Friedensmediation nach dem 7. Oktober
Friedensmediation nach dem 7. Oktober
Interaktive Konflikttransformation in Zeiten von Terror und Krieg
von Wilfried Graf und Werner Wintersteiner1
Es ist höchst notwendig, in der derzeit hochgradig eskalierten Situation in Israel/Palästina Impulse für gelingende zivile Konfliktbearbeitung fortzusetzen. Solche entwickelt das Kelman Institut seit 2004 für unterschiedliche Konfliktkonstellationen – auch und gerade mit einem jahrelangen Fokus auf Israel und Palästina. Doch wo kann eine gelingende interaktive Konflikttransformation ansetzen, was muss sie beachten, welche radikalen methodischen Änderungen in der Konfliktarbeit schlägt sie vor? Ein reflektierter Erfahrungsbericht samt Empfehlungen.
„Wir müssen die immerwährende Höllenmaschine, die ohne Unterlaß und überall Grausamkeit mit Hilfe von Grausamkeit erzeugt, unter Kontrolle bringen. Hoffen wir auch in diesem Fall nicht auf eine paradiesische Art der Lösung, tun wir aber das Rechte im Kampf gegen diesen Horror, da wir doch erkannt haben, daß eine der tiefliegenden planetaren Bestimmungen im Widerstand gegen die Grausamkeit der Welt besteht.“
(Edgar Morin, Heimatland Erde)
Es gab mehrere wichtige Meilensteine in den Bemühungen um eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf staatlicher und internationaler Ebene: die Camp-David-Abkommen 1978 zwischen Israel und Ägypten, der Oslo-Friedensprozess in den 1990er Jahren und die Genfer Initiative 2003 (vgl. Hirschfeld 2024). Trotz dieser Bemühungen blieben grundlegende Fragen wie die palästinensische Staatlichkeit, der Status von Jerusalem, das Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge und die israelische Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten immer ungelöst.
Seit dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses und der Zweiten Intifada kam es aber zu bedeutenden sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen in Israel und Palästina. Der Bau der »Sperranlagen« zwischen Israel und dem Westjordanland isolierte die palästinensischen Gemeinden in der Westbank und erschwerte ihren Alltag, während die völkerrechtlich illegalen Siedlungen immer weiter ausgebaut wurden. Die Fragmentierung innerhalb der israelischen Gesellschaft zwischen orthodox-religiösen und säkularen Israelis, zwischen Sephardim und Aschkenasim, nahm stark zu, die rechten Kräfte erlangten eine Hegemonie und radikalisierten sich immer mehr.
Innerhalb der palästinensischen Bevölkerung gibt es starke Fragmentierungen zwischen den Dörfern, Städten und den Flüchtlingslagern sowie zwischen Christ:innen und Muslim:innen in einigen Orten, und vor allem eine tiefe politische Spaltung zwischen der Westbank unter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Gaza unter einer de-facto Hamas-Regierung auf der ideologischen Grundlage des politischen Islams.
Die USA und die EU haben wiederholt versucht, den Friedensprozess wiederzubeleben, allerdings mit geringem Erfolg, da sie selbst Konfliktparteien sind. Die zahlreichen UNO-Resolutionen, die die dauerhafte Besatzung der 1967 von Israel eroberten Gebiete für illegal erklären und einen Friedensprozess fordern, konnten bislang keine realpolitische Wirkung entfalten. In den letzten Jahren hat sich der israelisch-palästinensische Konflikt dementsprechend weiter verschärft. Die Abraham-Abkommen von 2020 haben zwar zu einer gewissen Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten geführt, zugleich aber eine Transformation des Konflikts mit den Palästinenser:innen weiter hinausgeschoben.
Gleichzeitig hatte sich die Führung der Hamas, die den Gazastreifen kontrollierte, über die Jahre hinweg radikalisiert. Diese Entwicklung kulminierte in dem Angriff am 7. Oktober 2023. Dahinter stand aber auch eine langfristige Strategie mit regionalen Verbündeten wie Hezbollah und Iran, die möglicherweise auch nach dem Tod des Hamas-Führers Sinwar mit langem Atem weitergeführt wird.
7. Oktober: Reaktualisierung der Traumata
Der Konflikt hat mit den Ereignissen des 7. Oktober 2023 und dem darauf folgenden Krieg in Gaza eine dramatische Eskalation erfahren. Der seit Jahren vorbereitete, großangelegte Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilist:innen (inklusive israelische Araber:innen und Ausländern) war mit etwa 1.200 Toten und 250 Geiseln das schlimmste Massaker an Juden und Jüdinnen seit dem Holocaust. Der Krieg in Gaza führte innerhalb eines Jahres zu einem neuen Krieg gegen den Libanon sowie zur militärischen Konfrontation mit Iran, mit unabsehbaren Folgen für die ganze Region und die Welt (vgl. die Beiträge von Pfeifer, S. 17 sowie Karahamad und Schwab, S. 22).
Die militärischen Auseinandersetzungen mit circa 42.344 Toten in Gaza, mehr als 1.700 Toten in Israel, 728 palästinensischen Toten im Westjordanland sowie mehr als 1.600 Toten im Libanon (Stand: Ende Oktober 2024) führten zu immensem Leiden auf allen Seiten und reaktivierten tiefliegende Traumata in den Konflikt-Gesellschaften, die nicht einfach auf politische Instrumentalisierung durch die Eliten zurückgeführt werden können:
- Auf der jüdischen Seite wurden in Israel sowie in der Diaspora weltweit die Traumata der Shoah und der ihr jahrhundertelang vorangegangenen Verfolgungen reaktualisiert.
- Auf palästinensischer Seite wurde in der ganzen Region das Trauma der Nakba – die Vertreibungen von 1948 – wiederbelebt,
- im Libanon zudem die Kriegserfahrungen des libanesischen Bürgerkriegs und des Libanonkriegs 1982.
Diese Gewalterfahrungen entziehen sich unseres Erachtens aus einer friedensethischen Sicht jeder Gleichsetzung oder jedem Vergleich: Unabhängig von den konkreten Machtverhältnissen befördern sie eine jeweils spezifische sozialpsychologische Dynamik von Opferdasein und Rachsucht, die die Anerkennung des Leidens der anderen für lange Zeit zu verunmöglichen droht (vgl. Urlić, Berger und Bergman 2019). Die Internationalisierung dieser Dynamiken – nicht zuletzt auch durch digitale Plattformen – wird zweifellos Antisemitismus, aber auch Muslimfeindlichkeit weltweit weiter vertiefen.
Angesichts dieser Situation stehen zivile Konfliktbearbeitung und zivilgesellschaftliche Friedensinitiativen heute vor beispiellosen Herausforderungen. Ihre Grundidee – dass ein positiver Frieden nicht durch militärische Gewalt, aber auch nicht allein durch politische Verhandlungen erreicht werden kann, sondern in den Gesellschaften selbst verankert werden muss – wird auf eine harte Probe gestellt.
Die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Initiativen bewegt sich dabei in einem komplexen Spannungsfeld – zwischen einer dialogisch-empathischen Friedensmediation, der menschen- und völkerrechtlichen Kritik an den Täter:innen, verbunden mit Protest und Advocacy, sowie der Solidarität mit den Opfern auf allen Seiten. Die damit verbundenen, oft hoch emotionalisierten Widersprüche dieser vielfältigen, mehrdimensionalen Aufgaben müssen bewusst gemacht, ausgehalten und ausbalanciert werden.
Die Arbeit an Konflikttransformation erfordert trotz allem – zumindest analytische – Empathie mit dem Leiden aller Konfliktparteien, aber auch die kritische Erforschung und Anerkennung der Asymmetrien der Machtverhältnisse und die ungleichen Folgen von Gewaltstrategien, sowie eine »dekoloniale« Selbstreflexion der Positionen der Friedensarbeiter:innen selbst.
Dialogorientierte und immer auch trauma-sensitive (nicht-therapeutische) Konfliktbearbeitung muss aber – anders als Kritik der politisch-militärischen Gewalt und/oder Solidaritätsarbeit – auf Schuldzuweisungen verzichten, einen geschützten Rahmen garantieren und auf gewaltfreie Kommunikation achten.
Der Ansatz der Interaktiven Konflikttransformation
Der Ansatz des »Interactive Problem Solving« (IPS) oder auch der Interaktiven Konfliktlösung (IKL), entwickelt von Herbert C. Kelman mit einem vorwiegenden Fokus auf den Nahen Osten (Kelman 2016), wird seit 2011 vom Kelman Institut als » Interaktive Konflikttransformation« (IKT) weitergeführt, mit Associates in Wien, Jerusalem, Ramallah. Sowohl IPS als auch IKT stellen eine transdisziplinäre, vor allem aber auch sozialpsychologische Methodologie zur Bearbeitung langwieriger Konflikte zur Verfügung. Das Kelman Institut (HKI) organisiert seit 2004 Dialogprojekte und Prozessbegleitungen auf Track-2 und -1,5-Ebene, ab 2004 bis 2010 zum Friedensprozess in Sri Lanka (Graf und Kramer 2016), ab 2006 im Alpen-Adria Raum (Sturm 2024), ab 2016 zum Nahost-Konflikt (Graf und Wintersteiner 2013) sowie ab 2023 zum Krieg Russland-Ukraine (vgl. Morin 2023).
»Interaktive« Konflikttransformation (IKT) – zugleich sozial und kulturell »inklusiv« und methodisch »integrativ« – geht aber über den IPS Ansatz hinaus und kann als multidimensionale Prozessbegleitung auf drei Ebenen verstanden werden: die Stärkung von zivilgesellschaftlichen Beiträgen zum Konfliktmanagement der internationalen Staatenwelt (auf einer Track-1-Ebene), die Ausweitung und Vertiefung von »People-to-People«-Dialogen auf Graswurzelebene (Track-3-Ebene) und die Suche nach Konflikttransformation auf Track-2-Ebene. Dahinter steht das Ziel einer »Multi-Track«-Strategie – mit synergetischen Verbindungen innerhalb und zwischen den Ebenen Track-1, -2 und -3.
Die Erfahrungen mit IPS, insbesondere im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts, haben mehrere Grenzen des klassischen Ansatzes von Kelman aufgezeigt, die Innovationen erfordern. Der traditionelle Ansatz konzentrierte sich hauptsächlich auf säkulare, liberale Rahmenwerke der Konfliktlösung. Nachdem erkannt wurde, dass der israelisch-palästinensische Konflikte deutlich komplexer ist und vor allem immer stärker von den verschiedenen Weltanschauungen mit scheinbar nicht verhandelbaren Werten motiviert wird, musste überlegt werden, wie die IPS-Methodologie angepasst werden kann, während ihre sozialpsychologischen Kernprinzipien erhalten bleiben.
Wo klassische IPS-Ansätze davon ausgingen, dass die meisten Themen durch bedürfnisorientiertes oder interessenbasiertes Verhandeln gelöst werden können, fokussiert der IKT-Ansatz auf ein »Reframing« von »geschützten Werten« (Sacred Values), die als nicht verhandelbar oder gar nicht lösbar gelten, von identitätsbasierten Verpflichtungen, die Kompromisse zu verunmöglichen scheinen, sowie von religiösen oder ideologischen Absolutheiten. Die »postmodernen« Konflikte in Westasien und Nordafrika umfassen häufig religiöse und nicht-liberale Weltanschauungen, die säkular-liberale Prämissen ablehnen, unterschiedliche Vorstellungen von Legitimität und Autorität haben und scheinbar unvereinbare Werte vertreten. Auf nachhaltige Konfliktbearbeitung ausgerichtete Übereinkünfte müssen daher multiple gleichzeitige Rechtfertigungen für Vereinbarungen ermöglichen, die es verschiedenen Gruppen erlauben, Lösungen innerhalb ihrer eigenen Weltanschauungen zu formulieren, und Prozesse gestalten, die verschiedene kulturelle und religiöse Traditionen respektieren (Zalzberg und Ravitzky 2022).
Der IKT-Prozess folgt einer sorgfältig gestalteten Progression von der Analyse der aktuellen Situation über die Erkundung von Bedürfnissen und Ängsten bis hin zur Entwicklung möglicher Lösungsperspektiven durch die Konfliktparteien selbst, geleitet von geschulten Moderator:innen, die einen geschützten Raum garantieren und sich auf den Prozess statt auf den Inhalt konzentrieren (vgl. Graf, Kramer und Fink 2023).
Interaktive Konflikttransformation des HKI folgt damit zugleich der Heuristik einer Friedenslogik. Anders als die Logik von Terror und Krieg, aber auch anders als Sicherheitslogik, die bloß auf Gefahrenabwehr und Verteidigung zielt, steht Friedenslogik dem Einsatz von Gewalt kritisch gegenüber (vgl. Birckenbach 2014, Jaberg 2019). Friedenslogik zielt auch auf Legitimierungsarbeit auf Basis universeller Normen wie etwa die Menschenrechte, aber hier fügen wir auf Basis unserer Erfahrungen ein wichtige Ergänzung hinzu: Legitimierungsarbeit auf Basis universeller Normen – aber bei gleichzeitiger Mediation zwischen interkulturellen Konflikten auf Basis unterschiedlicher Religionen und Weltbilder.
Empfehlungen für ein neues Paradigma
Die Sicherheitslogik der internationalen Staatenwelt steht nach wie vor für ein reduktionistisches Paradigma von Frieden, das im Besonderen im israelisch-palästinensischen Konflikt einige der grundlegenden Interessen, Ängste und Bedürfnisse der Konfliktparteien nicht adressieren kann (vgl. Zalzberg 2019). Sie konzentriert sich in der Regel auf materielle Sachwerte wie Land, Grenzen, Siedlungen, Jerusalem, Sicherheit und die politischen Gefangenen, unter Vernachlässigung wichtiger sozialer, kultureller und psychologischer Barrieren zur Beilegung des Konflikts und seiner makro-historischen Wurzeln. Im Besonderen werden die Themen der kollektiven Identitäten zwar politisch ständig destruktiv dramatisiert, aber eben nicht bearbeitet: die Identität der palästinensischen Flüchtlinge, verbunden mit der Frage des Rechts auf Rückkehr, die kollektiven Rechte der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels, der jüdische Charakter des israelischen Staates, die Heiligkeit des Lands »zwischen dem Fluss und dem Meer«. Dabei werden die politisch-kulturellen Kern-Identitäten auf beiden Seiten weiterhin nicht anerkannt bzw. negiert. Darin liegt aber unseres Erachtens ein entscheidender Grund für den Stillstand in den Verhandlungen und ihr mögliches erneutes Scheitern am Ende der gegenwärtigen Kampfhandlungen.
Im Folgenden skizzieren wir einige Ausgangspunkte des HKI Programms für israelisch-palästinensische Konfliktbearbeitung, die wir auch als Empfehlungen für andere internationale Drittparteien sehen möchten:
- Internationale »Friedensfachkräfte« und Friedensmediator:innen im israelisch-palästinensischen Konflikt brauchen in ihrer Arbeit eine Haltung, die auf einer wissenschaftlich haltbaren Differenzierung zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an der israelischen Besatzung aufbaut. In diesem Zusammenhang braucht es für die Dialogarbeit vor allem eine Differenzierung zwischen einem den Status quo reproduzierenden Dialog der Normalisierung versus einem Dialog der Konflikttransformation. Eine Entwirrung dieser Knoten würde Missverständnisse aufklären, etwa in Bezug auf den vermeintlichen oder wirklichen »Antisemitismus« von jenen Teilen der Linken, die ähnlich wie die palästinensische Boykott-Bewegung BDS den israelisch-palästinensischen Konflikt oft nur auf ein Kolonialprojekt des westlichen Imperialismus reduzieren und das nationale Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Israelis leugnen. In Bezug auf internationale Friedenskräfte und Drittparteien – inkl. von Akteur:innen der Entwicklungszusammenarbeit in Palästina – wäre eine dialogische, selbstreflexive Weiterbildung und/oder auch integrative Supervision sehr nützlich, um vor- und unbewusste Feindbilder gegenüber Jüd:innen, Zionist:innen, Araber:innen oder Muslim:innen aufzudecken und zu transformieren.
- Die Suche nach Lösungsperspektiven sollte vor allem bei den Konfliktparteien selbst liegen und einem interaktiven, inklusiven und integrativen Prozess der Konflikttransformation untergeordnet werden. Dieser Prozess muss die angesprochenen Fragmentierungen der Konfliktgesellschaften bearbeiten, im Besonderen die »intersektionalen« sozio-ökonomischen, ethno-nationalen, religiösen und weltanschaulichen Trennungslinien. Eine umfassende Inklusion der Frauen* in die vielfältigen Aufgabenbereiche der interaktiven Friedensarbeit ist dabei von großer Bedeutung. Das HKI fokussiert im Besonderen auf die Inklusion der unterschiedlichen Weltbilder zwischen und innerhalb der Konfliktparteien, inklusive des Intra-Gruppen-Dialogs mit potentiell radikalen Gegner:innen des Friedensprozesses, den sogenannten »Veto-Gruppen« auf Seiten von religiösen Jüd:innen oder säkularen Jüd:innen, religiösen Palästinenser:innen oder säkularen Palästinenser:innen.
- Das Grundprinzip jeder zukünftigen Verhandlungslösung (ob zwei Staaten, ein Staat, Föderation oder Konföderation) bleibt die Anerkennung der tiefen historischen Verbindung beider Völker mit dem gesamten Land – also das Existenzrecht beider Völker. Die aktuelle Dynamik der wechselseitigen Verleugnung ignoriert beispielsweise die historische Tatsache, dass Akko, Jaffa, Haifa auch Teil der palästinensischen Heimat und Hebron, Shilo und Beit El auch Teil der jüdischen Heimat sind. Für einen langfristigen Frieden wird eine wechselseitige Anerkennung nationaler Selbstbestimmung unerlässlich sein, man kann sie aber nicht von Anfang an voraussetzen. Natürlich ist die tiefere Realität komplexer als die bloße Anerkennung der nationalen Frage auf beiden Seiten und der damit verbundenen Suche nach einer 2-Staaten-Lösung, und deshalb braucht es längerfristig – nach einer Anerkennung nationalstaatlicher Identität – auch weitergehende Perspektiven wie Konföderation, Föderation oder radikale Demokratie.
- Des Weiteren braucht es eine Aufdeckung und Überwindung der Mentalität der Bevormundung und der Ideologie der postkolonialen »Entwicklung« in den Beziehungen zwischen Europa und Palästina. Europäische Länder stell(t)en zwar große Finanzmittel und Ressourcen zur Verfügung, allerdings hat diese Hilfe immer noch neokoloniale Untertöne und unbeabsichtigte Konsequenzen für Palästina bei der eigenständigen Verwaltung der eigenen Angelegenheiten.
Trotz Allem: Suche nach einem neuen Friedensprozess
Der »Multi-Track«-Ansatz des HKI zielt auf Transformationsprozesse, die Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern werden. Er verknüpft Grassroots-Initiativen mit inoffizieller Track-2- und Track-1,5-Diplomatie, um Synergien zu schaffen. Das HKI organisiert dementsprechend nicht nur Dialog-Projekte mit einflussreichen Akteur:innen beider Seiten, wie im IPS Ansatz, sondern auch nach »innen« gerichtete Dialoge der beiden Seiten jeweils untereinander, zwischen den religiösen und säkularen Weltanschauungen, Forschungsprojekte zu diesen Tiefendimensionen des Konflikts sowie Politikberatung für nationale und internationale Entscheidungsträger:innen. Diese mehrdimensionale Arbeit wurde seit 2006 in Israel und Palästina konzipiert und vorbereitet, begann als konkretes Arbeitsprogramm ab 2016 und geht erstaunlicherweise – auf Basis des geschaffenen Vertrauens in den Vorjahren – auch jetzt nach dem 7. Oktober weiter.
Das übergeordnete Ziel dieser Arbeit besteht darin, längerfristig durch den Aufbau nachhaltiger Netzwerke von »Insider«-Mediator:innen zur Entstehung und Umsetzung von offiziellen Friedensverträgen und Übereinkommen, aber auch informellen Absprachen beizutragen, die sowohl von religiöser oder nationaler Seite akzeptiert werden können und gleichzeitig auch mit liberalen und säkularen Perspektiven übereinstimmen.
Trotz der unvorstellbaren Grausamkeit der gegenwärtigen Kriege in Gaza und Libanon und der damit verbundenen globalen Unübersichtlichkeit, der existentiellen Ungewissheit und der tiefen Ohnmachtsgefühle auf Seiten von Konfliktparteien aber auch Drittparteien, braucht es auch in Zeiten von Terror und Krieg die Einübung von »strategischem Optimismus«: Die erhöhte internationale Aufmerksamkeit hat den Konflikt wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt, was neue Möglichkeiten für Friedensmediation, Advocacy und/oder Solidaritätsarbeit eröffnet. Die jüngsten Ereignisse haben deutlich gemacht, dass der gegenwärtige Zustand für beide Seiten untragbar ist, was die Suche nach Alternativen befördern könnte. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft in beiden Gesellschaften und in der internationalen Diaspora hat eine neue Generation von Aktivist:innen und »Scholar-Practitioners« hervorgebracht, die neue Perspektiven und Energien auch in zivile Konfliktbearbeitung und transformative Friedensmediation einbringen werden.
Anmerkung
1) Mit Dank an die Redaktion von W&F, das Team des HKI sowie Oliver Fink, Sabine Jaberg, Gudrun Kramer, Lotte Kreissler und Wolfgang Weilharter für ihre Gedanken und Impulse.
Literatur
Birckenbach, H. M. (2014): Friedenslogik und friedenslogische Politik. Dossier 75, Beilage zu W&F 2/2014, S. 3-7.
Graf, W.; Wintersteiner, W. (2013): Auf den Wegen Herbert Kelmans. Interaktive Konfliktvermittlung im israelisch-palästinensischen Konflikt. wiener blätter zur friedensforschung, Heft 157, Dezember, S. 35-47.
Graf, W.; Kramer, G. (2016): Zwischen Scheitern und Neubeginn: Zivilgesellschaftliche Unterstützung des Friedensprozesses in Sri Lanka. In: Lakitsch, M.; Reitmair-Juárez, S. (Hrsg.): Zivilgesellschaft im Konflikt. Vom Gelingen und Scheitern in Krisengebieten. Wien: LIT-Verlag, S. 119-130.
Graf, W.; Kramer, G.; Fink, O. (2023): Critical Realism and Interactive Conflict Transformation: Connecting Integrative Metatheory, Multi-Dimensional Social Theory, and Transformative Practice. In: Pearson-d’Estree, T. (ed.): Shifting Protracted Conflict Systems Through Local Interactions. London u.a.: Routledge, S. 79-107.
Hirschfeld, Y. (2024): The Israeli–Palestinian Peace Process: A Personal Insider’s Account. Cham: Springer.
Jaberg, S. (2019): Frieden und Sicherheit. Von der Begriffslogik zur epistemischen Haltung. In: Werkner, I.-J.; Fischer, M. (Hrsg.): Europäische Friedensordnungen und Sicherheitsarchitekturen. Wiesbaden: Springer VS, S. 13-42.
Kelman, H. C. (2016): Resolving Deep-Rooted Conflicts: Essays on the Theory and Practice of Interactive Problem-Solving. (ed. by Werner Wintersteiner and Wilfried Graf). London u.a: Routledge.
Morin, E. (2023): Von Krieg zu Krieg. Von 1940 bis zur Invasion der Ukraine. (hrsg. und übers. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf). Wien: Turia + Kant.
Sturm, M. (2024): Identität ohne Feindbild. Von der Konfrontation zur Friedensvermittlung in Kärnten und in der Alpen-Adria-Region. Klagenfurt: Drava.
Urlić, I.; Berger, M.; Bergman, A. (2019): Opferdasein, Rachsucht und die Kraft der Vergebung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Zalzberg, O. (2019): Beyond Liberal Peacemaking: Lessons from Israeli-Palestinian Diplomatic Peacemaking. Review of Middle East Studies 53(1), S. 46-53.
Zalzberg, O.; Ravitzky, R. (2022): Negotiations in Heterogeneous Societies: Ratifying a Peace Agreement in Israel. Negotiation Journal 38(3), S. 501-521.
Wilfried Graf ist Direktor des Herbert C. Kelman Instituts für Interaktive Konflikttransformation (HKI) und Senior Researcher am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik (ZFF) an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (bis 2017) sowie am Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen an der Karl-Franzens-Universität Graz (ab 2017).
Werner Wintersteiner ist Gründer und ehemaliger Leiter des ZFF an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Mitglied im Leitungsteam des Universitätslehrgangs »Global Citizenship Education« und Mitglied des Vorstands des HKI.