Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Nachgefragt: Friedenslogik in Israel-Palästina?

Melanie Hussak und David Scheuing im Gespräch mit Vertreter*innen der Stiftung »die schwelle«, der Nahostkommission von Pax Christi sowie dem Regional­koordinator der KURVE Wustrow in Palästina/Israel.

In diesen Tagen wird von Organisationen der Friedensarbeit vielfach eine „Friedenslogik für Israel und Palästina“ gefordert – doch was bedeutet das? Bewusstes friedenslogisches Handeln in Zeiten eskalierter Gewalt ist keine einfache Aufgabe. Denn Friedenslogik ist voraussetzungsvoll1: Sie nimmt die Problematisierung der Gewalt zum Anlass, nicht die Bedrohung durch den*die Gegner*in; sie versucht sich an dialogorientierten, zivilen Konfliktinterventionen, nicht an militärischer Verteidigung und Abschreckung; sie richtet sich an gemeinsamen Interessen und international etablierten Normen aus, nicht an partikularen Interessen; sie etabliert Selbstreflexion, nicht Selbstbestätigung ohne Selbstkritik.
W&F hat drei Friedensorganisationen zu ihrer Arbeit vor Ort befragt. Ein Gespräch über Haltungen, Prinzipien, eigene Betroffenheit und den Umgang mit »shrinking spaces«.

W&F: Frau Klasing, Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Rösch-Metzler, angesichts der Gewalteskalation in Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg in Gaza stellt sich für viele in der Öffentlichkeit ganz unmittelbar die Frage, wie Frieden in dieser Situation, aber auch generell in Israel und Palästina hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Ihre jeweiligen Organisationen arbeiten seit vielen Jahren mit Partnerorganisationen friedenspolitisch in der Region. Wie wollen Sie mit Ihrer Arbeit beziehungsweise der Arbeit der Partnerorganisationen Frieden näherkommen?

Anette Klasing – »die schwelle«: »Die schwelle« als Friedensstiftung arbeitet zweigleisig. Zum einen machen wir Öffentlichkeitsarbeit für unsere Projekte und für unsere Friedensarbeit in Deutschland. Auf der anderen Seite sind unsere Partner, in diesem Fall seit einigen Jahren in Israel/Palästina die »Combatants for Peace«, vor Ort mit vielfältigen Aktivitäten und Programmen tätig. Unsere Stiftung wirkt mit der Öffentlichkeitsarbeit in Politik und Gesellschaft hinein, beispielsweise durch Veranstaltungen. Wichtig sind die Aktivitäten der Partner vor Ort. »Combatants for Peace« sind auch in Deutschland sehr bekannt geworden, gerade nach dem 7. Oktober. Viele Veranstaltungsformate haben Rotem Levin und Osama Illiwat in fast alle Großstädte in Deutschland geführt.

Ein wichtiges Projekt der letzten Jahre war die sogenannte »Freedom School«, die auch mit Mitteln der Europäischen Union unterstützt wurde. Die »Freedom School« hat über drei Jahre Jugendliche auf der israelischen wie auf der palästinensischen Seite durch Trainings und Seminare ausgebildet. Zunächst unilateral, das heißt israelische und palästinensische Jugendliche durchliefen getrennt die Trainings. Im weiteren Verlauf des Trainingsprogramms gab es dann gemeinsame Trainings in gewaltfreier Kommunikation, gewaltfreier Konfliktbearbeitung und der Frage des gewaltfreien Widerstands. Drei Themenbereiche, die in diesen Trainingsprogrammen hervorragend gelaufen sind. Vor dem 7. Oktober haben wir mit Rana Salman ein Gespräch geführt über die »Freedom School«. Sie war damals so froh, dass es gelungen war, Jugendliche aus der Region Nablus und Jenin für die Freedom School zu erreichen. Denn im Norden der Westbank, in Nablus und Jenin, hatte es in den letzten Monaten vor dem 7. Oktober eine durchaus aufgeladene, gewaltbereite Stimmung und Situation gegeben – verschiedenste militante Gruppen hatten sich in der Region gebildet und »Combatants for Peace« war es wichtig, auch junge Menschen dort für ihre Arbeit zu erreichen.

Das ist natürlich nur ein Ausschnitt. International bekannt geworden sind die »Joint Memorial Ceremonies«, die in den letzten Jahren in Tel Aviv stattfanden, teilweise mit Übertragungen nach Ramallah oder auch Beit Jala. Die Gedenkfeiern haben den Grundgedanken der Anerkennung der Narrative und der Opfer auf beiden Seiten, die Anerkennung der Verluste. Ich war im April 2023 bei der Gedenkfeier zu Gast und ich habe lebhaft in Erinnerung, dass die stellvertretende Direktorin der Tel Aviv Universität eine großartige Rede hielt, in der sie die israelische Gesellschaft aufforderte, das Leid der palästinensischen Bevölkerung anzuerkennen. Gesellschaft und Politik müssten anerkennen, dass es die Nakba gegeben habe und auch die Folgen sehen. Also diese großen Zeremonien, die der Opfer beider Seiten gedenken, das ist ein ganz wichtiges Moment der Arbeit unserer Partner.

Eine dritte Säule sind die humanitären und politischen Hilfen, wie die Wasserversorgung in den Beduinendörfern oder der Wiederaufbau von zerstörten Häusern. Beim letzten Besuch waren wir in einem Beduinendorf im Jordantal, wo die Partner einen Kindergarten und eine Schule wieder aufgebaut hatten, die vorher von der Armee zerstört worden waren. Diese konkreten humanitären und friedenspolitischen Hilfen sind ebenfalls ein wichtiges Instrument.

Wiltrud Rösch-Metzler – Nahostkommission Pax Christi: Pax Christi setzt sich dafür ein, dass die Menschenrechte und das Völkerrecht zuerst die wesentlichen Elemente sind, die eingehalten werden müssen. Wir sind überzeugt, dass das ein erster Schritt ist, wie man Konflikte reduzieren kann. Als Zweites setzen wir uns ein für ein Ende der Besatzung, zusammen mit unseren Partnern vor Ort. Wir setzen uns ein für gewaltfreie Konfliktlösungen – allerdings ist es schwierig, hier in der deutschen Gesellschaft nun die gewaltfreien Konfliktlösungen, die von Palästinenser*innen entwickelt wurden, zur Sprache zu bringen, es wird einem schnell Antisemitismus vorgeworfen. Drittens setzen wir uns für eine israelisch-palästinensische Verständigung ein – wir möchten, dass unsere christlichen Brüder und Schwestern aus Palästina hier ein Gesicht haben und dass sie hier beteiligt werden am christlich-jüdischen Dialog.

Dario Rossi D’Ambrosio – KURVE Wustrow Regionalkoordinator: In Palästina/Israel arbeiten wir im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes mit sechs Partnerorganisationen zusammen. Die vier schon länger etablierten Partnerschaften bestehen mit dem Frauenkollektiv in Al-Walajah, das ist ein von der Mauer umgebenes Dorf zwischen Jerusalem und Bethlehem. Dann arbeiten wir mit »Youth of Sumud« zusammen, einem Jugendkollektiv an der Basis. Drittens arbeiten wir mit dem »Human Rights Defenders Fund«, einer israelischen NGO, in der sowohl Palästinenser*innen als auch Israelis zusammenarbeiten. Und viertens mit »Zochrot«, einer israelischen NGO mit Sitz in Jaffa, ebenfalls mit gemischtem Personal. Unsere Arbeit ist die Unterstützung der Partner, wir haben keine eigene Arbeit in der Region. Die Ansätze der Partnerorganisationen sind unterschiedlich. Die Konzentration auf Graswurzelaktivismus für Gewaltfreiheit und für eine gewaltfreie Lösung des Konflikts ist der gemeinsame Nenner der Arbeit. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den palästinensischen Partnern, die nicht einmal NGOs sind, sondern nur Gruppen von Aktivist*innen. Deren Hauptpriorität ist die Beendigung der Besatzung und die Erlangung der Selbstbestimmung als Palästinenser*innen. Das heißt in der täglichen Praxis, die Landnahme und die gewaltsame Vertreibung von palästinensischen Gemeinschaften als ersten Schritt zu stoppen. Denn ohne diesen Schutz gibt es keine Palästinenser*innen und kein palästinensisches Land mehr. Das ist also die Grundlage und Voraussetzung für jede Art von Verhandlungslösung oder politischer Lösung des Konflikts, der im Wesentlichen ein Konflikt um Land ist. Das ist jetzt sehr verkürzt, aber es ist der Kern des Problems.

Aus der Perspektive der israelischen Partner ist es ein bisschen anders. »Human Rights Defenders Fund«, zum Beispiel, konzentrieren sich stark auf die Menschenrechte als universelle Werte. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf der Unterstützung von Menschenrechtsverteidiger*innen. »Human Rights Defenders Fund« arbeiten nur auf der israelischen Seite, sie verteidigen also Menschenrechtsverteidiger*innen »nur« vor israelischen Behörden und Gerichten. Ihr Hauptansatz ist die juristische Ausbildung und Rechtshilfe für Menschenrechtsverteidiger*innen. Bei »Zochrot« ist der Ansatz ein bisschen anders, weil es mehr um Bildung geht. Ich würde es zwar nicht Friedensbildung nennen, es ist mehr soziale oder historische Bildung. Der Schwerpunkt liegt auf dem Rückkehrrecht der Palästinenser*innen. Sie versuchen aber nicht nur über die Vergangenheit aufzuklären, sondern auch Bildungsarbeit über die mögliche Zukunft von Palästinenser*innen und Israelis zu machen.

Zusammengefasst reicht die Arbeit unserer Partner*innen also von Graswurzel­aktivismus gegen die Besatzung, über Sumud, also Standhaftigkeit auf dem Land, bis hin zu mehr pädagogischem und politischem Engagement für das Recht auf Rückkehr, was offensichtlich auch ein sehr heikles Thema ist, sowohl in Israel als auch in Europa.

W&F: Wie sieht die Friedensarbeit jetzt konkret inmitten des Kriegs aus? Wie können Sie oder Ihre Partnerorganisationen inmitten der Gewalteskalation zur Deeskalation beitragen und weitere Eskalation verhindern?

Rösch-Metzler: Zum einen arbeiten wir hier in Deutschland, indem wir Druck auf die Bundesregierung ausüben. Und jetzt, nach sechs Monaten Krieg, war es möglich, dass auch die Bundesregierung für einen Waffenstillstand eintritt. Das ist ein erster Schritt, so etwas zu erreichen. Diese Druckarbeit braucht sehr viel Kraft und Zeit in Deutschland. Wir machen auch Advocacyarbeit im Parlament und bei Regierungsstellen mit unseren Partnern aus Israel und Palästina. Wir suchen auch hier in Deutschland Bündnisse zu schmieden – wer vor sechs Monaten noch für einen Waffenstillstand eingetreten ist, der ist oft angegangen worden, geschmäht worden, diffamiert worden. Inzwischen kann man sagen, dass die internationale Gemeinschaft sich darauf verständigt hat, dass das notwendig ist in Gaza. Aber daran sieht man eben auch, wie lange es braucht. Man muss durchhalten, man muss auf der Straße sein. Und Reisen von unseren Partnern hier nach Deutschland ermöglichen.

Sehr wichtig ist uns auch, dass wir in einem internationalen Programm vom Weltkirchenrat tätig sind. Das ist das »Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel«, wo unsere Leute vor Ort mit den Hirten oder mit den Schulkindern mitgehen und durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass sie nicht von Siedler*innen angegriffen werden, um die Situation einigermaßen erträglich für die Palästinenser*innen zu machen.

W&F: In den letzten Monaten vor dem Angriff der Hamas gab es auch eine große Staatskrise in Israel. Wie berichten denn Ihre Partnerorganisationen darüber? Wie hat sich in der Zwischenzeit die Friedensarbeit verändert und gab es mehr Druck auf Friedensarbeitende?

Klasing: Ja, bei den »Combatants for Peace« hat sich die Friedensarbeit deutlich verändert. Nicht vom Grundsatz und von der Haltung her – all diejenigen, mit denen wir gesprochen haben in den letzten Monaten, treten ganz entschieden weiter gemeinsam für eine gewaltfreie Transformation und für eine gerechte Friedenslösung ein. Aber konkret »on the ground« hat sich die Arbeit natürlich sehr verändert. Man muss zunächst sagen, dass unsere Partner*innen auf beiden Seiten Verluste zu beklagen haben, tatsächlich auch Menschen getötet worden sind, ihr Leben gelassen haben durch diesen Krieg. Das macht was, natürlich auch mit den Menschen der Friedensorganisationen. Wir haben absolut Respekt, dass gerade diejenigen, die direkt betroffen sind von Tod und Gewalt, so entschieden sind, aus ihrer Haltung heraus weiter mit der jeweiligen anderen Seite zu arbeiten. Ich konnte teilweise bei Webinaren dabei sein, bei denen es darum ging, sich auszutauschen, zuzuhören, ganz konkrete Erfahrungen des Verlusts und des Todes zu schildern und zu hören. Das ging sehr nah und gleichzeitig haben auch diese betroffenen Personen immer wieder bekräftigt, wie wichtig ihnen eine gewaltfreie Konfliktlösung ist. Dass sie gesagt haben: „Es geht gar nicht anders, wir müssen alles dafür tun, dass diese Gewalt sofort stoppt und dass wir wieder in die Verhandlung eintreten.“ Diese Gespräche des Zuhörens und Sprechens waren und sind ein unglaublich wichtiges Instrument im Moment.

Die grenzübergreifenden Treffen sind derzeit sehr schwierig. Ich weiß aus Bethlehem, dass das Militär selbst bis nach Bethlehem hinein dafür sorgt, dass auch Treffen innerhalb der eigenen Communities kaum noch möglich sind. So weit geht im Moment die militärische Intervention auch in kleinen Städten wie Bethlehem. Das ist der eine Punkt, an dem sich die Arbeit sehr deutlich und konkret geändert hat, weil die Bedingungen einfach gar nicht mehr zulassen.

Daher waren auch Rotem und Osama von »Combatants for Peace« viele Monate bei uns in Deutschland. Sie haben immer wieder gesagt: „Wir müssen den Diskurs in Deutschland auch mit unseren Geschichten, Narrativen und Perspektiven ändern.“ Obwohl wir als Stiftung eigentlich nicht viel mit Schul- und Bildungsarbeit zu tun haben, wurden wir mehrfach von Schulen angesprochen. Wir haben vor Weihnachten mit Rotem und Osama, und jetzt auch ohne sie, Workshops in Schulen durchgeführt, weil die Lehrkräfte sehr überfordert schienen und darum gebeten haben, durch externe Unterstützung all die aufgeladenen emotionalen Atmosphären, die zu Polarisierungen geführt haben, aufzubrechen und in Gespräche zu kommen. Ich habe gerade vorletzte Woche einen wunderbaren Workshop gemacht in einem Schulzentrum mit Jugendlichen, die sich klasse vorbereitet haben mit exzellenten Fragen. Die Jugendlichen waren am Ende sehr froh und haben gesagt: „Mensch, wir konnten ja alles sagen.“ Es waren viele junge Frauen mit libanesischer Migrationsbiographie in der Schule, die sagten: „Wir haben uns nicht getraut, vorher zu sprechen. Aber wir konnten in dem Workshop das sagen, was uns durch den Kopf geht und was uns im Magen liegt.“ Das ist ein wichtiger Auftrag, den wir auch zu leisten haben und auch leisten können.

Rossi D’Ambrosio: Bevor ich direkt auf die Frage antworte, will ich noch etwas ergänzen. Die KURVE Wustrow arbeitet nicht in Gaza. Von dem, was ich von der Situation vor Ort verstanden habe, ist die Situation jenseits des Vorstellbaren. Es geht vor allem um: Sofortigen Waffenstillstand, humanitäre Hilfe und sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln. Ich glaube nicht, dass es darüber hinaus noch etwas zu sagen gibt.

Das hängt nun natürlich auch mit den Ansätzen sowohl in Israel als auch im Westjordanland zusammen. Das ist sehr wichtig – es geht auch aus dem hervor, was Wiltrud und Annette vorhin gesagt haben – nämlich, dass Krieg keinen Unterschied zwischen Menschen macht. Es geht also offensichtlich um den Verlust auf beiden Seiten. Es scheint irgendwie trivial, aber – wenn wir mal für einen Moment die systematische Asymmetrie und das Ungleichgewicht außer Acht lassen – die Art der Ereignisse haben bewiesen, dass es am Ende des Tages für beide Seiten und für jeden auf beiden Seiten Verluste gibt.

Um auf die konkrete Frage und auf unsere Partner einzugehen: Auch wenn wir uns alle über den längeren Konflikt und systemische Probleme bewusst waren, die wir gemeinsam mit unseren Partnern seit Jahren anzugehen versuchen, schien es nun in den Medien so, als sei dieser Krieg plötzlich ausgebrochen, und das hatte einen Effekt auf die Menschen und hat viele stärker polarisiert als vorher. Diese Polarisierung in der Gesellschaft im Allgemeinen und in beiden Gesellschaften, wenn man sie denn bei aller Komplexität in zwei unterteilen will, hat den Raum für die Zivilgesellschaft schrumpfen lassen. Das geht schleichend schon seit Jahrzehnten so, würde ich sagen, aber nun nochmal deutlicher. Jede friedliche oder zur friedlichen Lösung aufrufende Handlung, das Sprechen über Menschenrechtsverletzungen, das Sprechen über antimilitaristische Positionen, Kriegsdienstverweigerung usw. − also die ganze Palette der gewaltfreien Mittel und Ansätze zur Konfliktbewältigung sind mit Unterdrückung konfrontiert. Das ist die Art und Weise, wie dieser »shrinking space« entsteht. Das passiert sowohl in Israel, im Westjordanland als auch in Europa, leider. Und besonders in Deutschland.

Was also mit unseren Partnern passiert ist: Sie haben sich auf sehr grundlegende Dinge konzentriert, um weiterzumachen. Diese allgemeine Polarisierung führte dazu, dass sich die Menschen zurückgezogen haben und versuchten, auf sich selbst aufzupassen und trotzdem Räume für den Dialog offen zu halten. Es ging dabei wirklich um die Grundbedürfnisse, sowohl die materiellen als auch die psychologischen Bedürfnisse der Aktivist*innen selbst und der Gemeinschaften, die aufgrund der Polarisierung der Gesellschaften und auch der autoritären Diskurse auf politischer Ebene mit zunehmender Gewalt konfrontiert wurden. Es gab also so etwas wie einen Rückzug oder ein Zurückweichen, weil der Druck zunahm. Die Reaktion war also: „Wir sollten versuchen, uns um uns selbst und unsere Aktivist*innengemeinschaften zu kümmern, um weitermachen zu können und immer noch zu Waffenstillstand, Frieden und Gewaltfreiheit usw. aufrufen zu können“. Es ist eine Art von heroischer Sichtweise von Friedensaktivist*innen, wenn man meint, dass sie vor allem in Zeiten der Eskalation »an der Front« sind und für ihre Anliegen kämpfen. Es ist nicht wirklich so, denn jede*r ist betroffen und besonders Friedensaktivist*innen sind meistens verschiedentlich betroffen.

Rösch-Metzler: Ich wollte gerne aufbauend auf Dario noch etwas sagen zum »shrinking space«, vor allem in Deutschland. Das ist teilweise unglaublich: Die Evangelische Akademie Frankfurt hatte auch Rotem und Osama von den »Combatants for Peace« eingeladen, hatte die Veranstaltung aufgezeichnet – und hat diese Aufzeichnung dann wieder aus dem Netz genommen, weil sie irgendwie kritisiert wurden, dass das antisemitisch sei, was dort passiert. Nur um zu illustrieren, wie schwer es ist, gewaltfreien Widerstand hier in Deutschland auch zu Wort kommen zu lassen.

W&F: Da Sie alle diese Dimension des »shrinking space« und auch die Herausforderung, sich auf einer der beiden Seiten des Konflikts positionieren oder solidarisch zeigen zu müssen, angerissen haben: Wie gehen Ihre Organisationen mit dieser Form um, »doppelt« herausgefordert zu sein – dass sie einerseits immer wieder aufgefordert werden, sich zu positionieren, und andererseits sich auch positionieren wollen?

Rossi D’Ambrosio: Die KURVE Wustrow muss sich nicht so sehr mit dieser Positionierungsfrage beschäftigen, wir können uns auf unsere Unterstützungsarbeit konzentrieren. In gewisser Weise denke ich, dass es ziemlich einfach ist: Ich glaube nicht, dass unsere Partner komplexe oder versteckte Absichten oder Positionen haben. Ich denke, es ist ziemlich klar und sogar öffentlich, was ihre Positionierung ist. Ich möchte jetzt nicht künstlich zwischen den Kontexten unterscheiden, denn auch das ist problematisch, aber offensichtlich geht es jetzt gerade in Gaza darum, eine akzeptable Situation für alle Menschen zu schaffen. Es geht also um humanitäre Grundsätze. Es geht nicht darum, dass wir nicht über Frieden oder Friedensaufbau in der Zukunft sprechen können. Es geht um die Sicherstellung menschlicher Grundbedürfnisse und im weiteren Kontext um die Grundprinzipien des Völkerrechts. Ich glaube nicht, dass es kompliziert ist. Ich denke, dass diese Anliegen, wie unser Partner »Human Rights Defenders Fund« feststellt, über Flaggen und Nationen hinausgehen. Es geht also nicht darum, Palästinenser*in oder Israeli zu sein oder um einen bestimmten nationalen Kampf. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung, Punkt. Es geht nicht um palästinensische Zivilist*innen. Es geht nicht um israelische Zivilist*innen. Das ist nicht der Punkt. Es ist eine universelle Frage.

Ich glaube nicht, dass unsere Partner ein Problem damit haben, sich zu positionieren, es sei denn, es herrscht ein Klima der Kriminalisierung und der »shrinking spaces«. Denn das ist in Israel schon ein Problem, dass es eine Kriminalisierung von Friedensaktivismus gibt – beispielsweise wird Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen immer noch kriminalisiert. Der »Human Rights Defenders Fund« versucht Kriegsdienstverweigerer*innen rechtliche Hilfe und Repräsentation anzubieten. Ein Problem, das ich infolge des Ausbruchs des Konflikts und der Polarisierung der Gesellschaften schon sehen würde, ist, dass es viele Menschen gab, die vielleicht über die Besatzung sprachen oder versuchten, die Zusammenhänge auf komplexere Weise zu verstehen, die sich dann aber wegen des Ausbruchs der Gewalt zurückzogen und in ihre Komfortzone zurückkehrten und sagten: Ah, okay. Ihr wisst schon, wir gegen sie. Es gibt keinen anderen Weg.“ Es gibt also weniger Einwände gegen den Militärdienst. Das ist zum Beispiel eine der Folgen der Eskalation. Ich verstehe dieses Positionierungsproblem nicht als ein Problem mit der Arbeit und der Positionierung der Organisation selbst, sondern dass sie die Konsequenzen in der Gesellschaft sehen können; dass es immer schwieriger für die Menschen wird, wie sie diese moralische Dimension navigieren können, in der sie eigentlich kritisch darüber nachdenken wollen, was die Armee tut und in diesem emotionalen Zustand »wir gegen sie« ihre jeweilige individuelle Position finden müssen.

Klasing: Was ich sehr deutlich wahrgenommen habe in dem Gespräch mit unseren Partnern zum Thema „Wie kann man eigentlich in diesem so gewalttätigen Konflikt jetzt noch Gespräche aufrechterhalten? Wie können wir eigentlich noch Menschen erreichen?“ ist, dass diese Gespräche in den Webinaren wichtig sind, um auch die emotionalen Belastungen aufzufangen, diese besprechbar und bearbeitbar zu machen. Interessant fand ich auch im Gespräch mit Rotem in Deutschland, dass er sagte, dass man jetzt in der Lage sein muss, es aushalten zu können, angegriffen zu werden. Er wurde häufiger auf Veranstaltungen angesprochen, nach dem Motto: „Wie, du bist Israeli, du musst doch jetzt ein bisschen auch mal die Politik deines Staates vertreten.“ Die Grundüberzeugung, dass der Krieg und diese Gewalt ein falscher Weg ist, das bringt schon Gegenwind mit sich. Rotem sagte: „Ich bin Pazifist, ich nehme kein Gewehr in die Hand“.

Dieses Aushalten von Angriffen kann dann auch mal innerfamiliär zum Tragen kommen. Er hat von Konflikten berichtet, z.B. dass sein Zwillingsbruder sich genau anders verhalten hat, sich sofort nach dem 7. Oktober freiwillig gemeldet hat und dann zur Armee in den Gazastreifen gegangen ist zum Kämpfen. Dies innerhalb einer Familie aushalten zu können und nicht komplett den Bruch herbeizuführen, ist schwer. Das ist auch noch mal ein ganz anderes »Aushalten müssen« als das, was wir bei uns erleben.

Selbstverständlich hören wir als »schwelle« immer wieder: „Auf welcher Seite steht ihr denn?“ Oder: „Seid ihr mehr für die israelische oder mehr für die palästinensische Seite und Perspektive?“ Bei unserer letzten Ausstellungseröffnung »Inhabitated Spaces«, bei der viele Fotos von Kindern und Jugendlichen aus Gaza von vor dem 7. Oktober gezeigt wurden, war das Interesse auch der Medien sehr groß. Die erste Frage, die ich bekam im Interview, war dann: „Warum zeigen Sie denn hier nicht die israelische Seite?“ Natürlich kann ich erklären, dass eine Ausstellung, die schon vor dem 7. Oktober geplant wurde und das Leben von Kindern und Jugendlichen in Gaza zeigen will, nicht bedeutet, dass wir uns nicht interessieren für das, was auf der israelischen Seite los ist. Dass es nicht automatisch bedeuten muss, parallel eine Ausstellung von Bildern von Kindern und Jugendlichen im israelischen Alltag zu zeigen.

Zurück zu der Frage, wie wir mit dieser Anforderung umgehen, sich positionieren zu müssen, will ich noch sagen – und das haben ja auch Dario und Wiltrud sehr deutlich zum Ausdruck gebracht – dass wir uns für die Menschenrechte, für ein Leben in Würde und für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Aus dieser Perspektive heraus gehen wir an diese Instrumente, die wir einsetzen, ran. Aber ich denke trotz alledem, dass das, was unsere Kolleg*innen vor Ort aushalten müssen, um ein Vielfaches schwieriger ist als das, was wir an Anforderung tragen und ertragen müssen.

Rösch-Metzler: Für Pax Christi ist diese Positionierung sehr wichtig. Wir tun das in öffentlichen Stellungnahmen. Klar ist: Wir sind gegen Krieg. Und wir sind für internationales Recht. Das heißt, wir betrachten das Leid, das durch Krieg und Kriegsverbrechen auftritt. Und so positionieren wir uns auch. Jetzt haben wir uns zuletzt eingesetzt für die UNRWA, für das Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser*innen, damit die Hilfe in Gaza eben nicht gestoppt wird, die Zuschüsse der Bundesregierung für die UNRWA nicht gestoppt werden, wie sie es beschlossen hat. Da haben wir uns zum Beispiel sehr klar positioniert.

Und wenn man so schlimme Gewalt beobachtet, dann geht es ja vielen Menschen so, dass es sie umtreibt, dass sie was tun möchten. Deshalb ist es auch wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. Da haben wir zum Beispiel beim Weltgebetstag der Frauen eine ganz kleine Aktion gestartet, dass man eine Unterschriftenaktion macht an die Außenministerin für einen Waffenstillstand. Es haben sehr viele Frauen unterschrieben, einfach normale Frauen, denen das auch nachgeht, dass immer weiter bombardiert wird, dass Gaza vor einer Hungersnot steht. Ja, Beteiligungsmöglichkeiten schaffen ist ein wichtiger Punkt, finde ich.

Rossi D’Ambrosio: Einen kurzen Punkt zum Thema »Defunding« möchte ich einbringen, da du, Wiltrud, es erwähnt hast – es hat mich an die Finanzierung der Zivilgesellschaft denken lassen. Das ist offensichtlich eines der wichtigsten Phänomene des »shrinking space«. Wenn die Akteure vor Ort keine extremistischen Positionen einfordern, sondern für Menschenrechte und internationales Recht und Aufruf zum Frieden und all die Werte, die in der Theorie alle europäischen Staaten auch teilen, eintreten – dann können wir eine deutliche Spannung feststellen zwischen den erklärten Werten der europäischen Staaten und der Art und Weise, wie und wen sie in verschiedenen Kontexten finanzieren. Wenn man sich anschaut, wie viele Mittel für Militärhilfe ausgegeben werden und nicht für Friedensinitiativen oder gewaltfreie Initiativen oder zivilgesellschaftliche Arbeit usw. Ich meine, wenn wir auf Zahlen schauen, dann wird schnell klar werden, dass schon die Kosten für nur einen einzigen Kampfjet bereits die zur Verfügung stehenden Geldmittel aller zivilgesellschaftlichen Organisationen übersteigen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Wir reden hier also nicht über die gleichen Dinge oder über die gleiche Fähigkeitsausstattung. Was ich sagen will, ist, dass man die strukturelle Ebene betrachten muss und dann geht es um den Möglichkeitsraum der Zivilgesellschaft. Wenn dieser Raum schrumpft und man nicht über die Dinge reden kann, wie kann man dann die Staaten beeinflussen? Das ist eine Art Kurzschluss. Deshalb ist diese Debatte über den »shrinking space« so wichtig. Denn letztendlich geht es um die internationale Verantwortung und wie man internationales Recht durchsetzen kann. Dabei geht es ganz allgemein um Staaten in ihrem Umgang mit einem anderen Staat. Es geht nicht um Israel oder Palästina. Es geht um etwas Allgemeines. Es geht um das internationale multilaterale System, das auf diesem System basiert. Wenn es keine internationale Rechenschaft gibt, die Menschenrechts-NGOs einfordern können, wie soll man dann das internationale Recht durchsetzen?

W&F: Sie alle können auf umfangreiche Erfahrungen in der Friedensarbeit in Konflikt- und Gewaltsituationen zurückgreifen. Wie fließen diese Lernerfahrungen in Ihre aktuelle Arbeit in dieser Gewaltsituation ein?

Rossi D’Ambrosio: Ich denke, es ist eine sehr einfache Antwort in dem Sinne, dass unsere Partner, mit denen wir im Zivilen Friedensdienst zusammenarbeiten, sich in Zeiten der Eskalation auf das Wesentliche besonnen haben – und sie konnten aus der Vergangenheit lernen, zum Beispiel der »Human Rights Defenders Fund«. Sie sind zum Beispiel auf juristische Schulungen bzw. Rechtshilfe für Aktivist*innen spezialisiert. In Zeiten der Eskalation kam es zu einer Zunahme der Repression und des Autoritarismus, d.h. der Unterdrückung von Menschenrechtsverteidiger*innen, was wiederum bedeutete, dass die Anfragen nach Trainings zunahmen, weil die Leute Angst hatten, was mit ihnen passieren würde. Da »Human Rights Defenders Fund« bereits über jahrelange Erfahrung mit Trainings verfügt und weiß, wie man sich gegenüber den Behörden verhält, wie man sich selbst schützen kann usw., konnten sie die Erfahrungen der vergangenen Jahre nutzen.

Das Gleiche gilt zum Beispiel für »Zochrot«. Auch das Friedenslager in Israel hat Verluste erlebt. Die Leute waren persönlich betroffen, sie hatten Freund*innen, die sie verloren haben, usw. Und dann ist es natürlich eine Sache, als Palästinenser*in oder Israeli mit dem anderen zu arbeiten, der*die seit Jahren dein*e Kolleg*in war, aber dann ist er oder sie plötzlich Teil der »anderen Gruppe«. Das ist dann eine sehr komplizierte Situation. Aber sie gingen zurück zu den Grundlagen und haben sich ausgetauscht, darüber geredet und sich wieder auf ihre Gemeinschaft und auf das Wissen verlassen, das sie in den letzten Jahrzehnten produziert haben.

Bei den palästinensischen Partnern ist es eine ähnliche Erfahrung. Natürlich sind die Grundlagen insofern anders, als es bei ihnen zu physischen Aggressionen und Übergriffen durch das israelische Militär und die Siedler*innen kam. In dieser Hinsicht ist es also eine ganz andere Erfahrung. So mussten sie einen Schritt zurücktreten und sich sammeln. Denn offensichtlich wurde die Überwachung der Menschenrechtslage und die Dokumentation sogar gefährlich. Also begannen sie, mehr humanitäre Arbeit zu leisten. Aber weil sie bereits in der Vergangenheit in ihren Gemeinden Erfahrungen gesammelt hatten – und das ist die Stärke des Graswurzelaktivismus, weil man in der Gemeinde gut verankert ist, Verbindungen hat usw. – konnten sie mehr für die Grundbedürfnisse wie Lebensmittelkörbe und Spenden bereitstellen.

Klasing: Wenn ich in die Stiftung »schwelle« hineinschaue, muss ich sagen, dass wir uns beginnend mit dem Krieg in der Ukraine, also schon im Frühjahr 2022, sehr viel Zeit genommen haben im Kuratorium und im Freundeskreis unserer Stiftung, um zu sprechen. Denn damals schon haben wir massive Erfahrungen gemacht mit Angriffen von außen, auch weil wir unser Prinzip der Gewaltfreiheit weiter aufrechterhalten haben. Wir haben anderthalb Jahre lang um Positionen gerungen, bis es uns gelungen ist, ein gemeinsames Selbstverständnispapier zu entwickeln. Das haben wir in den letzten Monaten angeschaut und uns gefragt: „Was ist von diesen Grundannahmen und Grundeinstellungen genauso wichtig, wenn wir auf diesen Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza schauen? Was sind für uns grundsätzliche Positionen, die wir auf jeden Fall beibehalten? Wo müssen wir auch Dinge noch mal modifizieren?“ Das heißt, wir haben uns mit den Essentials der Friedensarbeit beschäftigt und sehr viel diskutiert, wie schon lange nicht mehr in der Stiftung.

Was unsere Partner und die Frage nach Evaluationen betrifft: Für sie bedeutet die Frage der Cross Border Arbeit noch mal eine ganz andere Herausforderung in Zeiten des Angriffs auch aus den eigenen Gesellschaften. Also der Begriff »Verräter*in« kommt immer wieder auf beiden Seiten vor und beide Partnerseiten haben damit zu tun, dass sie auch massivst angegriffen werden. Gerade die Frage – die vor dem 7. Oktober immer virulent war – um die Normalisierung von Beziehungen, die in der palästinensischen Gesellschaft zutiefst kritisch angeschaut wurde, bei der sich viele unserer Partner immer auch erklären mussten, warum Friedensarbeit nur mit dem »Feind« auf der anderen Seite geht: hier gibt es selbstkritische Evaluationsprozesse. Da ist die Arbeit in der eigenen Zivilgesellschaft ebenso wichtig.

W&F: Frau Klasing, eine Rückfrage: Sie haben gesagt, in der Stiftung sei viel diskutiert worden. Was war denn das Ergebnis der Diskussionen? War es eine Bestärkung der bisherigen Arbeit oder kamen neue Aspekte hinzu?

Klasing: Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine gab es durchaus auch kleine, feine Nuancen der Änderung, also bspw. im Hinblick auf die Frage des Selbstverteidigungsrechts. Im Hinblick auf unsere Diskussion über Israel und Palästina würde ich sagen, dass das Kuratorium einhellig der Meinung ist, dass das, was Israel als Selbstverteidigungsrecht beschreibt – also, dass der Krieg Selbstverteidigung gegen die Hamas sei – keiner von uns mitträgt. Da sind wir schon sehr einig miteinander, dass das, was Israel dort angerichtet hat und immer noch anrichtet, weit über Selbstverteidigung hinausgeht. Es kann nicht sein, dass man kollektiv tötet, wenn man die Hamas-Attentäter finden will – da muss man schon völkerrechtliche Instrumente und Rechtswege beschreiten. Wir sehen das auch bei uns in Europa, dass in bestimmten Zusammenhängen – ich denke da z.B. an Frankreich – mittlerweile bei Attentaten gezielt getötet wird. Dieses gezielte Töten sofort »on the spot« scheint um sich zu greifen. Wir sagen, dass rechtliche und völkerrechtliche Standards auf jeden Fall gesichert werden müssen. Und dass es nicht sein kann, dass Staaten sich darüber hinwegsetzen.

W&F: Herr Rossi D’Ambrosio, Frau Klasing, Frau Rösch-Metzler, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Anmerkung

1) »Friedenslogik« als ein zu füllendes Handlungskonzept wird maßgeblich von Prof.in Dr.in Hanne-Margret Birckenbach entwickelt und über die AG Friedenslogik der PZKB vorangebracht. Siehe dazu: pzkb.de/friedenslogik. Bei W&F ist auch ein ausführliches Dossier erschienen, Dossier 75 »Friedenslogik statt Sicherheitslogik« (Beilage zu W&F 2/2014).

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Israel-Gaza jenseits des Genozid-Begriffs

Massengewalt gegen Zivilist*innen jetzt beenden

von Hanna Pfeifer, Irene Weipert-Fenner und Timothy Williams

Deutsche Debatten über den Israel-Gaza-Krieg verfangen sich oft in polarisierenden Begrifflichkeiten. Das gilt insbesondere für den Streit um das Vorliegen eines Genozids. Abgesehen von der juristischen Einschätzung, die derzeit der Internationale Gerichtshof vornimmt, lenkt eine parallel laufende, polemische Diskussion um den Völkermordbegriff von den eigentlichen Handlungsprioritäten ab. Der Krieg kostete schon Zehntausende das Leben, noch viel mehr Palästinenser*innen werden an direkten und indirekten Kriegsfolgen sterben. Die Massengewalt gegen Zivilist*innen und der Entzug von Lebensgrundlagen in Gaza müssen sofort beendet werden – unabhängig davon, ob juristisch die Bedingungen für einen Genozid erfüllt sind.

Ein halbes Jahr nach den Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit den bis heute anhaltenden Geiselnahmen und der daraufhin begonnen israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen machen es die Strukturen des deutschen Kriegsdiskurses (vgl. Pfeifer und Weipert-Fenner 2023) schwer, eine angemessene sprachliche Form für begangene und mögliche Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen aller Parteien zu finden. Besonders viel politische Sprengkraft birgt in diesem Zusammenhang der Vorwurf des Genozids – vor allem, wenn er gegen Israel erhoben wird, und gerade, wenn er in Deutschland in den Raum gestellt wird.

Hier überlagern sich unterschiedliche, tradierte Motive von Exzeptionalismus: der Holocaust als Urtyp des Völkermordes, der nicht mit anderen Arten der Gewalt zu vergleichen sei; die deutsche Schuld, aus der sich eine besondere Verpflichtung zur Verteidigung Israels als „sicherem Ort für Jüdinnen und Juden“ ableite.

Die Möglichkeit eines Völkermordes durch den israelischen Staat wird im deutschen Diskurs (dazu Gunkel 2023) mal kategorisch ausgeschlossen, mal mit einem Verweis auf die genozidalen Züge der Hamas-Anschläge abgewehrt (vgl. Bundesregierung 2024; Steinke 2023). Manchmal provoziert der Vorwurf des Genozids auch eine Art „lautes Schweigen“ (Bax 2024) – sei es als Strategie, das totzuschweigen, was nicht sein darf; sei es als Ausdruck des Unbehagens vor dem Hintergrund der historischen Schuld Deutschlands (vgl. Berins 2024); sei es aus einem empfundenen Mangel an Urteilsvermögen bezogen auf einen undurchdringlichen Konflikt und aus der Angst, in dieser aufgeladenen Frage das Falsche zu sagen.

Angemahnt wird, die Lehren aus der deutschen Geschichte müssten in ihrer Universalität begriffen werden und Anwendung finden (vgl. Krell 2023). Das deutsche „Nie wieder!“ müsse sich grundsätzlich auf die schlimmsten Formen von Gewalt gegen Menschen beziehen (Bax 2023). Wenn aber auf Demonstrationen oder bei kulturellen Großereignissen in Deutschland gefordert wird: „Genozid in Gaza stoppen!“, dann steht schnell der Vorwurf des Antisemitismus im Raum.

In solchen Fällen löst die Verwendung des Begriffs »Genozid« eine Polarisierung in zwei Lager aus und führt in der Folge zum Diskursabbruch (Grimm 2024). Weil Genozid aber als »Verbrechen aller Verbrechen« oder als das ultimativ Böse gilt, sind die Anreize entsprechend hoch, sein Vorliegen zu beweisen – oder es zu bestreiten.

Das Einzigartige des Völker­mords: Die genozidale Intention

Es steht auch deshalb viel auf dem Spiel, weil die Feststellung eines Genozids, im Gegensatz zu anderen Gewaltakten, juristisch ein Eingreifen der Staatengemeinschaft nach sich zieht. Auf dieser Grundlage hat Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wegen Völkermords Klage gegen Israel eingereicht. Der IGH ordnete daraufhin sechs vorläufige Maßnahmen an, die Israel ergreifen muss, um einen möglichen Völkermord zu verhindern (IGH 2024), die nur unzureichend umgesetzt und Ende März um weitere Maßnahmen ergänzt wurden (Keitner 2024).

Völkermord ist laut der Konvention der Vereinten Nationen eine Handlung, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Derlei Zerstörung kann sich nicht nur durch das aktive Töten einer Gruppe vollziehen, sondern unter anderem auch durch das Zufügen körperlicher und psychischer Schäden oder den Entzug von Lebensgrundlagen. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen ist hierbei die Intention zur Zerstörung einer Gruppe. Gleichzeitig ist genau dieses Charakteristikum der Gewalt am schwersten nachzuweisen.

Ob in der israelischen Kriegsführung ein Völkermord vorliegt, hängt also wesentlich von der Bewertung einer genozidalen Intention ab. In der südafrikanischen Klage standen entsprechend Aussagen ranghoher israelischer Regierungsmitglieder im Fokus, um auf eine Zerstörungsabsicht zu schließen – so etwa der Aufruf des israelischen Premierministers an sein Staatsvolk, es möge nicht vergessen, was die Amalekiter*innen ihnen angetan hätten (vgl. IGH 2023). Laut heiliger Schrift forderte Gott die Israeliten zur Ausrottung dieses Volkes auf. Und wenn Netanyahu auch abgestritten hat, dass er damit eine völkermörderische Absicht gegenüber den Palästinenser*innen zum Ausdruck gebracht habe, sind derartige und ähnliche Aussagen unter politischen Entscheidungsträger*innen und Militärs keine Ausnahmeerscheinung mehr (Law for Palestine 2024). So beschloss der IGH, dass der israelische Staat Maßnahmen zu ergreifen hat, die direkte und öffentliche Anstiftung zum Genozid zu verhindern und zu bestrafen.

Ob auf kollektiver Ebene eine genozidale Absicht vorherrscht, wird das Gericht weiter untersuchen. Diese Untersuchung wird aber möglicherweise noch Jahre dauern. Trotzdem bleibt der Begriff der Fluchtpunkt breiter Debatten in Deutschland (und anderswo) – gerade so, als könne nur mit ihm ein für alle Mal festgestellt werden, ob Israels Massengewalt gegen Zivilist*innen illegitim sei oder nicht (Klingst 2024).

Massengewalt jenseits der Intentionsfrage: Entgrenzung und Eskalation

Die Forschung zu Massengewalt auch jenseits des Genozids weist auf Mechanismen hin, durch die sich eine diskursive Entgrenzung in eine entgrenzte Gewaltausübung und eskalation übersetzt. Eine solche Entgrenzung beobachten wir auch bezogen auf den Gaza-Krieg. So ist für das humanitäre Völkerrecht die Unterscheidung zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen zentral. Zugleich bieten unübersichtliche Kriegskontexte die Gefahr, den verbrieften Schutz von nicht kämpfenden Zivilist*innen zu konterkarieren (vgl. Bachman 2020). Ein Beispiel für derartige diskursive wie militärische Entgrenzungen ist die Aussage von Israels Staatspräsident Isaac Herzog schon zu Beginn des Krieges, es gäbe keine unschuldigen Zivilist*innen in Gaza (vgl. Blumenthal 2023).

Diskursive Entgrenzungen operieren mit kollektivierenden Zuschreibungen (Moses 2021). Ganze Gruppen von Menschen werden als „gefährlich“ oder „schuldig“ ausgewiesen und zur generellen Sicherheitsbedrohung stilisiert. Manchmal endet derlei rhetorische Eskalation im Absprechen von Menschsein. So bezeichnete der israelische Verteidigungsminister Palästinenser*innen als„menschliche Tiere (Hawari 2023). Eine solche Entmenschlichung trägt nach bestehenden Erkenntnissen auch dazu bei, die Vernichtung der Gruppe als legitim anzusehen – oder die massenhafte Tötung von deren Mitgliedern mindestens in Kauf zu nehmen (Hagan und Rymond-Richmond 2008).

Angesichts des Ausmaßes der Gewalt im Gazastreifen ist davon auszugehen, dass die diskursiven Entgrenzungen auch im vorliegenden Fall zur Gewalteskalation gegenüber der Zivilbevölkerung beigetragen haben. Ohne dass Zahlen die Bedeutung des Verlusts eines jeden individuellen Lebens repräsentieren könnten, überwältigt dieses Ausmaß – auch im Verhältnis zu anderen Kriegen im Namen der militärischen Terrorismusbekämpfung (vgl. Costs of War Project 2023). In den vergangenen fünf Monaten wurden durch die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen über 33.000 Menschen getötet, also rund 1,4 % der dort lebenden Bevölkerung (OCHAOPT 2024).

Seit Kriegsbeginn befinden sich unter den getöteten Palästinenser*innen mehr als 60 % Zivilist*innen (vgl. Levy 2023). Die Quote von zwei zivilen Todesopfern auf einen getöteten Kombattanten entspricht auch den offiziellen Auskünften des israelischen Militärs und wird von dieser Seite sogar als „außerordentlich positiv“ (Bland 2024) bewertet.

Der Entzug von Lebensgrundlagen und die indirekten Folgen des Krieges

Dabei sind die Toten durch diesen Krieg noch lange nicht gezählt, selbst wenn ein Waffenstillstand jetzt einsetzen würde. Denn auch der Entzug von Lebensgrundlagen führt in den sicheren massenhaften Tod von Zivilist*innen jenseits direkter Kampfhandlungen (vgl. Tanielian 2024). Im Rahmen von Studien über den »global war on terror« wurde ermittelt, dass 80 % der Toten durch solche indirekten Kriegsfolgen zu beklagen sind (Savell 2023). Die Grundlage für ein solches Massensterben im Zuge des Krieges hat Israel auch im Gazastreifen geschaffen.

Bereits über 85 % der Bevölkerung sind wegen der Kampfhandlungen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben worden (UN SC 2024). Im Januar 2024 waren mehr als 60 % der Gebäude im Gazastreifen stark beschädigt oder zerstört (Palumbo et al. 2024). Von der tödlichen Zerstörung ist auch die allgemeine Infrastruktur betroffen. Die wirtschaftliche Existenzgrundlage, die Lebensmittelversorgung, die öffentliche Verwaltung, Bildung, die medizinische Grundversorgung – all das kann nicht mehr gewährleistet werden.

Mehr als 76.000 Einwohner*innen des Gazastreifens haben Verwundungen davongetragen (vgl. OCHAOPT 2024). Ihre Versorgung ist angesichts des zusammengebrochenen Gesundheitssystems, zerstörter Krankenhäuser und des Mangels an Medikamenten und Materialien kaum mehr möglich (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2024). Überproportional betroffen von diesen Folgen sind Ältere sowie wiederum Frauen und Kinder. Schwerwiegende Komplikationen ergeben sich bei Schwangerschaften und bei der Versorgung von Neugeborenen und ihren Müttern.

Weil die ohnehin hürdenreiche Lieferung von Hilfsgütern in die Kampfzone von Israel regelmäßig verhindert wird, herrscht Mangel an Wasser, Treibstoff und Nahrung. 93 % der Menschen hungern (WHO 2023). Die extreme Beschränkung von Hilfsgütern, die sich direkt nach dem IGH-Urteil sogar kurzzeitig weiter verschärfte, wird inzwischen auch von der EU als Einsatz von Hunger als Kriegswaffe bewertet (Gregory 2024; Wildangel 2024).

Für ein sofortiges Ende der Gewalt und direkte, massive humanitäre Hilfe

Wir stellen fest: Es sind schon viel zu viele unschuldige Frauen, Kinder und Männer im Gazastreifen durch Kampfhandlungen zu Tode gekommen, ein massiver Anstieg der Todeszahlen durch weitere Gewalteskalation und die überlebensfeindlichen Bedingungen im Gazastreifen ist zu befürchten.

Ob der IGH die israelische Gewalt als Völkermord einordnen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Für einen konsequenten diskursiven, diplomatischen und politischen Einsatz für ein sofortiges Ende der Gewalt sowie für die Durchsetzung direkter und massiver humanitärer Hilfe ist das auch unerheblich.

Die Bundesregierung muss alle Anstrengungen darauf richten und ihr ganzes politisches Gewicht zusammen mit ihren Verbündeten einsetzen, um die massive Gewalt gegen Zivilist*innen und den Entzug der Lebensgrundlagen in Gaza unverzüglich zu beenden. Ganz unabhängig davon, wie diese Gewalt bezeichnet wird.

Diese leicht aktualisierte Fassung des Textes erschien zuerst am 21.3.2024 auf dem PRIF-Blog des Leibniz-Instituts »Peace Research Institute Frankfurt« (ehem. HSFK). Wir danken den Autor*innen für das Einverständnis zum Wiederabdruck.

Literatur

Ärzte ohne Grenzen (2024): Hilfe in den palästinensischen Gebieten, Die aktuelle Situation: Krieg im Gazastreifen. Homepage, zuletzt aktualisiert am 21.03.2024

Bachman, J.S. (2020): Four Schools of Thought on the Relationship Between War and Genocide. Journal of Genocide Research 22(4), S. 479-501.

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Gunkel, Ch. (2023): Ist das Völkermord? Wie das »Verbrechen aller Verbrechen« die Wissenschaft spaltet. Spiegel Online, 17.12.2023.

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Keitner, C. (2024): The ICJ’s Modified Provisional Measures Order in South Africa v. Israel. Lawfare Blog, 2.4.2024.

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Tanielian, M. S. (2024): The Silent Slow Killer of Famine: Humanitarian Management and Permanent Security. Journal of Genocide Research – Forum: Israel-Palestine: Atrocity Crimes and the Crisis of Holocaust and Genocide Studies, online first, 5.2.2024.

UN SC (2024): As Israel’s Aerial Bombardments Intensify, ‘There Is No Safe Place in Gaza’, Humanitarian Affairs Chief Warns Security Council. Meetings Coverage, SC/15564. 12.1.2024.

WHO (2023): Lethal combination of hunger and disease to lead to more deaths in Gaza. Statement, 21.12.2023.

Wildangel, R. (2024): Hunger als Kriegswaffe. IPG-Journal, 6.3.2024.

Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung beim PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung und der Goethe-Universität Frankfurt.
Irene Weipert-Fenner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Forschungsgruppenkoordinatorin beim PRIF.
Timothy Williams ist Juniorprofessor für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung an der Universität der Bundeswehr München.

Was kommt nach dem Krieg?

Was kommt nach dem Krieg?

Gaza und der Israel-Palästina-Konflikt

von René Wildangel

Eine Zwischenbilanz der Zerstörungen im Gazastreifen sowie der israelischen Planungen für die Nachkriegsrealität fällt ernüchternd aus. Durch die Intensivierung der regionalen Eskalationsdynamik zwischen Israel und Iran haben sich die Aussichten für eine Entspannung zusätzlich verschlechtert. Noch ist nicht absehbar, ob und wann überhaupt nochmal ein normales ziviles Leben im Gazastreifen möglich sein wird, doch unterschiedliche politische Szenarien werden schon länger diskutiert und teils schon praktisch umgesetzt. Was wäre notwendig, um wenigstens die Grundlagen für einen Wiederaufbau und einen politischen Horizont zu schaffen und was könnte die internationale Gemeinschaft dazu beitragen?

Bei ihrem verheerenden terroristischen Angriff ermordete die Hamas am 7. Oktober 2023 fast 1.200 Menschen im Süden Israels, darunter 695 israelische Zivilist*innen. Ca. 250 Menschen wurden entführt, der Schock im Land war enorm. Die Reaktion der israelischen Regierung kam schnell und war nachvollziehbar: Eine Militäraktion, die zukünftige Angriffe verhindern und die Geiseln befreien sollte.

Doch schon in den ersten Tagen deuteten Aussagen aus Israels rechtsgerichteter Koalition an, dass die militärische Reaktion weit darüber hinausgehen könnte. Verteidigungsminister Gallant verkündete eine Totalblockade des Gazastreifens, da man gegen „menschliche Tiere“ kämpfe. Premierminister Netanjahu sprach von der „Vernichtung“ der Hamas, andere Politiker machten die gesamte Zivilbevölkerung im Gazastreifen für die Verbrechen der Hamas mitverantwortlich (Bartov 2023). Und weitere rechtsgerichtete Politiker brachten immer radikalere Ideen vor über die Wiederbesiedlung und die dauerhafte Besatzung des Gazastreifens oder die vollständige Zerstörung bis hin zum Abwurf einer Atombombe.

Abgesehen von einer verhandelten Feuerpause Ende November 2023, in der 50 israelische Geiseln und 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikamen, wurde pausenlos bombardiert. Die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen führten zu einer Zerstörung nie dagewesenen Ausmaßes.

Das betraf von Anfang an einen Großteil der zivilen Gebäude und Infrastruktur, darunter Wohngebäude, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetriebe und Agrarflächen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bereits in den ersten Kriegswochen von der israelischen Armee aufgefordert, in Richtung Süden zu fliehen, so dass sich bald ein Großteil der 2,3 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens in Rafah und Umgebung drängte. Einige von ihnen konnten Anfang April 2024 in die nahegelegene südliche Stadt Khan Younis zurückkehren, die allerdings zu großen Teilen zerstört wurde. Die Rückkehr in den Norden wird von Israel verweigert und ist aufgrund der Schaffung regelrechter »Todeszonen« durch israelische Scharfschützen lebensgefährlich (Kubovich 2024).

Zwar gelangen Hilfsgüter im Gegensatz zu der Ankündigung von Gallant am 9. Oktober mittlerweile in den Gazastreifen, allerdings in viel zu geringem Ausmaß. Israel behindert systematisch die humanitäre Hilfe, was spätestens seit März 2024 zu einer äußerst prekären Lage führte. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen (VN) herrscht in Gaza die schlimmste Hungerkrise, seit dies weltweit gemessen wird. Hunderttausende Menschen in Gaza sind akut von einer Hungersnot und damit dem Hungertod bedroht (Vereinte Nationen 2024).

Monatelang mahnten Israels Verbündete zwar die Beachtung des humanitären Völkerrechts an, darunter die USA und die meisten EU-Staaten. Sie unternahmen aber keine konkreten Schritte, um Israel zu einer Beendigung des Militäreinsatzes oder zu einer weiteren Feuerpause zu bewegen. Auch nicht, nachdem sich die israelische Regierung weigerte, die am 25. März beschlossene Waffenstillstandsresolution im Sicherheitsrat umzusetzen, bei der erstmals die USA auf die Anwendung ihres Vetos verzichteten. Infolge des groß angelegten Angriffs des Irans auf Israel mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern vom 13. April, der als »Vergeltung« für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulargebäude in Damaskus angekündigt wurde, ließ der internationale Druck auf die israelische Regierung zusätzlich nach.

Die Bilanz von sechs Monaten Krieg in Gaza ist verheerend: Die Eskalationsgefahr in der gesamten Region bleibt hoch. Die Geiseln konnten nicht befreit werden, viele von ihnen starben wahrscheinlich bei israelischen Angriffen. Die militärischen Fähigkeiten der Hamas konnten nicht ausgeschaltet werden. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn des Einsatzes darauf hingewiesen, dass die „Vernichtung“ der Hamas schon deshalb unrealistisch sei, weil sie als politische und soziale Bewegung tief verwurzelt in der Gesellschaft ist, sowie über zahlreiche Anhänger und Strukturen außerhalb Gazas verfügt. Knapp 34.000 Tote1, über 75.000 Verletzte, aber auch Hunderttausende von schwerwiegenden langfristigen Gesundheitsschäden bedrohte Menschen in Gaza hinterlassen eine tief verwundete Gesellschaft, die bereits durch 17 Jahre Isolation und Blockade traumatisiert und geschwächt war.

Angesichts der hohen zivilen Opferzahlen, gezielten Vertreibungen und Entziehung der Lebensgrundlagen wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine von Südafrika vorgebrachte Genozid-Klage verhandelt. Im Januar erließ das Gericht vorläufige Maßnahmen, die Israel unter anderem aufforderten, jegliche Verstöße im Rahmen der Genozid-Konvention zu verhindern, die humanitäre Versorgung sicherzustellen und genozidale Hetze zu bestrafen (IGH 2024).

Wichtigste Akteure und grund­legende Zukunftsszenarien

Der wichtigste Akteur mit Blick auf Gaza ist zweifelsohne auch weiterhin der israelische Staat, der seit 1967 die Verhältnisse dort maßgeblich bestimmt. Das galt aufgrund der Kontrolle aller Grenzen sowie des Luft- und Seewegs auch nach dem israelischen Rückzug von 2005. Und Ende Februar 2024 machte Premierminister Netanjahu deutlich, dass das auch in Zukunft so bleiben soll: Demnach will Israel die langfristige Kontrolle in Sicherheitsfragen übernehmen und sich auf unbestimmte Zeit vorbehalten, militärisch zu intervenieren (Ravid 2024).

Dem entspricht die Realität, die zuletzt bereits vor Ort etabliert wurde: Die israelische Armee hat eine 1km breite Sperrzone entlang der gesamten israelischen Grenze zu Gaza eingerichtet, die weit über die vor dem 7. Oktober bestehende »Todeszone« hinausgeht. Das entspricht mit 16 % einem großen Anteil der Landfläche des kleinen Küstenstreifens, der das zukünftige Leben von über zwei Millionen Menschen weiter einengt. Zudem hat die Armee Recherchen der Tageszeitung Haaretz zufolge einen zentral gelegenen West-Ost Korridor (»Netzarim-Korridor« nach einer früher dort gelegenen israelischen Siedlung) eingerichtet, der wohl auch dauerhaft der israelischen Armee Zutritt verschaffen, eine unmittelbare Überwachung ermöglichen soll und den Gazastreifen effektiv in zwei Teile teilt (Michaeli et al. 2024). Bereits jetzt kontrolliert Israel alle Grenzübergänge nach Gaza und verzögert immer wieder die Einfuhr von Produkten. Wegen „Sicherheitsbedenken“ wird nach Recherchen von CNN aber auch willkürlich die Einfuhr von Produkten wie Schlafsäcken, Nagelklippern oder Krücken zurückgehalten, ein Hauptgrund für die langsame und unzureichende Einfuhr von Hilfsgütern (Qiblawi et al. 2024).

Dieses derzeit offensichtlich von Israel bereits vorangetriebene und favorisierte Szenario – dauerhafte Besatzung und Kontrolle sowie eine anhaltende Blockade – wäre ein Desaster, denn Wiederaufbau und Erholung wären unter diesen Bedingungen nicht möglich. Zudem widerspräche es diametral den Vorstellungen der internationalen Gemeinschaft: Von Anfang an wurde hier eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) debattiert.

Die PA, 1993 im Rahmen der Oslo-Verträge als Nukleus eines palästinensischen Staates geschaffen, hat den Großteil ihres Ansehens längst eingebüßt. Ihre Schwäche zeigte sich auch in der Reaktion auf den 7. Oktober: Den Angriff der populäreren Hamas, die im Gegensatz zur institutionell verkrusteten, mit Israel kooperierenden PA für sich in Anspruch nimmt, den »Widerstand« gegen die israelische Besatzung anzuführen, wollte die PA nicht verurteilen. Die Debatte über eine mögliche Übernahme der politischen Verantwortung durch die PA in Gaza fand weitgehend ohne ihre Repräsentanten in der Westbank statt. Auch die im März 2024 neu gebildete palästinensische Regierung unter Premierminister Mohammed Mustafa ist wenig inklusiv und ohne Neuwahlen fehlt ihr die notwendige Legitimität.

Wenig deutet derzeit auch auf die Stationierung einer internationalen Militär- oder Beobachterpräsenz hin, die ebenfalls als Übergangsszenario ins Spiel gebracht wurde. Zwar hat sich die israelische Regierung in Gesprächen mit den USA für die Stationierung von Truppen aus „freundlich gesinnten“ arabischen Staaten ausgesprochen. Allerdings hätte die Entsendung von Soldaten in einen von den USA und Israel diktierten Übergangsprozess eine andere Qualität als die viel beachtete arabische Beteiligung an Abschüssen der gegen Israel gerichteten iranischen Drohnen und Raketen – sie könnten dann als Handlanger einer israelischen Besatzung des Gazastreifens wahrgenommen werden. Zudem hat die Hamas bereits angekündigt, dass sie solche Truppen als „feindselig“ ansehen würde (Bar’el 2024). Wenn die Hamas aber nicht „vernichtet“ werden kann, bleibt ein Dilemma, dem sich die internationale Gemeinschaft irgendwann stellen muss: Die zukünftigen Verhältnisse im Gazastreifen können dann nicht ohne ein wie auch immer geartetes Übereinkommen mit den Islamisten gestaltet werden, bevor die PA die Macht übernimmt.

Es sind vor allem drei arabische Staaten, die aufgrund ihrer langjährigen Verflechtung mit dem Konflikt im Mittelpunkt stehen und eine positive Rolle bei Verhandlungen für die Übergangszeit spielen können:

  • Katar, als langjähriger Unterstützer der Hamas mit gleichzeitig guten Beziehungen zum Westen;
  • Ägypten, unter Präsident Al-Sisi innenpolitisch wieder zur autoritären Diktatur geworden, das mit Sorge auf die eigene Grenze mit dem Gazastreifen blickt;
  • und schließlich Jordanien: das zweite Land, das einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hat, innenpolitisch allerdings unter Druck steht und sich als Anwalt der palästinensischen Interessen positioniert.

Diese drei Staaten sind für die Zukunft des Gazastreifens zentral und könnten eine führende Rolle in einem regional unterstützten Verhandlungsprozess übernehmen, der auch das Ziel eines palästinensischen Staates wieder in den Blick nimmt.

Denn die USA, die EU, aber auch weitere Länder sehen den 7. Oktober auch als Weckruf, die Suche nach einer Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht weiter zu ignorieren. Das gilt insbesondere auch für die EU, die seit vielen Jahren die Zweistaatenlösung proklamiert, aber die Lage vor Ort auch aufgrund anderer internationaler Krisen und Konflikte über viele Jahre weitgehend ignorierte. Dabei führte sie zwar ihre Unterstützung der palästinensischen Autonomiebehörde und Verwaltung fort, aber ohne das entsprechend politisch zu begleiten.

Der israelische Premierminister hat das Ansinnen, die Schaffung eines palästinensischen Staates wieder auf die Tagesordnung zu setzen, bereits vehement abgelehnt. Das deckt sich aktuell mit der Stimmung nicht nur in der israelischen, sondern auch der palästinensischen Bevölkerung: Die Unterstützung für die Zweistaatenlösung ist dort jeweils auf dem Tiefpunkt.

Friedensperspektiven stärken, aber wie?

Kurzfristig müssen Bundesregierung und EU endlich ihren Teil dazu beitragen, den in den VN beschlossenen Waffenstillstand dauerhaft umzusetzen und – wie in der Sicherheitsrats-Resolution festgeschrieben – die Befreiung der israelischen Geiseln voranzubringen. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist auch der beste Weg, um die regionale Eskalationsdynamik einzudämmen. Die monatelang fortgesetzten Angriffe haben zudem nicht nur überproportional Gazas Zivilbevölkerung betroffen, sondern auch die Gesundheit und das Leben der Geiseln aufs Spiel gesetzt. Auch daher protestieren seit Monaten viele Angehörige gegen den Kurs von Premierminister Netanjahu.

Eine Waffenruhe ist auch Voraussetzung für die dringend notwendige, sichere Verteilung von Hilfsgütern im gesamten Gazastreifen. Statt mit ineffektiven Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft zu agieren, müssen Deutschland und die EU politischen Druck ausüben, um Lieferungen über die Landgrenzen zu ermöglichen. Sonst könnten nach Schätzungen von Expert*innen über 100.000 Menschen an den Folgen von Hunger und Krankheiten sterben (Ahituv 2024). Druck wird auch benötigt, um die von Netanjahu angekündigte Rafah-Offensive zu verhindern, die katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung hätte. Solange das Vorgehen der israelischen Armee derart fatale Folgen für die Zivilist*innen in Gaza hat und Vorwürfe von massiven Kriegsverbrechen im Raum stehen, dürfen EU-Staaten – so sieht es der internationale Vertrag über den Waffenhandel vor – keine Waffen mehr für die Fortführung der Kriegsführung in Gaza an Israel liefern.

Nach Kriegsende geht es zunächst um eine tragfähige Lösung für Gaza. Deutschland und die EU sollten sich in Zusammenarbeit mit den USA und den VN dafür einsetzen, dass es keine Rückkehr zum Status quo vor dem 7. Oktober gibt. Denn bei einer neuerlichen Blockade droht ein neuer Kreislauf aus Waffenschmuggel und radikalen Organisationen, denen es im endgültig verelendeten Gazastreifen nicht an neuen Rekrut*innen mangeln wird.

Dabei gibt es ein positiveres Szenario für den Gazastreifen, das mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft umzusetzen wäre: Nämlich eine echte und nachhaltige Öffnung, die den Küstenstreifen wieder mit der Welt verbindet. Nur mit einer Öffnung der Grenzen wird ein Wiederaufbau überhaupt denkbar sein.

Fast alle jungen Menschen (über 50 %, also über eine Million Menschen sind jünger als 18) haben das kleine Küstengebiet noch nie in ihrem Leben verlassen. Die Isolation war bei Besuchen vor Ort seit 2007 mit Händen zu greifen und hat vielfältige negative Auswirkungen. Die Ausreise zur Behandlung schwerwiegender physischer und psychologischer Kriegsfolgen muss ermöglicht werden, da im Gazastreifen kein funktionierendes Gesundheitswesen mehr existiert und die wenigen verbliebenen Krankenhäuser keine verfügbaren Kapazitäten mehr haben.

Deutschland und die EU könnten dazu beitragen und im Rahmen einer verhandelten Übergangslösung die Kontrolle der Grenzen inklusive des Seewegs übernehmen. Die EU war bereits mit der EUBAM-Mission an der Grenze bei Rafah beteiligt und stellt Soldat*innen für die UNIFIL-Mission im Libanon. Auch der Seeweg könnte mit einer effektiven Kontrolle für den Wiederaufbau genutzt werden; dafür gilt es, Gazas Seehafen wieder aufzubauen und Gaza dauerhaft über den Seeweg an die Region des östlichen Mittelmeers anzubinden, und die vor der Küste liegenden Gasreserven für Palästina nutzbar zu machen.

Wenn die Sicherheit von der internationalen Gemeinschaft überwacht wird, darf Israel kein Vetorecht über Importe und Exporte haben. Daran scheiterte bereits der »Gaza Reconstruction Mechanism«, der nach dem Krieg 2014 unter Aufsicht der VN die Einfuhr notwendiger Materialien sichern sollte. Doch der Zugang wurde von Israel beschränkt, so dass international zugesagte Hilfsgelder nicht fließen konnten. Die Herausforderung nach dem aktuellen Krieg wird ungleich größer sein, erste Berechnungen gehen von fast 18,5 Mrd. US$ für den Wiederaufbau aus, was ungefähr dem jährlichen palästinensischen Bruttoinlandsprodukt entspricht (Weltbank 2024).

Schließlich geht es um langfristige Perspektiven für eine Konfliktlösung, auch wenn die Voraussetzungen dafür schlechter denn je erscheinen. Mit der Regierung Netanjahu, die offen für Siedlerinteressen und militärische Besatzung im Gazastreifen steht, wird es kaum einen glaubhaften Verhandlungsprozess, geschweige denn »Friedensprozess«, geben. Allerdings ist der Protest gegen die Regierung jüngst wieder enorm angewachsen und Neuwahlen sind wohl nur eine Frage der Zeit. Eine Neuorientierung in Israel könnte die Chancen für diplomatische Prozesse verbessern. Inwiefern allerdings eine neue Regierung zu Zugeständnissen bereit ist, wird von der konkreten Regierungskoalition abhängen. Denn auch wenn eine Mehrheit der Israelis Netanjahu mittlerweile ablehnt und für das Desaster des 7. Oktober mitverantwortlich macht, wird doch die derzeitige Kriegsführung von einer großen Mehrheit befürwortet. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist da, dass sich immerhin Oppositionspolitiker*innen wie Yair Lapid für eine Rückkehr der PA ausgesprochen haben.

Deutschland und die EU gehören seit dem Oslo-Prozess zu den wichtigsten Unterstützern der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Bundesregierung sollte neben dem Wiederaufbau in Gaza auch wieder konkrete Schritte unternehmen, um die Legitimität und Kapazität der PA zu stärken. Dazu gehört auch die diplomatische Anerkennung eines palästinensischen Staates. Die regionale Konfliktverschärfung mit dem Iran ist sogar noch ein zusätzliches Argument dafür, denn nur die Umsetzung der Zweistaatenlösung bietet Aussicht auf eine dauerhafte Normalisierung der Beziehungen aller arabischen Staaten mit Israel.

Darüber hinaus sollten die verbliebenen Friedenskräfte in Israel und Palästina und alle jene, die zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten beitragen, jetzt uneingeschränkt unterstützt werden. Der Impuls nach dem 7. Oktober, die Unterstützung für Palästina einzufrieren, war katastrophal, denn dies traf genau diese zivilgesellschaftlichen Akteure – und spielt letztlich dem »Widerstands«-Narrativ der Hamas in die Hände. Ähnliches gilt für das Palästinenserhilfswerk UNRWA, das für die Versorgung der Palästinenser*innen in der Region und besonders auch in Gaza eine zentrale Rolle spielt. Hier wurden nach bisher unbelegten Vorwürfen gegen einzelne Angestellte Gelder eingefroren, die für die Versorgung Hunderttausender notwendig sind.

Schließlich sollten die derzeit auf verschiedenen Ebenen laufenden rechtlichen Bemühungen um Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorangetrieben werden. Die Bundesregierung betont einerseits ihre Unterstützung für den Internationalen Gerichtshof (IGH) und den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), greift aber andererseits immer wieder deren Urteilen vor, wenn es um den engen Verbündeten Israel geht.2 Nur wenn verantwortliche Akteure auf beiden Seiten für begangene Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und der Zustand der Straflosigkeit endet, besteht die Hoffnung, dass sich die jetzige Katastrophe nicht wiederholt.

Anmerkungen

1) In deutschen Medien werden diese oft nur mit dem Zusatz verwendet, die Zahlen könnten nicht „unabhängig überprüft werden“; die VN und viele Expert*innen weisen aber darauf hin, dass diese Angaben des Gesundheitsministeriums, das von der Hamas geführt wird, in der Vergangenheit zuverlässig waren; wahrscheinlich sind sie angesichts der zahlreichen Vermissten eher zu niedrig.

2) „Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit zum Beispiel nach Beginn der Verhandlungen zur südafrikanischen Genozid-Klage vor dem IGH im Januar 2024.

Literatur

Ahituv, N. (2024): Epidemics, Famine, Untreated Wounds: Things Are About to Get Much Worse in Gaza. Haaretz, 6.4.2024.

Bar’el, Z. (2024): Israel‘s ‚Multinational Force‘ Pitch for Postwar Gaza Is Little More Than Wishful Thinking. Haaretz, 1.4.2024.

Bartov, O. (2024): Der Angriff der Hamas und Israels Krieg in Gaza. Heinrich-Böll-Stiftung, 18. Dezember 2023.

IGH (2024): Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel). Request for the indication of provisional measures. Unofficial Summary 2024/1, 26.1.2024.

Kubovich, Y. (2024): Israel Created ‚Kill Zones‘ in Gaza. Anyone Who Crosses Into Them Is Shot. Haaretz 31.3.2024.

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Weltbank (2024): Joint World Bank, UN Report Assesses Damage to Gaza’s Infrastructure. Pressemitteilung, 2.4.2024.

René Wildangel ist Historiker und Publizist. Er lehrt derzeit an der International Hellenic University in Thessaloniki. Er studierte in Jerusalem und Damaskus und publiziert regelmäßig zu Nahost-Themen.