Seenotrettung im zentralen Mittelmeer
Seenotrettung im zentralen Mittelmeer
Solidarität gegen den Strom – Bericht einer dokumentarischen Reise
von Sarah Hüther
Auf einer Recherchereise für einen Dokumentarfilm zum Thema »Seenotrettung im Mittelmeer« sprach ich mit unterschiedlichen Akteur*innen, die sich mit »Flucht« beschäftigen und aus ihrer jeweiligen Perspektive eigene Ansätze finden, um Solidarität zu leben. Meine Recherchereise führte mich an unterschiedliche Orte und zu Menschen, die sich mit Seenotrettung beschäftigen, mit den Auswirkungen von Flucht oder die selbst durch den Verlust von Angehörigen betroffen sind. Die Unterstützung von Seenotrettung und die zivilgesellschaftliche Vernetzung sind dabei wesentliche Handlungsoptionen, um der Abschottung an der Grenze durch die Europäische Außenpolitik etwas entgegen zu setzen.
Pia Klemp ist Aktivistin und Kapitänin. Schon öfter ist sie als ehrenamtliche Kapitänin mit Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer unterwegs gewesen. Gemeinsam mit einer kleinen Crew arbeitete sie 2020, als ich für diesen Film recherchierte, an einem »neuen« Projekt: dem Seenotrettungsschiff »Louise Michel«. Seit August 2020 fährt dieses Rettungsschiff nun mit einer wechselnden Crew regelmäßig im Mittelmeer und rettet Menschen aus Seenot. Für die Crew bedeuten die Missionen auf dem zentralen Mittelmeer, sich aktiv für Menschen auf der Flucht einzusetzen. Für die Besatzung ist es ein aktiver solidarischer Akt.
Doch es ist nicht Pia Klemps erstes Schiff: Sie war Jahre zuvor auf dem Rettungsschiff »iuventa«. Italien hatte das Schiff im Sommer 2017 beschlagnahmt und Anklage gegen Mitglieder der iuventa-Crew erhoben – weil sie Menschen aus Seenot gerettet hatten. Nach sieben Jahren fordert mittlerweile selbst die Staatsanwaltschaft, die Anklage fallen zu lassen. Auch wenn sie jüngst eingestellt wurde, zeigt sich an der Anklage gegen die iuventa-Crew das Ausmaß des politischen Versagens der Europäischen Union im Mittelmeer. Denn anstatt eine historisch selbst herbeigeführte Krise anzunehmen, die sich an vielen unterschiedlichen Stellen im Mittelmeer durch Fluchtbewegungen kristallisiert, und dafür Lösungen zu finden, lagert die EU die Rettung nicht nur in die Hände marginalisierter, selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus, sondern versucht schon seit Jahren die Arbeit der Seenotretter*innen mit juristischen Mitteln zu behindern. Das wird immer wieder durch angedrohte Gerichtsverfahren deutlich, wie eben jüngst dem Verfahren gegen die iuventa-Crew (Dernbach 2019; Kramer und Siefert 2024).
Zustand des Versagens
Blickt man auf die Gemengelage der Probleme im größeren Kontext, zeigt sich schnell, dass Migration nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Klimakrise, die Folgen des Kolonialismus, postkoloniale und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse und nicht zuletzt das Patriarchat, all diese Gewaltverhältnisse hängen zusammen (Etzkorn et al. 2022). Sie sind historische Ursachen der Krisen, an denen Westeuropa maßgeblich mitbeteiligt war und ist. Nicht zuletzt deshalb müssten die europäischen Länder auch an deren Lösung beteiligt sein, wenn Verantwortung ernst gemeint ist und übernommen werden würde.
Statt einen menschenrechtsgeleiteten Umgang mit Migration zu finden, setzte die EU in den vergangenen Jahren vor allem auf Abschottung. In der Folge wurde der Sehnsuchtsort Mittelmeer – Urlaubsparadies für viele Westeuropäer*innen – für andere zum Massengrab (vgl. Statista 2024). Denn um Europa zu erreichen, können viele eben nicht in eine halbvolle unbequeme Easyjet Maschine steigen, sondern betreten ein seeuntaugliches Boot und setzen ihr Leben damit aufs Spiel (vgl. UNHCR Deutschland o.J., UNO-Flüchtlingshilfe 2024). Doch trotz der medialen Sichtbarkeit, die die Bilder sinkender Boote oder endloser Reihen von Särgen etwa in der deutschen Öffentlichkeit durchaus bekommen, wird die politische Strategie der EU-Grenzpolitik seit nunmehr bald 30 Jahren immer restriktiver. Sichtbar wird das auch am Mandat und der Ausstattung der europäischen Grenz»schutz«agentur Frontex, die bereits 2004 vorrangig zur Grenzsicherung gegründet wurde. Zuerst nur als Agentur für Koordinierung der Grenzkontrollen zuständig, wurde das Mandat in Reaktion auf die Migrationsströme 2015/2016 ausgeweitet. Somit wurde im Oktober 2016 die Europäische Grenz- und Küstenwache gegründet mit der Hauptaufgabe, die Migrationsströme »zu steuern«.
Zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 gab es nach zwei Schiffsbrüchen mit mehr als 600 Ertrunkenen vor der italienischen Insel Lampedusa einmalig und in Besonderheit vom italienischen Staat finanzierte Rettungsschiffe, die Marineoperation »Mare Nostrum«. Sie patrouillierte, um zu retten. Doch die Mandate liefen aus. Dies hatte einen Mangel an Seenotrettungsmaßnahmen zur Folge. In Reaktion auf diese Leerstelle wurde die Zivilgesellschaft aktiv, um den Mangel durch zivile Seenotrettungsschiffe auszugleichen. Seit 2015 gibt es vermehrt zivile Schiffe, die gezielt Seenotrettungen durchführen. Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie »Jugend Rettet« und »Sea Watch« gehörten zu den ersten, die mit ihren Schiffen aufs Meer fuhren. Doch auch die zivilen Seenotrettungsorganisationen sind davon betroffen, dass die europäische Außenpolitik immer repressiver wird – wie die Beispiele der Beschlagnahmung und strafrechtlichen Verfolgung deutlich machen.
Zuspitzung und Verschärfung
Es scheint mittlerweile eine Zuspitzung der Abschottung zu geben. Ausführlich ist dokumentiert, dass es durch Frontex wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten kam. Dabei stehen vor allem sogenannte Push- und Pull-Backs im Zentrum der Aufmerksamkeit. Solche Praktiken der aktiven Rückschiebung von Geflüchteten sind immer illegal, denn Non-Refoulement ist universell (vgl. Jakob 2022; IOM 2022).
Insgesamt ist der europäische Diskurs zur Migration ein entmenschlichter geworden. Er befasst sich meist mit Regeln zur Begrenzung der Einreise bzw. der Abschiebung. Europa fühlt sich unter Druck und lässt das Schreckensbild ganzer »Völkerwanderungen« gern durch großflächige Pfeildiagramme illustrieren, mit Despoten werden großzügige Deals geschlossen, wenn sie versprechen, Migrant*innen zurückzuhalten (Libyen, Türkei, Tunesien, u.a.) – die EU wird dabei immer restriktiver (vgl. Tagesschau 2023; Deutschlandfunk 2021). Rettung kommt in diesem Diskurs kaum mehr vor.
Das hat mittlerweile auch drastische Konsequenzen für die politische Rhetorik und das institutionelle Gebaren der südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. So sorgte beispielsweise der tunesische Präsident Kais Saied mit einer Rede am 21. Februar 2023 für eskalierende Gewalt gegen Migrant*innen aus Subsahara-Afrika (DW 2023). Es hat den Anschein, als würde er der EU demonstrieren wollen, er sei würdig, das Geld für den Deal zur Migrationsabwehr zu empfangen. Mit der faschistischen und rassistischen Rede bediente Kais Saied einen politischen Diskurs in Tunesien, der von innertunesischen Problemen ablenkt und gleichzeitig zu einer Externalisierung der europäischen Grenzen beiträgt – durch die Verbreitung von Angst und Schrecken zur Abwehr von Migration.
Die transnationale Koordination von Abschottungspolitik soll Lösungen proklamieren, die vordergründig die Bekämpfung der Krise suggerieren. In dieser diskursiv heraufbeschworenen Kriegs-Logik gegen »illegale Migration« werden ertrunkene Menschen zu unvermeidbaren Kollateralschäden. Wo bleibt hier das Europa, das sich jahrzehntelang international als Vorreiterin des Menschenrechtsparadigmas inszenierte? Am Ende dieser Entwicklung steht die Seenotrettung im Mittelmeer als das zentrale politische Gegenkonzept zur entmenschlichten Abschottungspolitik. Diese Aufgabe liegt nunmehr aber in den Händen einer Zivilgesellschaft, die über nationale Grenzen hinweg vernetzt ist und sich im Mittelmeerraum zu organisieren versucht.
Annäherungen an ein widerständiges Feld
Für eine erste Recherche machte ich mich 2020 mit meiner Filmkamera auf den Weg, um zu ergründen, was feministischer Aktivismus dem europäischen Grenzregime entgegenzusetzen hat – an den europäischen Außengrenzen über das Mittelmeer hinaus. Dabei versuchte ich die Sichtbarkeit von Frauen hervorzuheben, da diese nach wie vor in der Film- und Medienlandschaft unterrepräsentiert sind (vgl. Deutscher Kulturrat o.J.). Mit diesem Fokus richtete ich mein Augenmerk auf die vielen engagierten Frauen, die in der Seenotrettung, in der Arbeit zu Flucht, mit Geflüchteten und zum Umgang mit Trauer sowie in der juristischen Beratung eine Kernrolle einnehmen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade feministische Aktivist*innen auch für das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle einsetzen. Doch wie sieht diese Arbeit konkret aus und wie tritt sie Tendenzen der Vereinzelung entgegen?
Die Frauen meiner filmischen Recherche sind Menschenrechtsverteidigerinnen. Durch die Arbeit und den Aktivismus sind sie über nationale Grenzen des Mittelmeerraumes hinweg organisiert. Sie arbeiten in Europa zu Land oder im Luftraum, in der Seenotrettung mit Schiffen und Flugzeugen, in Kanzleien, in Solidaritätszentren für Geflüchtete genauso wie in Nordafrika mit Familien von Vermissten oder auf Friedhöfen, die für die namenlosen Toten angelegt wurden. Dadurch, dass sie alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise zum Thema Flucht aktiv sind, sind sie über ihre Arbeit miteinander verbunden. Und obwohl das politische System seine Ausrichtung auf Trennung und auf Grenzen setzt, funktioniert ihr Widerstand über Solidarität zueinander – über das Mittelmeer hinweg.
Im Folgenden gehe ich drei Geschichten von Aktiven mit verschiedenen Schwerpunkten nach, die sich um das Mittelmeer organisieren.
Drei Episoden, drei Wege
Pia und Lea – SAR
Das Filmprojekt startete in Frankreich, in einer kleinen Werft im Hafen von St. Malo, wo die bereits erwähnte Pia Klemp und Lea Reisner mit weiteren Aktivist*innen das Search and Rescue (SAR) Schiff »Louise Michel« für den Einsatz im Mittelmeer vorbereiteten.
Pia Klemp hat eigentlich Biologie studiert, zur Seefahrt ist sie über die Umweltorganisation »Sea Shepherd« gekommen. Doch für Pia ist klar, dass es nicht nur um Umweltfragen geht, wenn sich auf dieser Welt ernsthaft etwas zum Besseren wenden soll. Sie sieht die verschiedenen Kämpfe gegen Unterdrückung – seien es Kämpfe für Tierrechte, gegen das Patriarchat oder eben für Menschenrechte – als einen gemeinsamen Kampf an. Pia fuhr deshalb als Kapitänin der iuventa und der Sea Watch 3 Seenotrettungseinsätze, weil nach ihrer Ansicht die Menschenrechte für alle gelten müssen, nicht nur für die Menschen mit westlichem Pass. Pia erzählt mir im Interview:
„Es ist wichtig, dass die Zivilbevölkerung an dem Prozess teilnimmt. Es geht nicht nur darum Leben zu retten, es ist ein sehr politischer Kampf. Auch wenn die Handlung die gleiche bleibt, es ist nicht nur ein humanitäter Akt [die Seenotrettung], es ist eine politische Haltung. Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Kämpfe, die wir führen müssen, gegen Rassismus, Speziezismus, Sexismus, auf die gleichen Probleme führen. Die Ursachen sind der Imperialismus, das kapitalistische System, das Patriarchat, Dominanz, jemandem mehr Wert zuzusprechen als jemand anderem, egal, ob es hier um Geschlecht, Race, Spezies geht.“
Für Pia liegt hinter diesen Strukturen der gleiche Mechanismus und so sieht sie es als ihre Aufgabe, diese Herausforderungen zusammenzubringen. Indem sie sich für die zivil organisierte Rettung engagierte, kann sie gemeinsam mit vielen anderen, die auch irgendwo anfangen wollen für Veränderung zu streiten, einen Ansatz bieten, um Lösungen auszuloten.
Wie Pia ist auch Lea Reisner Veganerin und Feministin. Lea ist ausgebildete Intensivpflegerin. Weil sie dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht aus der Ferne zuschauen wollte, entschloss sie sich 2016 zu einem Einsatz als Teil der medizinischen Crew auf der iuventa. Dort arbeitete sie sich immer mehr in die Rettungsoperation ein, die Situationen wurden brisanter, mit den Aufgaben wuchs die Verantwortung. Bei dem »neuen« Projekt Louise Michel leitet sie nun den Einsatz der ersten Mission an der tödlichen europäischen Seegrenze.
Das Projekt Louise Michel wurde vom Streetart-Künstler Banksy finanziert. Mit der Spende konnte die Crew ein Projekt ins Leben rufen, bei dem sie nach eigenen Angaben keine Kompromisse machen müssen. Auch in der Auswahl des Schiffsnamens werden sie sich einig: Louise Michel (1830-1905). Sie war nicht nur Anarchistin und Mitglied der Pariser Kommune, sondern auch eine der ersten Vertreterinnen, die unterschiedliche Kämpfe zusammendachte. Soziale Forderungen, Tierrechte und Feminismus waren ihre Themen. Durch ihren übergreifenden Ansatz kämpfte sie gleichzeitig gegen verschiedene Unterdrückungsformen, die Idee der Intersektionalität ist so aktuell wie nie.
Es ist interessant, wie die Aktivist*innen damit umgehen, dass sie die Verhältnisse nicht von heute auf morgen verändern können. Sie agieren in der Absicht, dass diesen ungerechten Verhältnissen zumindest überhaupt etwas entgegengesetzt werden muss. Im Kampf gegen Imperialismus, Rassismus und partikulare Menschenrechte – idealtypisch verkörpert durch die europäische Außenpolitik – ist für sie die Seenotrettung der gelebte solidarische Akt als Gegenkonzept zur Abschottung, den sie überhaupt leisten können.
Hela – Alarmphone
In Tunesien traf ich im Sommer 2023 Hela Kanakane. Sie ist Mitte zwanzig. „Damit die Toten auf dem Mittelmeer nicht nur eine Zahl bleiben“, setzt sich Hela bei »CommemorAction« (Gedenkaktion) ein. In den europäischen Medien hört die Berichterstattung über Bootsunglücke meistens schon mit der Erwähnung der Zahl der Ertrunkenen auf. Doch jede Person auf jedem Boot hat eine eigene Geschichte. Die Gruppe CommemorAction versucht diese zu erzählen. Sie helfen Familien, sich zu vernetzen, Vermisste zu suchen oder zumindest nach Gewissheit zu forschen. Sie suchen nach jenen, die ertrunken sind, vermisst werden oder auf der tödlichen Route durch die Sahara verstorben sind. Familien aus Libyen, Tunesien, Marokko, Kamerun und dem Senegal treffen sich. Hela organisiert die Treffen mit und ist die Vermittlungsperson zwischen den Familien und den zivilen Seenotrettungsorganisationen. Mehrere Tage wird es Workshops und Aktionen geben. Sie wollen nicht nur erinnern, sie wollen auch anklagen, sich organisieren gegen die Zustände, die dazu führen, dass die Flucht nach Europa immer gefährlicher wird.
Gleichzeitig versucht Hela durch ihre Mithilfe bei der ehrenamtlich organisierten Notruforganisation »Alarmphone« zu verhindern, dass Menschen an den Grenzen Europas überhaupt ums Leben kommen. Das Alarmphone ist im Wesentlichen eine Nummer, die Aktiven übernehmen ihre Schichten aus ganz unterschiedlichen Städten wie z. B. Tunis, Palermo, Melilla, Tanger, Cadiz, Marseille, Strasbourg, London, Wien, Bern oder auch Berlin. Unterschiedliche Projekte tragen das Alarmphone mittlerweile in gemeinsamer Verantwortung. Das sind unter anderem »Welcome2Europa«, »Afrique Europe Interact«, »Borderline Europe«, »Noborder Morocco« und »Watch the Med«.
Das Team von Alarmphone nimmt dabei Notrufe von Schiffen in Seenot an und übt dann Druck auf die Behörden aus, Rettungseinsätze einzuleiten. Die Rettungsleitstelle in Rom, das MRCC, koordiniert die Einsätze und kontaktiert jene Schiffe, die dem Notruf am nächsten sind. Das können militärische Schiffe, Frachter oder auch zivile Rettungsschiffe sein.
Solange Menschen gezwungen sind, den Weg über das Meer zu nehmen, weil sie kein Visum bekommen, ist Alarmphone für Hela eben das, was sie konkret tun kann, um Hilfe zu leisten. Für Hela ist die Arbeit mit den Familien die Motivation, weiter bei Alarmphone mitzumachen. Alarmphone sei wichtig, sollte aber nicht mit einer Lösung des Problems verwechselt werden. „Dafür bräuchte es Visafreizügigkeit“, sagt sie. „Wenn der politische Wille da wäre, könnte das umgesetzt werden. Aber solange die europäischen Werte sich selbstgerecht nur um sich selbst drehen, erscheint die Lösung in weiter Ferne.“
Hela fragt sich: „Warum schaffen wir es nicht, eine alternative Politik mit einem menschlichen Miteinander zu etablieren, statt Angst und Tod für Viele?“ Im Interview erzählt Hela, dass es in der Vergangenheit selbstverständlich war, dass Menschen vom afrikanischen Kontinent für eine Saison nach (Süd-)Europa zum Arbeiten kamen und dann wieder zurück zu ihren Familien gingen. Aber weil es eben keine alternative Politik Europas gibt, bleibt für viele Menschen der Weg über das Mittelmeer der letzte Ausweg.
Lucia – Centro Sociale/Rechtsberatung
Im Sommer 2023 traf ich die Juristin Lucia Gennari in Rom, Italien. Als Juristin setzt sich Lucia Gennari gegen die Kriminalisierung von Flüchtenden wie Helfenden durch Regierung und Justiz ein. Seit der Wahl des rechten Blocks unter Giorgia Meloni im September 2022 wurde diese Art der Anti-Migrationspolitik stetig weiter vorangetrieben. Lucia kämpft für die tatsächliche Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Allzu oft werden unterschiedliche Standards gesetzt. Zum Beispiel wird die Bewegungsfreiheit von Menschen, die vor dem Gesetz illegal nach Italien migrieren, oft viel schneller eingeschränkt als bei Festnahmen von Europäer*innen.
Im »Centro Sociale«, eine politisch-linke Bewegung in ganz Italien, die durch die Bereitstellung von Orten soziale Räume für politische Arbeit schafft, übernimmt Lucia juristische Angelegenheiten der Geflüchteten. In Rom kümmert sie sich um aufenthaltsrechtliche Fragen von Migrant*innen. Aber auch die Kriminalisierung von Flüchtenden und Seenotretter*innen spielt für Lucia eine zentrale Rolle. Lucia Gennari arbeitet in einer Anwaltskanzlei in Rom, die u.a. verfolgt, was an den Grenzen Italiens passiert und zur Externalisierungspolitik Italiens arbeitet. Die italienischen Jurist*innen arbeiten verstärkt zur Migration über See. Seit vier oder fünf Jahren unterstützen sie NGOs aus der Seenotrettung.
Im Interview erzählt Lucia, dass sie sich neuerdings auch um den Kampf gegen das zeitweise Festsetzen der SAR-Schiffe von NGOs kümmert. Die italienische Regierung setzte im Januar 2023 ein Gesetz in Kraft, das die Weiterfahrt der Rettungsschiffe einschränkt. „Dieses Gesetz regelt eine Reihe von Bedingungen, die sie (die NGO Schiffe) einhalten müssen,“ erklärt Lucia. „… (es wird) nur auf NGOs angewendet, die Migrant*innen retten. Und es ist ziemlich klar, dass es für diesen speziellen Fall gedacht ist und verschiedene Arten von Sanktionen gegen Rettungsaktivitäten ermöglicht. Und das ist bereits passiert. Es gibt also verschiedene NGO-Schiffe, die bereits (…) vorübergehend gestoppt wurden. So haben die meisten NGOs diese (Prozedur) durchlaufen, von MSF über Sea Watch bis hin zu Open Arms, Sea Eye und so weiter. Und auch Louise Michel. Im April 2023 war es das zweite Schiff, das nach der Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen festgehalten wurde.“
Beitrag der Zivilbevölkerung als Zeichen der Solidarität
Durch die Geschichten der Aktivist*innen wird auch deutlich, dass die Zivilbevölkerung einen erheblichen Beitrag leisten kann, dem bestehenden politischen System etwas entgegenzusetzen. Im Falle der Aktivist*innen in meinem Film hat die Zivilgesellschaft den Bedarf erkannt und gehandelt: Sie tun dies, indem sie eigene Schiffe im Mittelmeer einsetzen, die Rettungen durchführen, Rettungshotlines koordinieren und transnationale Vernetzungsarbeit leisten.
Jede der Protagonistinnen meiner Recherche setzt sich wirkmächtig aus ihrem persönlichen Umfeld und aus ihrer Profession heraus für ein kollektives Miteinander ein. Über ihr Engagement haben sie sich im Laufe der Jahre kennengelernt und referieren solidarisch aufeinander. Erst die unterschiedlichen Ansätze im Widerstand, die an ganz verschiedenen Stellen und Ländern den restriktiven politischen Systemen begegnen, machen es möglich, über das Meer hinweg menschenrechtlich und humanitär wirkmächtig zu sein. Denn da das politische System, wie oben beschrieben, sich über Grenzen hinweg koordiniert, muss es der Widerstand auch tun.
Wenn Lücken entstehen, weil politische Entscheidungen repressiv getroffen werden, eröffnet das den Raum für solidarisches Handeln. Hierfür kann eine aktivistische Zivilgesellschaft ihre Privilegien zur Verfügung stellen. Lea Reisner bringt es auf den Punkt: „Jede*r sollte seine Privilegien nutzen, um andere Menschen zu unterstützen, wo es gebraucht wird. Nicht in einer bevormundenden Art, sondern auf eine Art und Weise, die geleitet ist von Solidarität. Ich glaube daran, dass auch Individuen Dinge ändern können.“ In den Schicksalen derer, die hier über das Meer fliehen, komme das Versagen der Weltgemeinschaft zusammen und wer hier Veränderung erreichen will, müsse die Ursachen bekämpfen, da ist sich Lea nicht nur mit ihren Crewmitgliedern einig.
Literatur
Dernbach, A. (2019): Seenotrettung im Mittelmeer: Die Kriminalisierung der Helfer geht immer weiter. Tagesspiegel.de, 2.7.2019.
Deutscher Kulturrat (o.J.): Frauen in Kultur und Medien. Homepage zu Studien und Vernetzung über Frauen in der Kulturindustrie (frauen-in-kultur-und-medien.de).
Deutschlandfunk (2021): EU-Türkei-Abkommen. Milliarden statt Migranten. Deutschlandfunk.de, 6.4.2021.
DW (2023): Tunesien: Hetze gegen Migranten aus Subsahara. dw.com, 02.03.2023
Etzkorn, N.; Tröger, J.; Reese, G. (2022): Klimakrise, Kolonialismus und sozial-ökologische Transformation. In: Cohrs, Ch.; Knab, N.; Sommer, G. (Hrsg.): Handbuch Friedenspsychologie. o.O.: ohne Verlag, S. 1-28.
IOM (2022): IOM-Bericht: Mehr als 5.000 Todesfälle auf europäischen Migrationsrouten seit 2021. Pressemitteilung, 25.10.2022.
Jakob, Ch. (2022): Frontex lügt und mauert: Pusbacks auf dem Mittelmeer. taz.de, 29.4.2022.
Kramer, H.; Siefert, A. (2024): Potsdamer Seenotretter vor Gericht: Oberbürgermeister solidarisiert sich mit „Iuventa“-Crew. Tagesspiegel.de, 28.2.2024.
Statista (2024): Geschätzte Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge in den Jahren von 2014 bis 2024.
Tagesschau (2023): Streit über Migrationspakt. Tunesien zahlt 60 Millionen Euro an EU zurück. Tagesschau.de, 12.10.2023.
UNHCR Deutschland (o.J.): Überfahrten über das Mittelmeer. Homepage, unhcr.org.
UNO-Flüchtlingshilfe (2024): Flüchtlingskrise Mittelmeer: Flucht nach Europa. Homepage, Stand März 2024.
Sarah Hüther hat einige Jahre zu Syrien für die NGO »Adopt a Revolution« gearbeitet. Ihr Debühfilm »At the margin« wurde 2020 für den Hessischen Film- und Kinopreis nominiert. Seit 2022 arbeitet sie für ein Mitglied des Bundestages.