beispiel umweltschützendes Verhalten oder Solidarisierung mit benachteiligten Gruppen begünstigt. Sie kann jedoch auch Frieden entgegenwirken, wenn sie zum Beispiel Konkurrenz, Abwertung oder Ausschluss von Gruppen fördert.

Soziale Normen signalisieren auch, welche Vorurteile als akzeptabel und welche als inakzeptabel gelten (Crandall und Eshleman 2003). Akzeptierte Vorurteile werden häufiger ausgesprochen, weiterverbreitet und internalisiert. Dadurch ändert sich das normative Klima, so dass bestimmte Vorurteile »altmodisch« und gesellschaftlich inakzeptabel werden, während andere neue Prominenz erhalten. Medienberichte, öffentliche Diskurse und alltägliche Beobachtungen von Interaktionen und Aussagen im eigenen Umfeld tragen dazu bei, dass Menschen ihre Vorurteile zeigen oder unterdrücken.

Unsere und eure Vorurteile: Auswirkungen medial vermittelter Normen

Dabei folgen Personen nicht immer blind allen Normen, sondern vor allem denjenigen, die sie für ihre Gruppe als gültig erachten und die ihren Zielen entsprechen. Forscher*innen in der Schweiz konfrontierten Studienteilnehmende mit fiktiven Umfrageergebnissen, in denen die Mehrheit der Schweizer*innen Benachteiligungen von Ausländer*innen befürwortete oder ablehnte (vgl. Falomir-Pichastor et al. 2004). Wenn die Teilnehmenden dachten, dass Ausländer*innen eine Gefahr darstellten, passten sie sich der Pro-Diskriminierungsnorm an und befürworteten Diskriminierung stärker. Teilnehmende, die Ausländer*innen nicht als Gefahr wahrnahmen, diskriminierten selbst weniger, wenn ihnen gesagt wurde, die Mehrheit sei gegen Diskriminierung.

In eigenen Studien haben wir untersucht, wie diese Prozesse in den polarisierten Debatten über Migration in Deutschland in Erscheinung treten (vgl. Hechler und Kessler 2024).1 Auf Basis vorheriger Erkenntnisse nahmen wir an, dass Berichte über verbreitete Meinungen und Verhaltensweisen gegenüber Migrant*innen individuelle Einstellungen verstärken können, wenn Personen diese als richtig und wichtig erachten. Mediale Berichterstattung kann aber auch die Wahrnehmung der sozialen Norm verschieben, indem sie feindselige Haltungen oder verbreitete Solidarisierung mit Migrant*innen in der Bevölkerung besonders hervorhebt. In drei Studien mit insgesamt ca. 1.050 Teilnehmenden untersuchten wir, inwiefern das wahrgenommene gesellschaftliche Klima mit individuellen Einstellungen gegenüber Migrant*innen in Deutschland zusammenhängt (Studie 1) und wie einseitige Berichterstattung in einzelnen Artikeln die unmittelbare Äußerung von Vorurteilen der Rezipient*innen beeinflusst (Studien 2 und 3).

Im Sommer 2018 protestierten Rechtsextremist*innen in Chemnitz mehrfach gegen vermeintliche Gewalt durch Migrant*innen, wobei es auch zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Migrant*innen kam. In den Medien häuften sich in dieser Zeit Berichte über die Gefahr von steigendem Rechtsextremismus für das Zusammenleben in Deutschland. Während die rechtsextremistischen Proteste anhielten, befragten wir knapp 500 Personen aus der Breite des politischen Spektrums zum gesellschaftlichen Klima und zu ihren eigenen Vorurteilen. Angesichts der politisch aufgeheizten Stimmung fühlten sich die meisten Befragten mit ihrer politischen Meinung eher in der Minderheit – und grenzten ihre eigene Meinung von dieser wahrgenommenen Norm ab. Konkret äußerten diejenigen, die sich selbst als politisch rechts einstuften, umso mehr Vorurteile gegenüber Migrant*innen, je mehr sie den Eindruck hatten, die Mehrheit der Bevölkerung sei Migrant*innen gegenüber solidarisch. Politisch links gerichtete Befragte hatten dahingegen eher den Eindruck, dass die Mehrheit kritisch gegenüber Migrant*innen sei, was bei ihnen mit weniger Vorurteilen einherging. Diese Befunde stimmen mit früheren Studien überein: auch wenn die Mehrheit solidarisch mit einer Fremdgruppe ist, gehen Mitglieder nicht konform, wenn sie diese Norm als falsch empfinden. Sie grenzten sich sogar deutlicher von dieser Mehrheit ab, indem sie mehr Diskriminierungstendenzen zeigten (Falomir-Pistachor et al. 2004). Die Ergebnisse unserer Studie beruhen jedoch auf gemessenen Zusammenhängen, und lassen daher keine Rückschlüsse über Ursache und Wirkung zu.

Im Gegensatz zu diesen Abgrenzungsmechanismen zeigen zahlreiche sozialpsychologische Befunde, dass gerade in uneindeutigen Situationen soziale Normen einen Anhaltspunkt geben, um die eigene Meinung zu validieren, und die soziale Akzeptanz die Bereitschaft verstärkt, die eigene Position zu äußern (Cialdini und Goldstein 2004). In weiteren Studien haben wir deshalb untersucht, wie eine gesellschaftliche Norm in Medienberichten Vorurteile der Leser*innen unmittelbar beeinflusst. Dazu teilten wir Teilnehmende zufällig einer von vier Bedingungen zu. In jeder dieser Bedingungen lasen die Teilnehmenden einen von vier verschiedenen Zeitungsartikeln aus einer großen deutschen Tageszeitung und gaben danach ihre Einstellung gegenüber Geflüchteten und Asylbewerber*innen an. Durch ein solches experimentelles Design konnten wir beobachten, inwieweit die Befragten nach dem Lesen der Artikel Vorurteile äußerten und somit die Auswirkungen der in den Berichten implizierten Vorurteilsnormen auf die Meinung der Lesenden feststellen.

Ein Artikel beschrieb die ansteigende Verbreitung von Gewalt gegenüber Geflüchteten in Deutschland, ein anderer beschrieb das große Engagement gegenüber Geflüchteten und ein dritter schrieb von Gewalt und gleichzeitig einer großen Solidarität mit Geflüchteten. Der vierte Artikel beschrieb die Auswirkungen von Kaffee auf die Gesundheit und diente der Feststellung, wie die Teilnehmenden antworten, wenn sie nicht unmittelbar mit dem Verhalten anderer konfrontiert werden. Für die anschließende Einstellungsmessung gaben sie ihre Zustimmung zu oder Ablehnung von mehreren Aussagen wie „Der überwiegende Teil von Asylbewerbern möchte sich nicht in Deutschland integrieren“ an. Die Antworten zeigten, dass Berichte mit Informationen über solidarisches Verhalten gegenüber Geflüchteten die Äußerungen von Vorurteilen verringerten. Dahingegen erhöhten Berichte mit Informationen über feindseliges Verhalten Fremdenfeindlichkeit bei denjenigen Teilnehmenden, die sich politisch eher rechts einordneten, aber nicht bei denjenigen, die sich politisch eher links einordneten.

Die Verwendung realer Zeitungsartikel bietet wenig Kontrolle darüber, inwieweit sich die vier ausgewählten Artikel auch in anderen Aspekten unterscheiden, die diese Effekte verursachen könnten, wie Schreibstil, Informationen über Geflüchtete oder die Haltung der Journalist*innen. In einer dritten Studie modifizierten wir deshalb gezielt einen einzelnen Artikel aus einer der meistgelesenen Zeitschriften Deutschlands. Der Artikel berichtete über die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage in Deutschland. Er beschrieb einerseits, dass „noch immer weite Teile der Bevölkerung bereit [seien], abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen“ und andererseits, dass „Ausländerfeindlichkeit seit 2002 nahezu kontinuierlich abgenommen [habe]“. Wir veränderten diesen Artikel so, dass er in einer Version ausschließlich Informationen über das zunehmend fremdenfeindliche Potential der Mehrheitsbevölkerung und in einer anderen Version ausschließlich Informationen über ihre große Solidarität enthielt. In einer Kontrollbedingung lasen die Teilnehmenden keinen Artikel, sondern gaben lediglich ihre Einstellungen an. Die Ergebnisse zeigen ein ähnliches Muster wie die der vorherigen Studie: Befragte, die über feindselige Meinungen gegenüber Migrant*innen in der Bevölkerung lasen, drückten auch mehr Fremdenfeindlichkeit aus als diejenigen, die diese Information nicht lasen.

Insgesamt zeigt diese Forschung, bei allen methodisch bedingten leichten Variationen, dass Medienberichte über migrationsspezifische Einstellungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung die Vorurteile der Rezipient*innen beeinflussen. Während die persönliche Wahrnehmung, in einer politischen Minderheit zu sein, die eigene Position verhärten kann, zeigen sie auch, wie schon ein einziger Artikel über freundliche Haltungen gegenüber Migrant*innen in der Bevölkerung Vorurteile der Rezipient*innen verringern, während ein Artikel über feindselige Haltungen diese verstärken kann.

Die vorliegende Forschung beschäftigt sich mit der Sicht der Mehrheitsgesellschaft, ohne die Sicht von potentiell von diesen Vorurteilen betroffenen Menschen einzubeziehen. Angelehnt an die beschriebenen Prozesse kann vermutet werden, dass auch unterschiedliche Minoritäten, wie zum Beispiel Migrant*innen, in Deutschland heterogene Meinungen vertreten und von der Mehrheitsbevölkerung beeinflusst werden, vor allem wenn sie sich mit ihr identifizieren. Genauso kann ihr Verhalten Einfluss auf wahrgenommene Normen haben, zum Beispiel durch ihr Engagement in pro-migrantischen Aktionen und Demonstrationen in Deutschland.

Die hier bestätigte Beziehung zwischen sozialen Normen, Einstellungen und dem Verhalten Einzelner wurden bereits von anderen Forschenden adressiert und hat sich unter anderem für gruppenbezogene Einstellungen und Verhalten als relevant erwiesen. Die in diesem Text vorgestellten Studien basieren auf theoretischen Ableitungen und kumulativen Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie und heben sich deshalb in der Güte und Belastbarkeit deutlich von »einzelnen Zufallsbefunden« ab (vgl. auch Wagner 2023).

Berichterstattung zur Friedensförderung

Wenn Journalist*innen von gesellschaftlichen Strömungen berichten, beeinflussen sie auch die Meinung der Rezipient*innen. Schon einzelne Hinweise auf die „steigende Gefahr durch anti-migrantische Einstellungen“ können die wahrgenommenen Normen verändern und dadurch Menschen in ihren eigenen Vorurteilen bestärken. Berichte über weit verbreitete Solidarität gegenüber Migrant*innen können hingegen Vorurteile verringern. Diese Mechanismen gelten nicht nur für Medienmacher*innen, sondern auch für Aussagen von Personen in der Öffentlichkeit, von Bildungsverantwortlichen oder einfach nur »glaubwürdigen Quellen«. So können Beobachtungen und Berichte über gesellschaftliche Stimmungen unmittelbar den Eindruck vermitteln, dass es einen Konsens gibt. Dass diese Beobachtungen und Berichte auch produzieren, was sie »beschreiben«, wird häufig nicht beachtet.

Für die Berichterstattung über Vorurteile und Konflikte lassen sich aus den Forschungsergebnissen zwei Fazits ziehen:

1. Berichterstattung über vermeintlich verbreitete anti-migrantische Einstellungen kann Vorurteile verstärken und damit das gesellschaftliche Miteinander von Migrant*innen und Einheimischen erschweren.

2. Einseitige Berichterstattung kann die Gesellschaft polarisieren und dazu beitragen, dass sich Konflikte zwischen pro- und anti-migrantischen Gruppierungen in der Gesellschaft verhärten.

Die Ergebnisse zeigen, dass – auch in vermeintlich polarisierten Zeiten – eine klare mehrheitliche Haltung gegen migrant*innenfeindliche Parolen Vorurteilen entgegenwirken kann. Medien können verdeutlichen, dass viele Menschen in Deutschland für und mit Migrant*innen stehen (z.B. durch Berichte über Proteste und öffentlichkeitswirksame Positionierungen), und damit mehr Menschen dazu bringen, dieser Position zu folgen. Auf der anderen Seite können sie aufzeigen, dass laute migrant*innenfeindliche Stimmen nicht den gesellschaftlichen Konsens vertreten, und sie damit als weniger attraktive Minderheitsmeinungen (oder zumindest umstrittene Meinungen) darstellen (vgl. Hechler und Jäger 2020). Letztendlich sind selten alle Gesellschaftsmitglieder der gleichen Meinung. Es wird auch immer Menschen geben, die sich von diesen Mehrheitsnormen abgestoßen fühlen und deshalb weiterhin migrant*innenfeindliche Positionen vertreten. Die medial diskriminierungssensible Aufarbeitung der Migrationsdebatte, wie hier vorgeschlagen, kann aber dazu beitragen, einzelne Meinungen zugunsten einer migrant*innenfreundlichen Norm zu verschieben.

Die Tendenz, die eigene Meinung an die Norm anzupassen, ist jedoch nur eine Seite von sozialem Einfluss. Die Mehrheitsmeinung wirkt vor allem dann verstärkend, wenn Personen zuvor schon zu dieser Meinung tendieren oder unentschlossen sind. Vermeintliche Mehrheitsmeinungen polarisieren jedoch auch, so dass sich bestehende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gesellschaft verhärten. Vermeintliche soziale Normen, die unter anderem durch einseitige Berichterstattung impliziert werden, befördern also gleichzeitig Zustimmung und Abgrenzung.

Auch wenn Verallgemeinerungen einzelner Studien nur mit Vorsicht vorgenommen werden sollten, lassen sich die zugrundeliegenden Ideen und Zusammenhänge auf andere innergesellschaftliche Konflikte und internationale Krisen übertragen. Sie bieten eine Reflexionsgrundlage dafür, wie die Darstellung öffentlicher Meinungen über Konfliktparteien dazu beiträgt, Friedensprozesse zu blockieren, in dem sie Feindseligkeit gegenüber und Solidarisierung mit Konfliktparteien provoziert.

Anmerkung

1) Vielen Dank an unsere Kollegin Jutta Proch und unsere ehemaligen Masterstudentinnen, Christina Piel und Stefanie Gottschalk, die maßgeblich an diesem Projekt mitgewirkt haben.

Literatur

Asch, S. E. (1956): Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs: General and Applied 70(9), S. 1-70.

Bensmann, M.; Peters, J. (2024): Der AfD Komplex (1. Auflage). CORRECTIV Verlag.

Cialdini, R. B.; Goldstein, N. J. (2004): Social influence: compliance and conformity. Annual Review of Psychology 55, S. 591-621.

Crandall, Ch. S.; Eshleman, A. (2003): A justification-suppression model of the expression and experience of prejudice. Psychological bulletin 129(3), S. 414-446.

Falomir-Pichastor, J. M. et al. (2004): Perceived in-group threat as a factor moderating the influence of in-group norms on discrimination against foreigners. European Journal of Social Psychology 34(2), S. 135-153.

Hechler, S.; Jäger, F. (2020): Vorurteile erkennen und reduzieren. Blogbeitrag, Hrsg. v. Fachnetz Sozialpsychologie zu Flucht und Integration, 7.8.2020. Online unter fachnetzflucht.de/vorurteile-erkennen-und-reduzieren.

Hechler, S.; Kessler, Th. (2020): Warum „Wir” besser sind als „Die“ – Wie bestimmt die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen die Bewertung der eigenen und der fremden Gruppen? The Inquisitive Mind (3/2020). Online unter de.in-mind.org/article/warum-wir-besser-sind-als-die-wie-bestimmt-die-zugehoerigkeit-zu-sozialen-gruppen-die.

Hechler, S.; Kessler, Th. (2024): Majority opinions and prejudices: Normative influence through media reports. Working paper, 15.4.2024. Online unter: https://osf.io/bpcx7/.

Hogg, M. A.; Smith, J. R. (2007): Attitudes in social context: A social identity perspective, European Review of Social Psychology 18(1), S. 89-131.

Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Berlin: DeZIM: Deutsches Zentrum für Integration und Migrationsforschung, 4.5.2022. Online unter rassismusmonitor.de/publikationen/rassismus-und-seine-symptome.

Wagner, U. (2023): Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen? W&F 4/2023, S. 32-34.

Zick, A. et al. (2023): Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.

Stefanie Hechler arbeitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Vorurteile und Diskriminierung, Gerechtigkeit, sowie Entstehung und Lösung sozialer Konflikte.
Thomas Kessler ist Professor für Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht zu Konflikten und Kooperationen innerhalb und zwischen sozialen Gruppen, insbesondere zu Vorurteilen und Autoritarismus.

Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten

Friedenspsychologie in unfriedlichen Zeiten

Eine Artikelserie

von Stefanie Hechler, Frank Eckerle, Ruth Ditlmann, Klaus Harnack und Klaus Boehnke

In der im November 2023 veröffentlichten Ausgabe 4/2023 von W&F zum 40. Jahrestag des Ersterscheinens findet sich ein programmatischer Artikel von Ulrich Wagner mit dem Titel »Wir brauchen Friedenspsychologie! Aber wie soll die aussehen?« (S. 32ff.) Auf der W&F-Geburtstagsfeier selbst, am 6.-7. Oktober 2023, gab es ein gut besuchtes Rundgespräch zum Thema »Quo Vadis Friedenspsychologie?« unter Beteiligung der für diesen Text Verantwortlichen.

Die Reihe kurz vorgestellt

Beginnend mit diesem Heft stellen nun eine Reihe von Friedenspsychologinnen und -psychologen ihr Verständnis davon vor, welche Formen aktuelle empirische Forschung in der Friedenspsychologie annehmen kann. Sie stellen sich damit der von Ulrich Wagner aufgeworfenen Frage, wie Friedenspsychologie im Sinne psychologischer Friedensforschung denn aussehen kann und sollte. Die Serie soll aber auch als Inspiration für Angehörige anderer Disziplinen dienen, die sich mit ähnlichen Fragen z.B. von normativer Positionierung der Forschenden oder Fragen von Diversität beschäftigen.

In diesem Heft legen Stefanie Hechler und Thomas Kessler ihre Überlegungen dazu vor. Ihr Beitrag ist ein Forschungsbericht über die Auswirkungen von Medienberichten auf Vorurteile gegenüber migrantischen Gruppen. In den betrachteten Studien wurde das Ausmaß von Gewalt oder Freundlichkeit gegenüber Minderheiten in realen und fiktiven Medienberichten variiert. In Anlehnung an »klassische« Befunde der Sozialpsychologie hängt das Ausmaß der Feindseligkeit, wie es sich z.B. in Fragebögen zeigt, nicht nur von der Wahrnehmung »der Anderen« ab, sondern es spielen auch intragruppale Prozesse eine entscheidende Rolle, d.h. wie „wir uns gegenüber den anderen positionieren“. Der Beitrag zeigt, wie experimental-psychologische Forschung im Labor zusammen mit Umfrageforschung Verschiebungen in sozialen Normen beleuchten kann. Er liefert ein Beispiel dafür, wie geteilte Informationen das Zusammenleben von sozialen Gruppen beeinflussen können. Das friedenspsychologische Forschungsthema ergibt sich aus Sicht der Autorin aus der Kontextualisierung grundlegender psychologischer Prozesse in konfliktgeladenen öffentlichen Debatten.

Im nächsten W&F-Heft (3/24) wird dann Frank Eckerle aus einem Projekt berichten, das demonstriert, dass Friedenspsychologie nicht die Befriedung, sondern die Befreiung der Gesellschaft zum Ziel haben sollte. Anhand vorhandener und eigener aktueller Forschung skizziert er, wie präfigurative Proteste und direkte Aktionen im Kontext der Klimabewegung dazu beitragen können, ideologische Legitimationen des neoliberalen Status quo aufzubrechen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Frage, ob das Erleben solcher präfigurativer Experimente als Teilnehmer*in oder Beobachter*in Teil eines Bewusstseinsbildungsprozesses ist, und somit zur Politisierung gegen Ungerechtigkeit und Individualisierung führen kann.

Im letzten Heft des Jahrgangs 2024 schließt sich ein Beitrag von Ruth K. Ditlmann unter dem Titel »Die psychologische Wirkung von Erinnerungsprojekten zum Holocaust« an. In diesem Beitrag stellt sie kurz drei Studien vor, die mit quantitativen Methoden die psychologische Wirkung von bekannten Erinnerungsformaten untersuchen. In einer Langzeitstudie zum Thema zeigt sich zum Beispiel, dass in Berliner Wahlbezirken der Anteil an Stimmen für die AfD sinkt, nachdem dort Stolpersteine platziert wurden. Danach setzt sie sich anhand der vorgestellten Studien mit der Frage der Normativität auseinander, die beim Thema Erinnerungsarbeit eigentlich unumgänglich ist. Sie fragt sich, welche normativen Ziele in den sozialpsychologischen Theorien, mit denen sie arbeitet, versteckt sind, wie die quantitative Messung in angewandter Forschung diese Ziele sichtbar macht, und inwiefern man sich als empirisch Forschende zu den Zielen bekennen muss, die man misst.

Im ersten Heft des Jahrgangs 2025 wird es dann um einen Themenkomplex gehen, der sowohl in der Friedensbewegung als auch in der Friedenspsychologie gerne negiert wird – die ökonomische Psychologie. Der Beitrag von Klaus Harnack wird sich unter dem Arbeitstitel »Psychologisch-hyperpersonalisierte Bankgeschäfte – Ein Möglichkeit für die finanziellen Inklusion im Globalen Süden mit finanzpsychologischen Ansätzen beschäftigen, die finanzielle Inklusion vorantreiben sollen, besonders im Globalen Süden, in dem mehr als ein Viertel aller Menschen keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen hat. Finanzielle Inklusion gilt als eine zentrale Stellschraube im Kampf gegen Armut und hier sind psychologisch gestaltete Ansätze besonders vielversprechend, die ein bedürfnisorientiertes Bankwesen ermöglichen. Forschungsergebnisse aus der Behavioral Finance, dem zielorientierten Bankwesen, als auch Ansätze aus dem Nachhaltigkeitsbanking werden hierfür dargestellt und eingeordnet werden.

Im zweiten W&F-Heft des Jahrgangs 2025 berichtet Klaus Boehnke dann abschließend von seiner seit 1985 laufenden Längsschnittstudie »Life under nuclear threat« (LuNT). Die LuNT-Studie wurde im Jahre 1985 mit der Befragung einer großen Stichprobe von damals 14-jährigen in Kooperation mit der Friedensnobelpreisträger-Organisation IPPNW begonnen. Sie hat inzwischen insgesamt 12 Befragungswellen (im Abstand von jeweils 3 ½ Jahren) erlebt. Nach wie vor nehmen etwa 200 Personen, mittlerweile im Durchschnitt 53 Jahre alt, an der Befragungsstudie teil. Eine so lange laufende Studie legt es in besonderem Maße nahe zu reflektieren, ob und wie die persönlichen Werte des Verfassers bzw. der Zeitgeist das Studiendesign beeinflusst haben. Inhaltlich wird der Beitrag von Klaus Boehnke vor allem aufzeigen, welche Ängste und Hoffnungen die Befragten seit 1985 in besonderem Maße bewegt haben.

Das Forum Friedenspsychologie ist bemüht, die skizzierte Reihe auch nach ihrem aktuell avisierten Ende weiter fortzusetzen und ruft bereits jetzt ihre Mitglieder auf, sich bei den Verfasser*innen dieses Textes zu melden, um zusammen die Fortsetzung der Reihe in Angriff zu nehmen.

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Wir brauchen Friedenspsychologie!

Aber wie soll die aussehen?

von Ulrich Wagner1

Die Friedenspsychologie hilft zu verstehen, wie psychologische Prozesse Konflikte beeinflussen können. Deshalb braucht die Friedens- und Konfliktforschung die Friedenspsychologie. Die Friedenspsychologie könnte allerdings noch besser werden. Dazu gehören die Replizierbarkeit ihrer Befunde, die Kontext- und Kultursensitivität ihrer Theorien, die angemessene Beteiligung von unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess, der Einbezug qualitativer Forschung, die intensive Diskussion ihrer normativen Grundlagen und die Kooperation mit Praktiker*innen der Konfliktbearbeitung – Selbstreflexionen, die vielleicht auch für andere Disziplinen anregend sind.

Die Friedenspsychologie befasst sich mit psychischen Phänomenen und Prozessen, die im Zusammenhang mit Friedensbildung von Bedeutung sind. Die Friedenspsychologie ist, wie der Name sagt, ein Teilgebiet der Psychologie, d.h. ihr Gegenstand ist das Erleben und Verhalten von Individuen im Themenbereich Frieden und Konflikttransformation. Gleichzeitig wird die Friedenspsychologie der Friedens- und Konfliktforschung zugeordnet, die einen wesentlich weiteren Gegenstandsbereich hat, wie beispielsweise die Analyse der Auswirkungen von volkswirtschaftlichen Entwicklungen auf Konflikt und Frieden.

Schematisch kann man sich die Einordnung der Friedenspsychologie in die Friedens- und Konfliktforschung als Mehrebenenmodell vorstellen (vgl. Abbildung 1): Die Friedenspsychologie analysiert,

(a) wie innerstaatliche und zwischenstaatliche Konflikte durch die Individuen wahrgenommen werden – wie wirkt Kriegspropaganda auf die Menschen? Behandelt werden solche Fragen beispielsweise in der psychologischen Stereotypen- und Vorurteilsforschung,

(b) welchen Einfluss die individuelle Wahrnehmung auf individuelles Verhalten hat, z.B. auf Wahlverhalten oder auf Diskriminierung und Gewalt gegen wahrgenommene Konfliktgegner*innen, und

(c) wie dieses Verhalten der Individuen wiederum zurückwirkt auf die Konflikt­eskalation oder -deeskalation auf der Makro-Ebene – wenn sich z.B. politische Entscheidungsträger*innen von Wähler*innen und deren Verhalten zu Entscheidungen gedrängt sehen.

Strenggläubige Verfechter*innen eines solchen Badewannenmodells würden sagen, dass alle Entwicklungen auf der Makro-Ebene durch psychologische Mikro-Prozesse mediiert werden. Einen solchen weiten Anspruch würde ich für die Friedenspsychologie nicht reklamieren: Es gibt auch direkte Einflüsse auf der Makro-Ebene (siehe d in Abbildung 1), für deren Verständnis individuelle psychologische Verarbeitungsprozesse von geringer Bedeutung sind, z.B. wenn Machtkonstellationen eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen im UN-Sicherheitsrat unmöglich machen. Gleichzeitig beharre ich allerdings da­rauf, dass die Analyse von Friedens- und Konfliktentwicklungen ohne die Berücksichtigung psychologischer Prozesse unvollständig bleibt: Es sind nicht allein die Gegensätze zwischen den globalen Machtblöcken, die den Krieg in der Ukraine erklären.

Wir brauchen eine Friedenspsychologie. Die Frage ist jedoch: Kann die Friedenspsychologie ihre Aufgabe im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung tatsächlich erfüllen? Ich glaube ja. Allerdings sehe ich noch eine Reihe offener Fragen, deren kritische Diskussion den Wert der Friedenspsychologie für die Friedens- und Konfliktforschung noch weiter steigern könnte. Ich beziehe mich dabei auf einen kritisch-rationalistischen Ansatz, der den Mainstream psychologischer und auch friedenspsychologischer Forschung darstellt. Möglicherweise können aber auch Vertreter*innen anderer wissenschaftstheoretischer Selbstverortungen von einer selbstkritischen Übertragung der folgenden Überlegungen profitieren.

Wissensbestände in der Replikationskrise

Erstens, verfügt die Friedenspsychologie eigentlich überhaupt über ein hinreichend abgesichertes Wissen, mit dem sie zum Verständnis von Frieden und zu Interventionen zur Herstellung oder Verbesserung von Frieden beitragen kann? Die Psychologie, und so auch die Friedenspsychologie, ist eine empirisch orientierte Disziplin, d.h. sie stellt Hypothesen und Theorien auf und prüft diese in empirischen Untersuchungen. Theorien oder Modelle, die so ein gewisses Maß an empirischer Unterstützung erfahren haben, können dann eingesetzt werden für praktische Interventionen, z.B. zur Förderung von Frieden. Insbesondere die Sozialpsychologie, ein wichtiger Teil der Friedenspsychologie, hat in den letzten Jahren eine Krise durchlebt, weil manche ihrer grundlegenden empirischen Studien nicht repliziert werden konnten und damit auch die auf diesen Studien aufbauenden Theorien infrage gestellt wurden. Die Diskussion war und ist sehr aufgeheizt und nicht immer an der Sachfrage orientiert. Ich glaube allerdings nicht, dass die Friedenspsychologie sich aufgrund der Replikationskrise soweit zurücknehmen sollte, dass sie keinen ernsthaften Beitrag mehr zur Förderung von Frieden leisten kann: Die großen und relevanten Modelle der Disziplin – z.B. Theorien zum sozialen Lernen, zur sozialen Motiven, zur Bildung und Veränderung sozialer Einstellungen und zur Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten – haben Bestand, auch wenn manche ihre Detailmechanismen nicht in allen labor­experimentellen Umsetzungen repliziert werden können.

Kontext- und kultursensible Theorienbildung

Wohl aber verweist die Replikationskrise auf ein zweites Problem friedenspsychologischer Theorien- oder Modellbildung: den fehlenden Einbezug von Kontextbedingungen, unter denen psychologische Mechanismen so oder so wirken. Psychologische Hypothesen und Theorien werden oft in Laboruntersuchungen getestet, in denen eine als relevant angesehene Ursache (z.B. Frustration) manipuliert wird, um zu sehen, wie sich das auf die interessierenden Effekte (z.B. Aggression) auswirkt. Dabei wird oft wenig reflektiert, in welchen Kontexten und mit welchen Menschen solche Untersuchungen stattfinden und ob hypothesenstützende Ergebnisse auch unter anderen Umständen zu erwarten sind. Die mangelnde Berücksichtigung solcher Einflüsse auf psychologische Prozesse – wie die kulturspezifisch unterschiedliche Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten für die Identitätsfindung – wird aktuell deutlich, wenn europäische klinische Psycholog*innen Geflüchtete aus außereuropäischen Regionen behandeln: Über die Übertragbarkeit und Anwendbarkeit der nordamerikanisch-europäisch gewonnenen psychologischen Kenntnisse auf die Psyche ihrer Patient*innen wissen sie wenig. Trotzdem können sie oft helfen, was durchaus auf die Brauchbarkeit dieser Psychologie hinweist. Dennoch, was fehlt und dringend angegangen werden muss, ist die Analyse der Beeinflussung psychologischer Prozesse durch Kontexteinflüsse, insbesondere kulturelle Einflüsse, was gleichbedeutend ist mit der Forderung, die Friedenspsychologie eng mit anderen Disziplinen zu verknüpfen und kontextsensible psychologische Mehrebenenmodelle weiterzuentwickeln.

Wessen Forschung?

Die kulturelle Beeinflussung psychischer Prozesse verweist auf eine dritte offene Frage, der die Friedenspsychologie sich stellen muss: Die Forderung nach einer angemessenen Beteiligung von Minderheiten und traditionell unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess. Wenn man sich die Herkunft führender psychologischer Forscher*innen anschaut, die z.B. in den einschlägigen und einflussreichen wissenschaftlichen Journalen publizieren, stammen die zum ganz überwiegenden Teil aus Europa und Nord-Amerika und sind weiß. Die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung von Personen aus Minderheiten und unterrepräsentierten Gruppen am Forschungsprozess ist also aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus sehr berechtigt. Aber auch mit Bezug auf die Qualität wissenschaftlicher Befunde ist eine stärkere Heterogenisierung der psychologischen Wissenschaftler*innengemeinde in vielen Fällen dringend erforderlich. Das gilt vor allem dann, wenn es um die Beschreibung friedenspsychologischer Phänomene geht, wie das Erleben von Diskriminierung und rassistischer Gewalt. Forscher*innen aus der Mehrheit haben dazu nur schwer validen Zugang.

Manchmal wird die Forderung der Beteiligung am Forschungsprozess allerdings auch problematisch zugespitzt: Kann ein weißes Forschungsteam, das keine persönliche Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung hat und das selbst strukturell in eine Geschichte historischer Unterdrückungen und Privilegien eingebunden ist, Rassismus überhaupt angemessen behandeln, indem es die richtigen Fragen stellt und die richtigen Antworten findet? Sind stattdessen nicht die Erkenntnisse eines Teams von Betroffenen a-priori höher einzuschätzen? Wissenschaft braucht die Beteiligung von Personen, die mit dem untersuchten Problem vertraut sind, auch der Menschen, die betroffen sind, wie von Mitgliedern von Minderheiten, die unter Diskriminierung leiden. Aber, Betroffenheit kann Wissenschaft nicht ersetzen. Die Erkenntnisse von Betroffenen über die Ursachen das Übels, das ihnen zustößt, sind nicht zwingend die richtigen. Eine valide, d.h. auch prognose- und anwendungsfähige Friedenspsychologie setzt die Einhaltung von Qualitätsstandards voraus. Die müssen gemeinsam diskutiert werden und konsensual Anerkennung finden. Wenn aber wissenschaftliche Qualitätsstandards durch gruppenspezifische Standards ersetzt würden, besteht die große Gefahr, dass das die Qualität friedenspsychologischer Befunde und darauf aufbauender friedenspsychologischer Interventionen mindert. Wenn jede Gruppe glaubt, zu jeweils spezifischen Erkenntnissen gekommen zu sein, wird ein gemeinsames evidenzbasiertes Handeln gegen Missstände und Unrecht unmöglich. Wenn es nicht gelingt, einheitliche wissenschaftliche Qualitätsstandards zu sichern, wird die Entscheidung darüber, welcher Wissenschaft Anwender*innen am Ende folgen, eine Machtfrage.

Die Forderung nach einheitlichen wissenschaftlichen Standards bedeutet nicht, das Problem der unzureichenden Beteiligung von Minderheiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen an friedenspsychologischer Forschung und Anwendung auszublenden. Auch bedeutet es nicht, dass nicht verschiedene Forschungsgruppen zu unterschiedlichen wissenschaftlichen Ergebnissen kommen können. Die lassen sich in der Regel gegeneinander vergleichen und kritisch gegeneinander abtesten. Wichtig ist jedoch, dass alle Beteiligten für gemeinsame wissenschaftliche Qualitätsstandards eintreten, wobei diese Standards natürlich auch für kritische Diskussionen und Änderungen offen sein müssen. Und schließlich ist das Problem der Auswahl von friedenspsychologischen Forschungsfragen zu diskutieren, die sich sonst bevorzugt nach den Interessen privilegierter Gruppen richtet.

Wir brauchen auch qualitative Forschung

Kritisch-rationalistische friedenspsychologische Forschung beginnt mit der Erfindung einer Theorie und setzt sich fort in der nachfolgenden sauberen deduktiven Hypothesentestung. Das beschreibt allerdings nur einen Teil der real existierenden wissenschaftlichen Friedenspsychologie. Irgendjemand muss eine Theorie erfinden und sie oder er tut dies vor dem Hintergrund des Erlebens einer bestimmten Realität – z.B. auf Basis eigener Beobachtung oder auf der Basis von Erzählungen anderer. Ein viertes Problem der aktuellen psychologischen Forschungsorientierung ist, dass die Mainstream-Psychologie mit ihrer deduktiv-hypothesentestenden Orientierung die Phänomenologien dessen, was sie untersucht, oft zu stark vernachlässigt. Ich verwende bewusst den Plural, denn das Erleben von sozialen Situationen, insbesondere konfliktären, variiert, z.B. in Abhängigkeit von der eigenen Machtposition – wie oben geschildert: Diskriminierung sieht unterschiedlich aus für diejenigen, die diskriminieren, die diskriminiert werden und für die, die diese Situation, z.B. als Forscher*innen beobachten. Wir brauchen in stärkerem Maße als bislang offene qualitative friedenspsychologische Forschung, die hilft, die Bandbreite dessen zu verstehen, was und wie Menschen verschiedene Situationen erleben können. Wir müssen uns allerdings bewusst sein, dass die Erkenntnismöglichkeiten qualitativer wie quantitativer Forschung unterschiedlich sind: qualitative Forschung ist in der Regel in der Lage, etwas darüber zu sagen, was es alles gibt – z.B. welche Formen von Diskriminierung, nicht aber, wie oft es etwas gibt und womit es zusammenhängt. Das setzt Quantifizierung voraus.

Normativität

Fünftens, zu was genau kann die Friedenspsychologie eigentlich einen wissenschaftlichen Betrag leisten? Zur Auswahl von Wegen? Die Psychologie weiß beispielsweise viel darüber, wie sich Versöhnungsprozesse umsetzen lassen, wenn Versöhnung gewünscht ist. Und auch zur Festlegung von Zielen? Was beispielsweise soll im Ukraine-Kriege erreicht werden: Waffenstillstand oder Selbstbestimmung der Ukrainer*innen? Eine rein auf den empirischen Forschungsprozess konzentrierte Wissenschaft wie die Psychologie, die ihr Wahrheitskriterium aus empirischen Ergebnissen ableitet, hat zu einer solchen Frage der Zielsetzung wenig beizutragen. Die Angemessenheit von Zielen lässt sich in der Regel nicht empirisch ermitteln, sie folgen vielmehr aus ethisch-moralischen Überlegungen und demokratischen politischen Entscheidungen. Vielleicht liegt hier aber eine besondere Herausforderung und Chance für die Friedenspsychologie: Auch wenn ihr kritisch-rationalistisches Forschungsparadigma eine empirische Entscheidung über Zielfragen nicht möglich macht, doch immer wieder, in Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, das Ziel in den Vordergrund zu stellen: die Herstellung von Frieden. Dies wirft allerdings die nächste Frage auf: welcher Frieden eigentlich? Gerade die durchgängige kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel Frieden begründet nach meiner Auffassung die Existenzberechtigung der Friedenspsychologie innerhalb der verschiedenen Psychologien. Die generelle Forderung, bei der Festlegung von Zielen als empirisch orientierte Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zurückhaltend zu sein, bedeutet natürlich nicht, bei der kritischen Auseinandersetzung um Ziele völlig abstinent zu sein: Psycholog*innen sind auch Bürger*innen und sollten als solche durchaus ihre Stimme erheben – aber dann eben nicht in einer Rolle als Wissenschaftler*in.

Praktiker*innen einbeziehen

Eine weitere offene Frage ist schließlich die nach dem Verhältnis von Friedenspsychologie als einer Wissenschaft zu den Praktiker*innen, die, im günstigen Fall geleitet von friedenspsychologischen Modellen, vor Ort im Sinne der Schaffung von Frieden tätig sind. Friedenspsychologische Modelle und Theorien bestehen aus Aussagen auf der Basis von theoretischen Variablen – Frustration, die zu Aggression führt –, woraus man prognostizieren kann, dass mit dem Abbau von Frustration auch Aggression zurückgehen sollte. Diese theoretischen Variablen sind im Zuge einer Intervention in Praxis zu übersetzen: Was sind im konkreten Fall die frustrierenden Bedingungen und wie kann man sie ändern? Das setzt ein hohes Maß an praktischer Kompetenz voraus, etwas, worüber wissenschaftlich tätige Friedenspsycholog*innen nicht immer verfügen. Die unterschiedlichen Kompetenzen von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen können zu Konflikten und zu erheblichen Verlusten in der Implementierungsgüte von eigentlich sinnvollen Maßnahmen führen, was vermieden werden sollte. Wissenschaftliche Friedenspsycholog*innen müssen sich ihrer Rolle im Verhältnis zu Praktiker*innen bewusst sein. Idealerweise gehört dazu, die hohe Kompetenz von Praktiker*innen anzuerkennen, Praktiker*innen als gleichberechtigte Partner*innen zu sehen, ihr oft implizites Wissen zur Optimierung von Interventionen zu nutzen und schließlich auch die eigenen Modelle nach den Interventionsergebnissen in einem Rückkopplungsprozess zu verbessern.

Anmerkung

1) Ich danke Christopher Cohrs, Marburg, Mario Gollwitzer, München, und Jost Stellmacher, Marburg, für ihre Kommentare zu einer ersten Version dieses Beitrags.

Ulrich Wagner ist Professor i.R. für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er war bis 2022 im Vorstand von W&F aktiv und hat zuletzt zur Kontakttheorie (handbuch-friedenspsychologie.de/) und zu Gewaltprävention publiziert.