Lernen von den »Guardias«

Lernen von den »Guardias«

Integrale Sicherheit als Antwort auf multiple Gewaltphänomene in Kolumbien1

von María Cárdenas

Am Beispiel der »Guardias« und im Kontext des kolumbianischen Friedenskonsolidierungsprozesses soll dieser Beitrag Aufschluss darüber geben, wie Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Gemeinden inmitten von allgegenwärtiger Gewalt durch integrale Sicherheitssysteme kollektiven Selbstschutz praktizieren, um das (Über-)Leben ihrer Gemeinden und Ontologien zu sichern. Angesichts multipler planetarer Krisen bietet ihre Praxis wichtige Denkanstöße für die notwendige Überwindung des hegemonialen Verständnisses von (militarisierter) Sicherheit.

Die »Guardia Indígena«, die »Guardia Cimarrona« und die »Guardia Campesina« (kurz »Guardias«) sind heute die international bekanntesten gemeindebasierten und integralen Sicherheitssysteme in Kolumbien. Seit der Jahrtausendwende wurden sie von ihren Gemeinden gestärkt, um ihr territorio und ihre Bevölkerung vor bewaffneten Akteuren und ihrer gewaltsamen Vereinnahmung für extraktive Ökonomien zu schützen. So stellen sie sich illegalen Ökonomien ebenso in den Weg wie legalen und illegalen bewaffneten Akteuren und sind zum Teil beteiligt an der »Liberación de la Madre Tierra« – also an Initiativen, die die »Mutter Erde« aus z.B. Monokulturprojekten befreien wollen.2 Angesichts der Allgegenwärtigkeit der Gewalt stellen die Guardias seither gleichsam den bestmöglichen Schutz vor militärischer Gewalt dar, als auch eine unbewaffnete Alternative zu ihr. Gleichwohl wird ihre Arbeit häufig aus einer eurozentrischen Perspektive auf ein anthropozentrisches Verständnis von Sicherheit reduziert. Auch aus einer solchen Perspektive können die Guardias zwar Aufschlüsse über Alternativen zu militarisierter Sicherheit geben. Die ontologischen Konflikte, die der Gewalt gegen diese Gemeinden zugrundeliegen, werden hierdurch jedoch vernachlässigt. Ebenso wird das Potential unsichtbar, das integralen Sicherheitssystemen zur Überwindung jener multiplen (Un-)Sicherheitskrisen innewohnt, die durch die Moderne/Kolonialität hervorgerufen wurden (Escobar 2020).

Der Beitrag baut auf meiner ethnographischen Forschung mit Indigenen und Afrokolumbianischen Friedensaktivist:innen seit 2017 (u.a. Cárdenas 2023), sowie einer vom Deutsch Kolumbianischen Friedensinstitut (CAPAZ) unterstützten explorativen Studie von 20193 auf. Ziel ist es, mit Blick auf das Sicherheitsverständnis Indigener, Afrokolumbianischer und kleinbäuerlicher Gemeinden das hegemoniale Verständnis von Sicherheit neu zu betrachten. Der Beitrag ist auch ein Angebot, die hegemonialen Formen oder Versuche der Gewährleistung von Sicherheit zu reflektieren. Zu diesem Zweck werde ich im Folgenden die Arbeit der Guardias im Cauca näher in den Blick nehmen.

Hintergrund: Bewaffnete Gewalt und Morde im Cauca

Unsicherheit und Gewalt haben die südwestliche Region Cauca seit Jahrzehnten geprägt. Fast acht Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat die Frage der Sicherheit in dieser Region allerdings nicht an Bedeutung verloren, denn sowohl die Anzahl bewaffneter Akteure als auch die Gewalt gegen soziale und ethnische Organisationen und Aktivist:innen haben weiter zugenommen. Zwischen dem Tag der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis zum 3.7.2024 wurden laut INDEPAZ in Kolumbien 1.621 soziale Führungspersönlichkeiten (líderes) ermordet (INDEPAZ 2024). Allein im Cauca waren es 324 ermordete soziale Aktivist:innen, von denen mehr als ein Drittel Indigene waren (128), gefolgt von Kleinbäuer:innen (79), und Afrokolumbianischen Aktivist:innen (32).4 Die unverhältnismäßige Gewalt gegen ländliche und insbesondere Indigene Führungspersonen ist vor allem auf ihren Widerstand gegen Wirtschaftsakteure und lokale Eliten zurückzuführen, die nach der Demobilisierung der FARC-EP um die ökonomische und sozio-politische Kontrolle der Region konkurrieren und eine Ausweitung der legalen und illegalen Wirtschaftsweisen in diesem Departement anstreben (Albarracín et al. 2022).

Teil integraler Sicherheitssysteme

Indigene, Afrokolumbianische und kleinbäuerliche Guardias können als integrale gemeinschaftliche Sicherheitssysteme verstanden werden, die temporär, semi-permanent oder permanent sein können und aus einem unbezahlten, unbewaffneten Dienst bestehen, den meist alle Mitglieder der Gemeinschaft mindestens einmal verrichten. Das Leitmotto der Guardias „Todos somos guardia“ („Wir alle sind Guardias“) bedeutet sowohl, dass die Arbeit der Guardia bzw. die damit verbundene Verantwortung nicht ausgelagert werden kann, als auch, dass jede:r – von den Älteren bis zu den Kindern – ein wichtiger Teil ist, um zum Schutz des territorio und dessen Gemeinschaft beizutragen. Hierdurch ist die Gruppe zumindest bei den semi-permanenten und temporären Guardias meist relativ heterogen, was Gender, Alter und familiäre Situation anbelangt.5 Die Gemeindemitglieder, die als Guardia dienen, tragen im Dienst zumeist den traditionellen bastón de mando – einen mit Bändern der Organisationsfarben verzierten Holzstab. Häufig tragen sie dazu auch ein Halstuch und eine Weste, auf denen das Logo der Organisation, der ihre Gemeinde angehört, sichtbar ist.

Da die Guardias Teil der politischen Autonomie der Gemeinden und dieser untergeordnet sind, werden sie auf Gemeindeebene organisiert. Ihre Organisation hängt also von ihrem jeweiligen gobierno propio ab (ihren autochthonen Formen politischer Selbstorganisation), sowie von dem sozio-ökologischen und politischen Kontext, in den sie eingebettet sind. Nicht nur angesichts der besonderen Gewaltbetroffenheit der Cauca-Region kann die Arbeit der dort ansässigen Guardias also nicht auf andere Kontexte übertragen werden.

Die Guardias sind zudem nur ein Element der gemeindebasierten Schutzmechanismen im heutigen Kolumbien, zu denen auch die planes de vida (Lebenspläne), medicina ancestral (traditionelle Medizin) und spiritueller Schutz (durch z.B. Taitas oder Thê’ Walas), sowie institutionalisierte Dialogforen zählen. Der Bekanntheitsgrad der Guardias hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie aus einem eurozentrischen Sicherheitsverständnis leichter zu greifen sind als z.B. die Wirkung von Thê’ Walas. Dies hat es einzelnen Guardias im Cauca ermöglicht, Zuwendungen von staatlichen und internationalen Stellen zu erhalten – eine Entwicklung, die manche Gemeinden aufgrund der damit (vermeintlich verbundenen oder wachsenden) Nähe zum eurozentrischen Sicherheitsverständnis bzw. ihrer Reduktion hierauf mit Sorge betrachten.

Der hier entwickelte Blick auf die Guardias im Cauca soll daher keinesfalls zu einer Generalisierung der Guardias und Reduktion ihrer Komplexität, Heterogenität und kontextspezifischen Ausprägung beitragen, denn diese hat in Kolumbien auch zu einer Dichotomie von Romantisierung vs. Kriminalisierung geführt. Ziel ist vielmehr, zu erörtern, welche Alternativen die Guardias in Kolumbien zu einer militärischen oder militarisierten Durchsetzung von Sicherheit eröffnen – auch in einem Kontext allgegenwärtiger Gewalt – und was wir von ihnen für das Verständnis von Sicherheit und seine Erreichung lernen können.

Der integrale Schutz des »Territorio«

Die Aufgabe der Guardias ist es, Sicherheit und Harmonie in einer integralen Weise zu fördern, die sich nicht auf physische Sicherheit oder den negativen Frieden beschränkt (Galtung 1972), sondern auf das abzielt, was häufig als »die Kontrolle des Territoriums« (control territorial) bezeichnet wird. Als territorio lässt sich zunächst vereinfacht das Leben und die Beziehungen der Lebewesen untereinander in einem gewissen Raum bezeichnen. Dieser Raum sollte jedoch nicht auf ein eurozentrisches, zweidimensionales Verständnis im Sinne einer Karte reduziert werden, sondern ist zum einen multidimensional und dynamisch, und beinhaltet zum anderen auch die vertikale, spirituelle und historische Dimension. Zudem ist es eng mit dem menschlichen Körper verschränkt.

Die Kontrolle des territorio beinhaltet also zwar auch das, was im eurozentrischen Sicherheitsverständnis als die Kontrolle über ein gewisses Stück Land verstanden wird: zu wissen, wer sich auf dem spezifischen Gelände aufhält, was diese Menschen tun und wieso. Im Kontext allgegenwärtiger Gewalt ist es wichtig, die Routen von bewaffneten Akteuren zu kennen, wann sie unberechtigterweise das Gelände durchqueren, und welche Beziehungen sie mit anderen Akteuren halten. Dies ermöglicht nicht nur eine sehr gute Kenntnis der Akteure der Region und ihrer Interessen (und trägt dadurch zum friedens- und sicherheitsrelevanten Wissensarchiv dieser Gemeinden bei), sondern es hat oft unmittelbar praktischen Nutzen. Beispielsweise wenn die Kenntnisse hierüber es diesen Gemeinden ermöglichen, zwangsrekrutierte Minderjährige wieder aus den Fängen von bewaffneten Akteure zu holen, illegalen Bergbau zu identifizieren, oder gar Bagger-Lader der Polizei zu übergeben.6 Juan Carabalí von der Nationalen Schutzeinheit (UNP)7 stellt klar:

„Man stellt sich die Guardias oft so vor, dass sie bewaffnet sind, aber das stimmt nicht. Der Guardia ist derjenige, der hinausgeht, um zu verhandeln, um einen Dia­log zu führen, um die Menschen, die [von bewaffneten Akteuren] getötet werden sollen, wegzubringen, um sie aus den Händen von bewaffneten Gruppen zu holen, die sie töten wollen. Ja, die afrokolumbianischen Gemeinschaften tun das die ganze Zeit, und die indigenen Gemeinschaften, die ganze Zeit.“ (Juan Carabalí, UNP, 23.4.2019).

Sicherheit wird hier also Carabalí zufolge nicht über Gewalt (oder die Androhung dieser) hergestellt, sondern über den Mut, ins Gespräch zu kommen und sich der Gewalt entgegenzustellen, sowie über die Autorität, mit der die Guardia ihr territorio verteidigt.

Die Arbeit der Guardias kann jedoch nicht auf den Umgang mit Gewaltkonfrontationen und ihre Verhandlungskapazitäten reduziert werden. Aufgrund des eingangs genannten Verständnisses von territorio besteht territoriale Kon­trolle auch darin, auf den Zustand bzw. die Gesundheit des Territoriums, der Pflanzen und der Tiere zu achten sowie auf den Zustand von Straßen, Zäunen und Brücken (Forschungsmemo vom 16.2.2019). Daher beinhaltet die territoriale Kontrolle neben dem Schutz der Natur auch die »Minga« – also die Gemeindearbeit (z.B. Renovierungs- und Reparaturarbeiten, Unterstützung bei der Ernte, die Reparatur eines Hauses, eines Zauns, eines Brunnens oder einer Brücke). Ebenso beinhaltet die Arbeit der Guardia zum Teil auch die Mediation bei Nachbarschafts- oder familiären Konflikten, sowie bei Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und mit den Nachbargemeinden (wobei dies je nach Gemeinde auch von anderen Ämtern und Rollen übernommen wird). Die Guardias erfüllen daher vielerorts auch Funktionen, um die Autonomie und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde gegen die Kolonialität und ihre Gewalt zu stärken. Es handelt sich bei der Guardia damit also um einen Teil autonomer und integraler Sicherheitssysteme, in dem sich Menschen die Aufgabe teilen, das Pluriversum zu schützen – nach außen (bzgl. bewaffneter Akteure und Nachbargemeinden), nach innen (Gemeindekohäsion), als auch horizontal und vertikal (bzgl. des Schutzes des Territoriums bzw. der Natur, der Ahnen und des spirituellen Raums vor z.B. Extraktivismus) – oft auch mit ihrem eigenen Leben.

Dies macht auf einen weiteren Aspekt der Territorialkontrolle aufmerksam, der über ein eurozentrisches Sicherheitsverständnis hinausgeht. Es geht nämlich nicht nur um den Schutz einer bestimmten Gruppe von Menschen und gegebenenfalls ihres Besitzes, sondern auch um den Schutz der Natur in ihrem eigenen Recht8, sowie um den Schutz der Beziehungen und des Gleichgewichts zwischen Menschen, nicht-menschlichen Lebewesen und dem spirituellen Raum. Bei diesem nicht-westlichen Verständnis von »Sicherheit« geht es also auch um die Beziehungen zwischen Menschen und dem was wir unter Natur verstehen (also Flora und Fauna), ebenso wie um die spirituellen und emotionalen Beziehungen, die das Territorium beinhaltet, und um die Gesetze bzw. Regeln, denen diese folgen.

In wissenschaftlichen Debatten, insbesondere des »ontological turn« oder der »political ontology«, erhalten diese relationalen Möglichkeiten, die Welt in ihrer Pluriversalität zu verstehen, zunehmend an Bedeutung (vgl. FitzGerald 2021). Vor diesem Hintergrund lässt sich control territorial nicht nur als Teil von territorialen Kämpfen verstehen, sondern vielmehr sind territoriale Kämpfe, bzw. der Versuch das Territorium zu schützen, im Sinne von Arturo Escobar (2020) immer auch ontologische Kämpfe. Es geht bei den Guardias also um den Schutz des Pluriversums vor seiner Vernichtung durch ontologische Zerstörung, die die Monokulturen (hier nicht auf den Anbau beschränkt) der Moderne/Kolonialität nach sich ziehen. Die eingangs genannten vielfachen Morde in Kolumbien an Indigenen, Afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Aktivist:innen weisen daher nicht nur auf die nekropolitische Dimension hin, die rassialisiertes Leben der kapitalistischen Logik unterwirft (Ruette-Orihuela et al. 2023), sondern auch auf die ontologische Dimension der Gewalt, da die Ermordeten als zentrale Akteure in der Aufrechterhaltung des widerständigen Wissens und in der Organisation des ontologischen Widerstands verstanden werden müssen.

Auswirkungen des Friedensabkommens seit 2016

Die Nationale Schutzeinheit UNP hat eingeräumt, dass sie auf der ländlichen Ebene sehr schwach ist. Vor allem bei Indigenen und Afrokolumbianischen Gemeinschaften sind die Sicherheitsmaßnahmen oft nicht in der Lage, Morde zu verhindern.9 Darüber hinaus gab es Fälle von Leibwächtern der UNP-Vertragspartner, denen paramilitärische Verbindungen nachgewiesen werden konnten.10 Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den rechtlichen Rahmen der autonomen Sicherheitsmechanismen auszuweiten – und damit auch ihre Möglichkeiten, Sicherheit integral zu stärken11 –, wurde das Recht auf autonome Sicherheitssysteme als Teil des ethnischen Kapitels auch in das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 aufgenommen (vgl. Cárdenas 2019). Es garantiert unter anderem, dass „bei der Gestaltung und Umsetzung des Sicherheits- und Schutzprogramms für Gemeinschaften und Organisationen in den Gebieten eine ethnische und kulturelle Perspektive einbezogen wird. Die Stärkung der eigenen Sicherheitssysteme der ethnischen Völker, die national und international anerkannt sind, […] wird garantiert“.

Dies hatte weitreichende Folgen, von denen ich hier nur zwei nennen werde: Zum einen die politische und rechtliche Anerkennung der Afrokolumbianischen und Indigenen Guardias und damit die Anerkennung alternativer Konzeptualisierungen von Sicherheit. Das ist ein wichtiger politischer Erfolg für Indigene, aber auch Afrokolumbianische Gemeinden. Dieses nicht-anthropozentrische, integrale Verständnis von Sicherheit wurde zuletzt durch die erfolgreiche Initiative Afrokolumbianischer Gemeinschaften aus dem Nord-Cauca auch in einem Urteil der kolumbianischen Übergangsjustiz JEP erneuert: Dort wurde der Fluss Cauca als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkannt und ihm das Recht auf Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung zugestanden. Es lässt sich also als Folge des ethnischen Kapitels ein Einfließen von nicht-eurozentrischen Ontologien in die kolumbianische Rechtsprechung feststellen.

Zum anderen wurden die Guardias in ihrer finanziellen, strukturellen und ideellen Form durch Sicherheitsinstitutionen wie die Nationale Schutzeinheit UNP gestärkt. 2019 arbeitete UNP mit 78 Kollektiven im ganzen Land zusammen, von denen die meisten Indigene und Schwarze Gemeinschaften waren, und individuell mit etwa 800 Indigenen und etwa 500 Afrokolumbianischen Aktivist:innen, die Personenschutz benötigten (Stand Februar 2019, Interview mit der UNP vom 23.4.2019). Die Maßnahmen umfassen materiellen (Westen, Walkie-Talkies usw.) und immateriellen Schutz (Ausbildung in ethnischen Rechten, in Menschenrechten und im humanitären Völkerrecht, usw.), aber auch spirituellen Schutz (zur Harmonisierung des Territoriums z.B.; ebd.). Diese Dynamik hat sicherlich zur größeren Sichtbarkeit der Guardias beigetragen.

Wenngleich im Cauca die »Guardia Indígena« besonders stark ist, hat in den letzten Jahren auch die Zahl der Afrokolumbianischen Gemeinderäte mit eigenen Guardias zugenommen hat. Laut Victor Hugo Moreno Mina (ACONC) gab es 2019 neunzehn Afrokolumbianische Guardias in den 43 Gemeinderäten im Cauca (Interview mit Victor Hugo Moreno Mina, 22.2.2019). Nach einem von der internationalen Zusammenarbeit finanzierten Workshop für interethnische Guardias im Jahr 2018 wurde in Cauca auch die interethnische Guardia gegründet, die sich aus Indigenen, Afrokolumbianischen und bäuerlichen Gruppen zusammensetzt, um voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu stärken und z.B. bei der Überführung illegaler und bewaffneter Akteure zu kooperieren. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Gewalt durch zahlreiche legale und illegale bewaffnete Akteure und illegale Ökonomien im Cauca sowie der Nachlässigkeit bzw. Schwäche des Staates, dieser entgegenzutreten, erweisen sich die Guardias auch weiterhin als unverzichtbares Sicherheitssystem, aber auch als Symbol für den autonomen und integralen Aufbau von Frieden nach dem Friedensabkommen.

»Todos somos guardia« – wir alle sind »Guardia«

Dies hat Edgar Alberto Velasco Tumiña (Autoridades Indígenas del Sur Occidente – AISO) zufolge dazu geführt, dass „[die indigene Guardia] in vielen Teilen der Welt ein Beispiel für den Widerstand gegen den Krieg [ist]. [W]ir haben gelernt, unsere Angst zu verlieren, unsere Angst vor dem Krieg, vor den Streitkräften, und wir widersetzen uns den Landbesitzern, den multinationalen Konzernen und der Regierung selbst“.

Das Narrativ der Guardia als Verteidigerin des Territoriums und als Friedensstifterin hat verstärkt seit dem Abschluss des Friedensabkommens Bündnisse mit einer Vielzahl von Akteuren ermöglicht, die sich außerhalb ihrer Gemeinden und/oder ihres territorio befinden: mit der internationalen Zusammenarbeit, der Studierendenbewegung, den Umweltschutzbewegungen oder der städtischen Linken. In jüngerer Zeit ist die Schaffung der inter­ethnischen Guardia (bestehend aus »Guardia Indígena«, »Guardia Campesina« und »Guardia Cimarrona«) selbst ein Versuch, über territorios hinweg zusammenzuarbeiten und ethnische oder rassistische Gräben zu überbrücken.

Ein Beispiel für den symbolischen Stellenwert, den die Guardias über ihre Territorien hinaus erlangt haben, war ihre zentrale Rolle beim Nationalstreik von 2021, in dem sie sich mit der meist urbanen Bevölkerung solidarisierten und diese beim Schutz vor repressiver Gewalt durch staatliche Sicherheitsbehörden und Bürgerwehren unterstützten.12 Ihre wachsende Popularität und ihre Kooperation mit Akteuren aus dem urbanen Raum hat sie jedoch auch angreifbarer für Kriminalisierung und Diffamierung gemacht13.

Zusammen mit dem Anstieg von sich diversifizierenden und miteinander konkurrierenden Gewaltakteuren im Cauca, die die Gewaltsituation gegen ländliche Gemeinden verschärfen, hat sich die Arbeit der Guardias daher erschwert: In den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 wurden bereits 89 soziale Aktivist:innen ermordet, viele davon wegen ihres Widerstands gegen den legalen und illegalen Extraktivismus. Eine der Guardias, die in diesem Zusammenhang ihr Leben verlor, war die Älteste und Nasa-Gouverneurin Carmelita Ascue Yule aus dem Cauca. Sie wurde am 16. März 2024 ermordet, als sie versuchte, Minderjährige aus ihrer Gemeinde vor der Zwangsrekrutierung durch eine Dissidentengruppe der FARC zu schützen.

Anmerkungen

1) Ausschnitte des vorliegenden Texts wurden bereits als Forumsbeitrag in Iberoamericana veröffentlicht, siehe Cárdenas 2020. Vielen Dank an David Scheuing und Astrid Juckenack für ihre Anmerkungen.

2) Siehe auch die Webpage der Bewegung unter liberaciondelamadretierra.org/de/.

3) Die Studie hatte den den Titel »Strengthening autonomy or the state? Die unterschiedliche Anerkennung der Guardias im Friedensabkommen und ihre Zusammenarbeit im Territorium im Rahmen des Post-Abkommens«.

4) Ibid. Im Vergleich hierzu macht die Indigene Bevölkerung laut der Volkszählung von 2018 lediglich rund 4.4 % und die Afrokolumbianische rund 9.34 % der Gesamtbevölkerung aus (vgl. DANE 2019, DANE 2023).

5) Frauen werden also nicht in die Sicherheit »integriert« (wie es aus einer euro- und androzentrischen Perspektive z.B. beim Militär der Fall ist), sondern als integraler Bestandteil der Gemeinschaft sind sie auch integraler Bestandteil ihres Schutzes (der nicht militärisch ist).

6) So erklärte Victor Hugo Moreno Mina (Asociación de Consejos Comunitarios del Norte del Cauca – ACONC) bei einem von mir begleiteten Vortrag an der Nationalen Polizeiakademie, dass die Guardia wiederholt den illegalen Bergbau in ihren Gebieten gestoppt und schwere Maschinen und Delinquenten der Polizei übergeben habe (Memo vom 01.11.2018).

7) Die UNP untersteht dem Innenministerium und ist für die Koordinierung und Durchführung des Schutzes von Personen oder Gruppen zuständig, deren Leben aufgrund ihrer Arbeit bedroht ist.

8) Dank der sozialen Kämpfe von Indigenen und Afrolateinamerikanischen Gemeinden wurden in Lateinamerika viele Teile der Natur (Flüsse, Berge etc.) als Rechtssubjekte anerkannt.

9) So Pablo Elías, Direktor der UNP, in CIEDH 2020, S. 5.

10) Siehe Comisión Colombiana de Juristas (2018).

11) Der rechtliche Rahmen der Guardia hängt vom allgemeinen rechtlichen Rahmen der Gemeinschaften ab: Für die Indigene und Afrokolumbianische Bevölkerung beruhen die ethnischen Rechte in Kolumbien auf dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, das von Kolumbien durch das Gesetz 21 von 1991 gebilligt und in der Verfassung von 1991 sowie im Gesetz 70 von 1993 festgeschrieben wurde. Folglich hat die Guardia Campesina keinen rechtlichen Rahmen, während die Guardia Indígena (seit 2001) und die Guardia Cimarrona (seit 2013) ihren lokalen Behörden, entweder dem Cabildo oder dem Gemeinderat, unterstellt sind.

12) Im Rahmen des Nationalstreiks wurden über 80 Demonstrierende v.a. von staatlichen Sicherheitskräften ermordet (vgl. Prieto 2022). Zum Nationalstreik in Kolumbien von 2021 und seiner Gewalt, siehe Cortés und Cárdenas 2021.

13) Beispielsweise »verwechselte« Ex-Präsident Álvaro Uribe in einem Tweet während des stark polarisierten Klimas des Nationalstreiks von 2021 die Guardia der indigenen Organisation CRIC mit der ELN-Guerilla, siehe: El Espectador 2021.

Literatur

Albarracín, J. et al. (2022): Local competitive authoritarianism and post-conflict violence. An analysis of the assassination of social leaders in Colombia. International Interactions 49(2), S. 237-267.

Cárdenas, M. (2019): “Nicht ohne uns!” Der partizipative Friedensprozess in Kolumbien. W&F 2/2019, S. 13-16.

Cárdenas, M. (2020): Ampliación de derechos étnicos en el marco de la construcción de paz en Colombia. Paradojas del fortalecimiento de las guardias en el Cauca contemporáneo y post-acuerdo. Foro de debate – “Etnicidades en disputa: nuevos caminos, nuevos desafíos”. Iberoamericana 20(75), S. 221-227.

Cárdenas, M. (2023): Why peacebuilding is condemned to fail if it ignores ethnicization. The case of Colombia. Peacebuilding 11(2), S. 185-204.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Blogbeitrag Wissenschaft & Frieden, 18.5.2021.

Centro de Informacíon sobre Empresas y Derechos Humanos (CIEDH) (2020): Las personas defensoras de los derechos humanos y las empresas en Colombia. März 2020.

Comisión Colombiana de Juristas (2018): ¿Cuáles son los patrones? Asesinatos de Líderes Sociales en el Post Acuerdo. Bogota: Eigenverlag.

DANE (2019): Población indígena de Colombia: Resultados del Censo Nacional de Población y Vivienda 2018. Gobierno de Colombia, 16.9.2019.

DANE (2023): Visibilidad estadística población negra, afrocolombiana, raizal y palenquera. Gobierno de Colombia, 2023.

El Espectador (2021): Álvaro Uribe trina contra el CRIC, borra el mensaje y culpa a sus ayudantes. El Espectador, 5.5.2021.

Escobar, A, (2020): Thinking-feeling with the earth: Territorial struggles and the ontological dimension of the epistemologies of the south. In: De Sousa Santos, B.; Meneses, M. P. (Hrsg.): Knowledges born in the struggle: Constructing the epistemologies of the Global South. New York: Routledge, S. 41-57.

FitzGerald, G. (2021): Pluriversal peacebuilding: Peace beyond epistemic and ontological violence. E-International Relations, 27.11.2021.

Galtung, J. (1972): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In: Senghaas, D. (Hrsg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 55-104.

INDEPAZ (2024): Visor de asesinato a personas lideres sociales y defensores de derechos humanos en Colombia. Datenbank, URL: indepaz.org.co/visor-de-asesinato-a-personas, abgerufen am 3.7.2024.

Prieto, L. V. (2022): Paro Nacional 2021: ¿En qué quedó?. Blogbeitrag Fundación Paz & Reconciliación (PARES), 28.4.2022.

Ruette-Orihuela, K. et al. (2023): Necropolitics, peacebuilding and racialized violence: The elimination of indigenous leaders in Colombia. Political Geography 105, 102934.

María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung befasst sich mit dekolonialen Perspektiven, »Critical Race und Ethnic Studies« sowie der Frage, wie pluriversaler Frieden aufgebaut bzw. pluriversales Peacebuilding operationalisiert werden kann.

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Aktuelle Herausforderungen für Selbstverwaltung und Autonomie

von Rene Urueña

Die rechtlichen und politischen Regelungen für die Selbstverwaltung der Sámi sind in Finnland seit langem umkämpft. Darüber hinaus schließen sich nach den geopolitischen Turbulenzen, die durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgelöst wurden, zunehmend wertvolle internationale Räume für Zusammenarbeit und Beteiligung. Trotz zahlreicher Fortschritte bei der formalen Anerkennung von Rechten und der Schaffung von Räumen für internationale Beteiligung scheint die Selbstverwaltung der Sámi in der Arktis nach wie vor stark umstritten und externen geopolitischen Dynamiken ausgesetzt zu sein, die sich der Kontrolle der indigenen Gruppe entziehen.

Die Sámi1 sind eine indigene Gruppe von 50.000-100.000 Menschen, deren Heimat (traditionell als Sápmi bekannt) große Gebiete im heutigen Nordnorwegen, Finnland, Schweden und Russland umfasst. Sie sind jedoch eine klare Minderheit: Sie machen nur etwa 2,5 % der Bevölkerung des als Sápmi bezeichneten geografischen Gebiets aus, und ein großer Teil der Sámi lebt außerhalb dieses Gebiets (Mamo 2023). Die Sámi sind das einzige indigene Volk in der Europäischen Union; als solches haben sie eine eigene Sprache, Kultur, Traditionen und Selbstverwaltungsstrukturen, die oft unter starkem Druck durch äußere Faktoren stehen, wie z.B. durch die militärischen Spannungen zwischen der NATO und Russland in der arktischen Region. Derzeit gibt es neun samische Sprachen, von denen das Nordsámi mit etwa 75 % der Sprecher*innen die am weitesten verbreitete ist. Allerdings gibt es eine beträchtliche Vielfalt unter einigen dieser Sprachen, die in Schweden, Finnland und Norwegen offiziell gesetzlich geschützt sind, nicht aber in Russland (Svonni 2008).

Ein Großteil der samischen Kultur und des traditionellen Lebensunterhalts ist mit der Rentierzucht, dem Fischfang, der Jagd und dem Kunsthandwerk verbunden. Rentiere spielen in der samischen Kultur eine besonders wichtige Rolle. Ein Großteil des traditionellen Kalenderjahres ist auf die Wanderung der Rentiere ausgerichtet: Das Jahr beginnt im Juni auf den Sommerweiden, wo die Kälber gefüttert werden und Geweih und Fell kräftiger werden, um dem nächsten Winter standzuhalten. Dort werden die Ohren der Kälber markiert: Jede*r Rentierbesitzer*ini hat ein einzigartiges Ohrzeichen, das den Besitzer des Tieres identifiziert. Danach geht es auf die Herbstweiden, wo die für die Schlachtung ausgewählten Rentiere ausgesondert werden und die anderen Tiere sich paaren. Weiter geht es zu den Winterweidegründen, wo die Tiere unter dem Schnee nach Pflanzen und Nährstoffen graben, und schließlich zu den Kalbungsgebieten im Frühjahr, wo die Kälber geboren werden (oft im Mai) und ein neuer Zyklus beginnt (Mazzullo 2012).

Rentiere versorgen die Sámi traditionell mit Nahrung, Kleidung und Materialien für das Kunsthandwerk. Heute wird die Rentierzucht jedoch meist parallel zu anderen landwirtschaftlichen Tätigkeiten und im Einklang mit den örtlichen Vorschriften betrieben. In Finnland zum Beispiel, wo die Rentierzucht nicht auf die Sámi beschränkt ist, gibt es ein klar definiertes Rentierzuchtgebiet, das etwa 35 % des Landes umfasst. Dort dürfen die Rentiere frei weiden, unabhängig vom Landeigentum. Das Rentierzuchtgebiet ist in mehr als 50 kleinere Gebiete unterschiedlicher Größe unterteilt (von denen einige eindeutig als samische Bezirke gekennzeichnet sind), von denen jedes von einer Genossenschaft verwaltet wird. Jede*r Rentierbesitzer*in gehört einer Genossenschaft an, die ihre eigene Führung wählt und in einem Hirt*innenverband vertreten ist, der jedes Jahr im Juni, zu Beginn des Zuchtjahres, in einem »Rentierparlament« zusammenkommt. Nach Angaben des finnischen Rentierzüchter*innenverbandes gibt es in Finnland etwa 4.400 Rentierbesitzer*innen, von denen etwa 1.000 Sámi sind (Reindeer Herders’ Association 2022).

Sámi-Selbstverwaltung in Finnland

Die Kultur und die Traditionen der Sámi sind seit langem den Regulierungen der finnischen Regierung unterworfen und sind offiziell durch das Gesetz geschützt. In Abschnitt 17 der finnischen Verfassung heißt es, dass „die Sámi als indigenes Volk das Recht haben, ihre eigene Sprache und Kultur zu bewahren und weiterzuentwickeln“, und in Abschnitt 121 heißt es, dass „die Sámi in ihrem angestammten Land eine sprachliche und kulturelle Selbstverwaltung haben“. In diesem Zusammenhang ist einer der akutesten Konfliktanlässe zwischen der finnischen Regierung und der Führung der Sámi einer der Selbstverwaltung – konkret das »Sámi-Parlament«. Das Parlament ist das Selbstverwaltungsorgan der Sámi in Finnland, das 1996 auf der Grundlage seines Vorgängers, der »Sámi-Delegation«, die von 1973 bis 1995 tätig war, eingerichtet wurde. Das Sámi-Parlament ist ein unabhängiges Organ, das nicht Teil der öffentlichen Verwaltung ist. Es wird aus öffentlichen Mitteln finanziert und arbeitet unter einem Verwaltungsmandat des Justizministeriums.

Nach dem finnischen Gesetz über die Selbstverwaltung der Sámi „wählen die Sámi aus ihrer Mitte ein Sámi-Parlament für die Zwecke der kulturellen Autonomie“. Die entscheidende Frage ist jedoch, wer sich in die Wähler*innenliste für die Wahlen eintragen darf. Wer zählt als Sámi? Das Gesetz besagt, dass ein*e Same eine Person ist, die „sich selbst als Sámi betrachtet“, vorausgesetzt, dass die Person „oder mindestens einer ihrer Eltern oder Großeltern Sámi als Muttersprache erlernt hat(Gesetz 974/1995; Änderungen bis einschließlich 1026/2003, laki saamelaiskäräjistä, Abschnitt 3.1), oder dass „mindestens einer ihrer Elternteile als Wähler für eine Wahl zur Sámi-Delegation oder zum Sámi-Parlament registriert war oder hätte registriert werden können“. (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.3)

Diese Bestimmungen scheinen erst einmal mit dem übereinzustimmen, was in vielen indigenen Selbstbestimmungsgesetzen in anderen Teilen der Welt enthalten ist. Die finnische Gesetzgebung enthält jedoch eine zusätzliche Klausel, die eine*n Same als jemanden definiert, der*die „von einer Person abstammt, die in einem Grund-, Steuer- oder Bevölkerungsregister als Berg-, Wald- oder Fischerlappe eingetragen ist“ (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.2). Diese Klausel bezieht sich auf die seit langem bestehenden finnischen Steuerregister (seit dem 18. Jahrhundert), in denen die Zahlungen von Personen erfasst sind, die den so genannten Lebensstil der Lappen leben (Jagd, Rentierzucht usw.), zu denen sowohl Angehörige der finnischen Mehrheitsbevölkerung als auch der Sámi gehören. Die Lappensteuerklausel öffnet das Sámi-Parlament daher für Mitglieder, die sich selbst als Sámi bezeichnen, die aber von anderen Mitgliedern, die Sámi als Muttersprache gelernt haben, möglicherweise nicht als solche anerkannt werden.

Diese Frage ist im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen schon seit einiger Zeit umstritten. Bereits 2009 stellte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (»UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination «, CERD) fest, dass die Rechtsauslegung des finnischen Obersten Verwaltungsgerichts der Selbstidentifizierung von Personen mehr Gewicht verleihen sollte (CERD/C/FIN/CO/19). Einige Jahre später, im Jahr 2012, kam derselbe Ausschuss zu dem Schluss, dass die finnische Gesetzesauslegung den Rechten der Sámi nicht genügend Gewicht beimaß (CERD/C/FIN/CO/20-22).

Die Kontroverse spitzte sich bei den samischen Wahlen 2015 zu, als Hunderte von Personen eine Registrierung als neue Wähler*innen beantragten, von denen 182 vom zuständigen Gremium des samischen Parlaments, dem Wahlausschuss, abgelehnt wurden. Gegen diese Ablehnungen wurde beim Exekutivrat des Sámi-Parlaments und anschließend beim Obersten Verwaltungsgericht Finnlands Berufung eingelegt. In zwei Entscheidungen in den Jahren 2015 und 2016 entschied das Oberste Verwaltungsgericht Finnlands gegen die Entscheidungen des Wahlausschusses und ordnete die Aufnahme von 93 dieser Personen in das Wählerverzeichnis an, so dass sie wählen durften. Umstritten war, dass das finnische Gericht sich nicht zu sehr darum kümmerte, ob der*die potenzielle Wähler*in auch nur eines der im Gesetz festgelegten objektiven Kriterien (nicht einmal das Steuerkriterium der Lappen) erfüllte, sondern auf die Gesamtbetrachtung der eigenen Meinung der Person über sich selbst als Sámi zurückgriff; für das Gericht wäre ein Ausschluss aus dem Wähler*innenverzeichnis, wie ihn der Wahlausschuss des Sámi-Parlaments beabsichtigte, in der Tat eine Diskriminierung der Kläger*innen.

Vorhersehbarerweise wurde die Entscheidung des Gerichts von der Führung der Sámi energisch zurückgewiesen, die daraufhin eine Reihe von Individualbeschwerden bei den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen einreichte, mit dem Argument, dass eine solche Entscheidung „die Stimme des sámischen Volkes im Sámi-Parlament und die Wirksamkeit des Parlaments bei der Vertretung des sámischen Volkes bei wichtigen Entscheidungen (Finnlands), die ihr Land, ihre Kultur und ihre Interessen betreffen können, schwächt“. (CCPR/C/124/D/2668/2015).

Zwei UN-Gremien stellten sich auf die Seite der Sámi. Im Jahr 2019 stellte der Menschenrechtsausschuss zweimal fest (in CCPR/C/124/D/2668/2015 und CCPR/C/124/D/2950/2017), dass Finnland tatsächlich das Recht der Sámi verletzt hat, direkt oder durch frei gewählte Vertreter*innen an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen (Artikel 25 ICCPR), in Verbindung mit ihrem Recht, als Minderheit ihre eigene Kultur zu genießen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und ihre eigene Sprache zu verwenden (Artikel 27 ICCPR). Das CERD wiederum stellte noch 2022 fest, dass das finnische System das Recht der Sámi verletzt, ihre eigene Identität oder Zugehörigkeit in Übereinstimmung mit ihren Bräuchen und Traditionen zu bestimmen, und die Strukturen und die Mitglieder ihrer Institutionen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Verfahren auszuwählen (gemäß Artikel 33 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker) (CERD/C/106/D/59/2016).

Infolge dieser breiten Verurteilung haben verschiedene finnische Regierungen versucht, das Gesetz über das Sámi-Parlament zu ändern, jedoch bislang ohne Erfolg. Die Erneuerung des Sámi-Parlamentsgesetzes hat den Verfassungsausschuss des finnischen Parlaments dreimal erreicht und ist jedes Mal gescheitert. Letztlich scheint die Frage des Sámi-Parlaments ein politisches Minenfeld zu sein. Die Politiker*innen in der Hauptstadt Helsinki scheinen wenig politischen Nutzen aus diesem wichtigen Thema ziehen zu können, das auch nur wenige Wähler*innenstimmen bringt. Insbesondere in einem Kontext, in dem das russische Expansionsstreben die meisten finnischen Kommentarspalten zu füllen scheint. Erst kürzlich, im Herbst 2023, versprach die neu gebildete Regierung von Ministerpräsident Orpo, einen weiteren Gesetzentwurf zur Änderung des geltenden Gesetzes vorzulegen (YLE News 2023). Es wurden jedoch keine Ergebnisse erzielt, was darauf hindeutet, dass die Debatte über das Sámi-Parlament und damit auch ein Großteil der Debatte über die Selbstbestimmungsrechte der Sámi im politischen Gefrierfach des Mainstreams bleiben wird – zumindest vorerst.

Internationale Governance: Erhöhte geopolitische Spannungen und arktische Zusammenarbeit

In Anlehnung an die nationalen Selbstverwaltungsstrukturen haben die Sámi eine stabile Organisationsstruktur für die internationale Zusammenarbeit und Vertretung geschaffen. Der 1956 gegründete »Sámi-Rat« ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich aus samischen Organisationen aus Finnland, Russland, Norwegen und Schweden zusammensetzt. Der Rat ist besonders aktiv bei den Vereinten Nationen und hat den Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat, einem wichtigen zwischenstaatlichen Forum für die Verwaltung der Arktis. Darüber hinaus hat der Rat 2019 eine Sondereinheit eingerichtet, die Einfluss auf die EU-Politik nehmen soll, unter anderem auf den Abbau von Grenzbarrieren in Sápmi.

Der Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat ist in internationalen Organisationen außergewöhnlich, da er über den »Beobachterstatus« für NGOs hinausgeht, den es anderswo gibt (Urueña 2008). Er gibt indigenen Organisationen die Möglichkeit, neben den Mitgliedsstaaten an allen Sitzungen teilzunehmen und die Agenda mitzugestalten. Infolgedessen war der Sámi-Rat in der Lage, echten Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess im Arktischen Rat auszuüben, da es oft der Fall ist, dass die Mitgliedsstaaten eine bestimmte Policy nicht vorantreiben, die von diesen Teilnehmern abgelehnt wird, wie z.B. in Fragen des Umweltschutzes (Koivurova und Heinämäki 2006).

Dieser Einflussbereich ging jedoch im März 2022 verloren, als der Arktische Rat seine Aktivitäten als Reaktion auf Russlands Einmarsch in der Ukraine einstellte. Dies stellt für die Sámi eine Herausforderung an vielen Fronten dar (Zellen 2023). Einerseits offenbart es einen Bruch innerhalb der indigenen Organisationen mit ständigem Teilnehmerstatus im Rat. Bezeichnenderweise unterstützte eine der teilnehmenden Organisationen, die »Russische Assoziation der indigenen Völker des Nordens« (RAIPON), die zunehmend unter dem Einfluss Moskaus steht, wenige Wochen vor der Aussetzung der Aktivitäten im Arktischen Rat Putins „Wunsch und Entscheidung, die Rechte und Interessen der Bewohner*innen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Sicherheit eines multiethnischen Russlands zu schützen“ (RAIPON 2022). Und obwohl eine andere Organisation (das »Internationale Komitee der indigenen Völker Russlands« (ICIPR)) rasch eine eigene Erklärung herausgab, in der sie die Invasion verurteilte, genießt RAIPON immer noch den Status eines offiziellen Teilnehmers (während ICIPR diesen Status nicht hat), wodurch sich die indigene Vertretung im Arktischen Rat entlang geopolitischer Linien zersplittert (Hosa 2023).

Darüber hinaus, und das ist vielleicht das Wichtigste, wurden die indigenen Teilnehmer des Arktischen Rates von den Mitgliedsstaaten nicht konsultiert, als die Entscheidung zur Aussetzung der Aktivitäten getroffen wurde – ein wichtiger Rückschritt in Bezug auf die Möglichkeiten der Sámi, internationale Politik zu beeinflussen, die sie betrifft. Obwohl Norwegen im Mai 2023 den Vorsitz des Rates übernommen und sein ausdrückliches Ziel erklärt hat, die arktische Zusammenarbeit nicht ins Stocken geraten zu lassen (Norwegian Ministry of Foreign Affairs 2023), muss der Realität ins Auge geblickt werden, dass einerseits ein Präzedenzfall in dem Sinne geschaffen wurde, dass folgenschwere geopolitische Entscheidungen in der Arktis getroffen werden, ohne die indigenen Gruppen zu konsultieren, und dass andererseits eine stabile multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland unwahrscheinlich erscheint – was das Risiko birgt, dass der Sámi-Rat (und andere arktische indigene Organisationen) eines wichtigen Einflussbereichs in der internationalen Governance beraubt wird.

In ähnlicher Weise hat die Invasion auch die Strukturen der inner-samischen Zusammenarbeit beeinträchtigt, insbesondere zwischen den samischen Gruppen in Russland einerseits und denen in Finnland, Norwegen und Schweden andererseits (Zmyvalova 2022). Im April 2022 beschloss der Sámi-Rat, die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsorganisationen der russischen Seite »auf Eis zu legen«. In der Praxis bedeutet dies, dass die Zusammenarbeit mit den russischen Sámi, die im Sámi-Rat durch die Kola-Saami-Assoziation und den Saami-Verband der Region Murmansk vertreten sind, ebenfalls auf Eis gelegt wurde. Bei der Bekanntgabe der Entscheidung formulierte der Sámi-Rat die Herausforderung in geopolitischen Begriffen und erklärte, dass „wir vor 1992 zu lange durch die Handlungen der Staaten und die durch Sápmi gezogenen Grenzen getrennt waren. Wiederum beeinträchtigt und bedroht das Handeln eines Staates die Zusammenarbeit und Einheit des samischen Volkes“ (Sámi Council 2022).

Die Zusammenarbeit mit Russland im »Barents Euro-Arctic Council« wurde im März 2022 ebenfalls ausgesetzt, und Russland zog sich ein Jahr später ganz aus der Organisation zurück. Der »Barents-Rat« verfügt über eine ständige Arbeitsgruppe für indigene Völker (WGIP), die 1995 gegründet wurde, sich aus samischen Vertreter*innenn zusammensetzt und eine beratende Funktion im Rat hat (Barents Euro-Arctic Council 2023). Sie hat sich als wichtiges Forum für die Zusammenarbeit der Sámi und für politische Interventionen erwiesen, insbesondere zu Fragen im Zusammenhang mit dem Klimawandel in der Arktis, der Nordpolitik der Europäischen Union und dem traditionellen Wissen und Kulturerbe. Selbst wenn die Arbeitsgruppe weiterhin mit Vertreter*innen aus den anderen Mitgliedstaaten arbeitet (was sie tut), sind die Auswirkungen auf die Sámi drastisch. „Der Mangel an Interaktion mit den Sámi auf russischer Seite beunruhigt uns“, sagte Eirik Larsen, Mitglied der WGIP und Vertreter im Sámi-Parlament in Norwegen, gegenüber High North News, „wir Sámi sind ein Volk, und es ist schlimm, dass ein Teil unseres Volkes isoliert ist. Vor allem ist es kritisch für die Sámi und andere indigene Völker in Russland, die ohne eigenes Verschulden in diese Situation geraten sind(Edvardsen 2023).

Die Sámi und die Finnische Arktisstrategie

Im Jahr 2021 verabschiedete Finnland eine neue »Arktische Strategie«, die die Evolution des strategischen Denkens des Landes über die Region widerspiegelt (Borg und Brander 2021). Im Gegensatz zur Version von 2013 ist die neue Strategie stärker auf Sicherheitsfragen ausgerichtet und weniger optimistisch, was die Zusammenarbeit mit Russland außerhalb der Umweltkooperation (insbesondere bei der nuklearen Sicherheit und der Emissionsreduzierung) angeht. Besonders bemerkenswert ist, dass die Strategie von 2021 die Rechte der Sámi als eine der wichtigsten Prioritäten der finnischen Politik in der Arktis aufnahm. Im Hinblick auf die Selbstverwaltung der Sámi und die Beteiligung an internationalen Governance-Strukturen umfassten die strategischen Ziele für 2021-2030 die „Verbesserung der Möglichkeiten für indigene Völker, sich an der arktischen Zusammenarbeit, einschließlich der Zusammenarbeit in der Barents-Region, zu beteiligen“ und einen „Wahrheits- und Versöhnungsprozess zur Aufarbeitung historischer Ereignisse zu ermöglichen, der auch zum Aufbau von Versöhnung und Vertrauen zwischen dem indigenen Volk der Sámi und der finnischen Regierung beiträgt“ (Artikel 46, Absatz 4.3).

Und doch scheint Russlands Einmarsch in der Ukraine diese Ziele deutlich zurückgeworfen zu haben. Wie eine Expert*innengruppe feststellte, die vom finnischen Premierminister beauftragt worden war, die Auswirkungen von Russlands Krieg auf die arktische Zusammenarbeit zu bewerten (Koivurova et al. 2022), ist es für die indigenen Völker der Arktis umso schwieriger, ihren Platz in der Zusammenarbeit zu finden, je stärker die Spannungen in der arktischen Region sind. Reformversuche der nationalen Selbstverwaltung scheinen ins Stocken geraten zu sein, und wertvolle Räume für internationale Zusammenarbeit und Beteiligung scheinen sich Stück für Stück zu schließen. In einem Kontext geopolitischer Unruhe erscheinen die Möglichkeiten der Sámi, sich selbst zu regieren, zunehmend eingeschränkter zu sein. Doch trotz dieser Einschränkungen scheinen multilaterale Partizipationsräume weiterhin der beste Weg zu sein, um die internationale Position der Sámi zu stärken und damit die Verhandlungsposition dieser Gruppe im eigenen Land zu verbessern. Die Abkopplung der Geopolitik von den innenpolitischen Debatten könnte sich als kontraproduktiv erweisen, auch wenn dies in einem Kontext, in dem die Sámi auf beiden Seiten der finnisch-russischen Grenze gespalten erscheinen, verlockend zu sein scheint. Wie auch die Natur selbst ihre Zeit braucht, um sich zu verändern und zu entwickeln, werden sich nur dann innenpolitische Partizipationsmöglichkeiten entwickeln, wenn deutlich wird, dass indigene Rechte klar wichtiger sind, als konjunkturelle geopolitische Erwägungen.

Anmerkung

1) Anmerkung des Übersetzers: Auf Deutsch gibt es auch die Schreibweise »die Samen«. Da die Eigenbeschreibung der Gruppe jedoch »Sámi« ist und der Autor durchgehend die Schreibweise »Sámi« verwendet hat, bleibt auch die Übersetzung bei dieser Verwendung.

Literatur

Barents Euro-Arctic Council (2023): Working group of indigenous peoples. Barents Euro-Arctic Council, Homepage.

Borg, E.; Brander, N. (Hrsg.) (2021): Finland’s strategy for Arctic policy. Helsinki: Finnische Regierung.

Edvardsen, A. (2023): Russia out of the Barents Euro-Arctic Council. ‘Cooperation with the Sámi on the Russian side is severely affected by Russia’s war.’ High North News, 29.9.2023.

Hosa, J. (2023): Feeling the chill. Navigating Arctic governance amid Russia’s war on Ukraine. European Council on Foreign Relations, Policy Brief, Mai 2023.

Koivurova, T. et al. (2022): Arctic cooperation in a new situation. Analysis on the impacts of the Russian war of aggression. Government Reports 2022-3. Helsinki: Finnische Regierung.

Koivurova, T.; Heinämäki, L. (2006): The participation of indigenous peoples in international norm-making in the Arctic. Polar Record 42(2), S. 101-109.

Mamo, D. (Hrsg.) (2023): The indigenous world 2023. Copenhagen: International Work Group for Indigenous Affairs.

Mazzullo, N. (2012): The sense of time in the north. A Sámi perspective. Polar Record 48(3), S. 214-222.

Norwegian Ministry of Foreign Affairs (2023): Norway’s chairship of the Arctic Council 2023–2025. BrosjyreVeiledning. Document E1016-E. URL: regjeringen.no, 28.3.2023.

RAIPON (2022): RAIPON supports the decision of president Putin to start the war in Ukraine. 13.3.2022.

Reindeer Herders’ Association (2022): Reindeer herders. URL: paliskunnat.fi.

Sámi Council (2022): Cooperation with Russian side on hold. Sámiráđđi,10.4.2022.

Svonni, M. (2008): Sámi languages in the nordic countries and Russia. In: Extra, G.; Gorter, D. (Eds.): Multilingual Europe. Facts and policies. Contributions to the sociology of language 96. Berlin, New York: De Gruyter Mouton, S. 233-252.

Urueña, R. (2008): Derecho de las Organizaciones Internacionales. Bogotá: Temis/Uniandes.

YLE News (2023): Sami self-governing reform headed to Finnish parliament. YLE News, 10.8.2023.

Zellen, B. S. (2023): As war in Ukraine upends a quarter century of enduring Arctic cooperation, the world needs the whole Arctic Council now more than ever. Northern Review 54, S. 137-160.

Zmyvalova, E. (2022): The impact of the war in Ukraine on the indigenous small-numbered peoples’ rights in Russia. Arctic Review on Law and Politics 13 (August), S. 407-414.

Rene Urueña ist Professor für Rechtswissenschaften an der Universität von Lappland (Finnland) und der Universidad de Los Andes (Kolumbien) (derzeit beurlaubt).

Aus dem Englischen von David Scheuing.