Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Vor 60 Jahren: Der »Thirring-Plan«

Abrüstung als Test für Entspannung und friedliche Koexistenz

von Werner Wintersteiner

Im Jahre 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, wie in die ins Stocken geratenen Abrüstungsbemühungen der Supermächte eine neue Dynamik kommen könnte. Vielleicht hätte diese Idee, wäre sie realisiert worden, zu einem früheren Ende des Kalten Krieges beigetragen und das Antlitz Europas positiv verändert. Die Rede ist vom sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Blicken wir 60 Jahre zurück: 1963 kam aus dem neutralen Österreich ein konkreter Vorschlag, der sogenannte »Thirring-Plan«, zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah die Auflösung des Bundesheeres unter UNO-Kontrolle vor. Damit sollte – in einer Zeit, die für Entspannung und Abrüstung ein günstiges politisches Klima bereithielt – das neutrale Österreich einen Anstoß für weltweite Abrüstung und Ächtung der Kriege geben. Eine historische Episode? Eine versäumte Gelegenheit? Ein Vorbild für die Gegenwart? Auf jeden Fall ein historisches Studienobjekt, das Lehren für die heutige kriegerische Zeit bereithält.

Hans Thirring – Wissenschaftler, Friedensdenker und Aktivist

Professor Hans Thirring (1888-1976), der Verfasser des Memorandums »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, war eine anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Theoretischen Physik, der u.a. einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Relativitätstheorie geleistet hatte. In der NS-Zeit in den Zwangsruhestand versetzt, verfasste er sein philosophisches Hauptwerk, »Homo Sapiens«, in dem er den Weg „vom Nationalismus zum Weltbürgertum“ vorzeichnete. Als er 1946 seine Tätigkeit an der Universität Wien wieder aufnehmen durfte, verfasste er als erster Wissenschaftler weltweit ein Werk über »Die Geschichte der Atombombe«, das bald als Standardwerk angesehen wurde und in dem er bereits den Bau der Wasserstoffbombe voraussah. Seither engagierte er sich mit all seinen Kräften für Abrüstung und Frieden. Militarismus und Krieg betrachtete Thirring seit seiner Jugend als „Schandfleck der Zivilisation“ (vgl. z.B. Thirring 1960, S. 4). So begann er, der Physiker, sich mit Psychologie und Politik zu beschäftigen. Mit seinem Buch »Atomkrieg und Weltpolitik« (1948) profilierte er sich als Friedensaktivist. Als einziger deutschsprachiger Wissenschaftler wurde er zur ersten »Pugwash-Konferenz« 1957 nach Kanada eingeladen. Er wurde zum Mitbegründer der gleichnamigen Vereinigung von Naturwissenschaftler*innen, die vor den Gefahren der atomaren Aufrüstung warnt. Zweimal brachte er die Pugwash-Konferenzen nach Österreich und sorgte damit für die Verbreitung der Friedensidee – jenseits der beiden ideologischen Lager im Kalten Krieg.

Der »Thirring-Plan«

Als Mitglied des Bundesrats, der zweiten Kammer des österreichischen Parlaments, entwickelte Hans Thirring 1963 das Memorandum »Mehr Sicherheit ohne Waffen«, den sogenannten »Thirring-Plan« zur einseitigen Abrüstung Österreichs. Dieser sah parallel zur Auflösung des Bundesheeres Verträge mit den sechs Nachbarstaaten vor, die erklären würden, keinerlei territoriale Ansprüche gegenüber der Republik zu haben. Als Gesten ihres guten Willens würden diese Staaten ihre Streitkräfte von den Grenzen zurückziehen. Österreich würde von der UNO als Modell eines abgerüsteten Staates und als Testobjekt der Möglichkeit friedlicher Koexistenz anerkannt. Unbewaffnete UNO-Soldaten würden Österreichs Grenzen überwachen. Die nationale Abrüstung Österreichs sollte also einen internationalen Effekt auslösen.

Thirrings Plan kam nicht aus heiterem Himmel, sondern beruhte auf mehrjährigen Vorarbeiten. Nach den Entspannungssignalen beim Treffen zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy in Wien im Juni 1961, richtete der Physiker einen offenen Brief an die beiden Regierungschefs, der eine Reihe von Fragen bezüglich Kriegsgefahr, Rüstung und Abrüstung enthielt. Er erhielt tatsächlich ausführliche offizielle Antworten. Dadurch ermutigt ging Thirring daran, seinen Plan auszuarbeiten. Die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Welt nahe an einem Atomkrieg war, bestärkte ihn erst recht in der Suche nach neuen Wegen der Entspannung.

Das strategische Ziel der einseitigen Abrüstung

Thirring ging davon aus, dass – angesichts der Atomkriegsgefahr – die allgemeine Abrüstung nicht nur dringend notwendig war, sondern dass auch eine politische Konstellation herrschte, in der diese Notwendigkeit allgemein begriffen wurde. Das hauptsächliche Hindernis dafür, dass der Einsicht auch Taten folgten, war seiner Auffassung nach das gegenseitige Misstrauen. Daher würden vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt und ein positiver Präzedenzfall geschaffen werden müssen, um das Eis zu brechen. Österreich wäre seinem Plan nach dabei die Vorreiterrolle zugekommen.

Für seine Annahmen gab es durchaus gute Gründe. Zu Beginn der 1960er Jahre wurden, trotz Kubakrise, immer wieder Versuche der Deeskalation im Kalten Krieg unternommen. 1962 verständigten sich die Großmächte auf die multilaterale Genfer Abrüstungskonferenz, die unter Schirmherrschaft der UNO stattfand und zunächst 17 Staaten umfasste. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung wurde von einer zunehmenden Anzahl führender Staatsmänner anerkannt. Das internationale Klima war günstig für Abrüstungsvorschläge.

Thirring führte für die Notwendigkeit und Möglichkeit der Abrüstung politische und ökonomische Argumente an. Entscheidend war für ihn der „radikale Umbruch der Weltsituation […], der durch die Drohung des Atomtods und durch den Übergang von der Ära Stalins zu der Chruschtschows verursacht“ (Thirring 1963, S. 13) wurde. Er erwähnte auch den „ungeheuren materiellen Nutzen, der aus der Einsparung der gegenwärtig bei dem Rüstungswettlauf vergeudeten mehr als 100 Dollarmilliarden jährlich resultieren würde“ (ebd., S. 7). Zugleich brachte er aber auch ein grundsätzliches ethisches Argument ein, indem er dafür plädierte, dass „doch in erster Linie die moralische Seite der Angelegenheit mehr Beachtung finden müßte als bisher. Es ist eine Schande und Schmach für die sogenannte zivilisierte Menschheit, daß man heute, fast zwei Jahrtausende nach dem Kreuzestod des Erlösers und zu einer Zeit, da man tief in die Geheimnisse der Atomkerne eindringt und den Mond zu erobern gedenkt, noch immer an der primitiv barbarischen Methode der Austragung zwischenstaatlicher Konflikte durch organisierten Massenmord festhält und für das Weiterbestehen dieses tierischen Atavismus keinen triftigeren Grund angeben kann als das Schauermärchen, daß man ohne kriegerische Vorbereitungen von der Gegenseite umgebracht würde.“ (ebd.)

Als Hindernis identifizierte er allerdings den Widerspruch zwischen dem allgemeinen Wunsch nach Abrüstung und der großen Skepsis „gegenüber der Frage ihrer Realisierbarkeit. Eine jahrtausendealte militaristische Tradition einerseits und dazu das durch unkluge Handlungen beider Seiten immer wieder genährte gegenseitige Mißtrauen andererseits sind schwere psychologische Hemmnisse. Und dazu kommt natürlich noch der nicht zu unterschätzende Widerstand jener Kreise, die an der Aufrechterhaltung des Rüstungswettlaufs finanziell interessiert sind und daher darauf bedacht sein müssen, das gegenseitige Mißtrauen weiter zu schüren.“ (ebd.) Und dieses Misstrauen war in der Tat ein starker Faktor.

Obwohl, wie Thirring ausführte, die „überwiegende Bevölkerungsmehrheit“ aller Länder gegen den Militarismus sei, werde dieses Streben „dadurch unterdrückt, daß die Abrüstungsgegner ständig mit dem Finger auf die Rüstung der Gegenseite hinweisen und diese als eine Angriffsvorbereitung deuten, die eine Aufrüstung der eigenen Nation als eine selbständige Abwehrmaßnahme notwendig erscheinen läßt. Aus diesem Zirkel von gegenseitiger Drohung und Furcht werden wir nur dann herauskommen, wenn endlich einmal ein günstig gelegener Staat nach Prüfung der Lage den entscheidenden mutigen Schritt tut, von selbst mit der Abrüstung anzufangen und dadurch mit gutem Beispiel der Welt voranzugehen.“ (ebd., S. 23)

Daraus ergab sich, wie Thirring argumentierte, eine Situation für neutrale Länder, welche „die in der Geschichte vielleicht noch nie dagewesene Gelegenheit bietet, aus einem Dienst, den sie der ganzen Welt erweisen, gleichzeitig selbst auch erheblichen Gewinn zu erzielen.“ (ebd., S. 5) Konkret: „Wenn nun ein in geeigneter Lage befindlicher neutraler Staat seine bedingte Bereitschaft zu einer einseitigen vollständigen Abrüstung zum Ausdruck bringt, so macht er sich dadurch automatisch zum Testobjekt für die Vertrauenswürdigkeit von Nichtangriffsgarantien. Würde irgendein Nachbar einen Angriff auf das wehrlose Land unternehmen, so würde die Möglichkeit zu einer allgemeinen Abrüstung auf Jahrzehnte hinaus hoffnungslos begraben sein.“ (ebd.) Daher sei der Schutz des unbewaffneten Staates im Interesse aller anderen Staaten.

In seiner Denkschrift untersuchte und verglich Thirring die Position verschiedener neutraler Staaten und kam zu dem Schluss, dass in Österreich am ehesten die Bedingungen für einen Testlauf zur Abrüstung gegeben seien. Das Land sei ausschließlich von Staaten umgeben, die keinerlei Gebietsansprüche gegenüber Österreich stellten, und es habe ohnehin ein nur schwaches Heer und nicht die ökonomische Kapazität, dieses substantiell zu vergrößern. Er präzisierte, wohl etwas zu optimistisch, dass der früher vorherrschende „kollektive Aggressionswillen“ im Atomzeitalter der „Abscheu vor einem neuen Krieg“ und der Furcht vor der totalen Vernichtung gewichen sei. Diese Wahrnehmung bezog sich auf den Ost-West-Konflikt, während Thirring den Nord-Süd-Konflikten (gerade angesichts der Zeit der Entkolonialisierung) offenbar keine Beachtung schenkte.

Zugleich sah er doch die Möglichkeit, durch die Abrüstung mit den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang engere Kontakte zu knüpfen: „Das Entscheidende an der Wirkung einer österreichischen Abrüstung wird darin bestehen, daß die Verbundenheitsgefühle aus der Zeit der alten Monarchie durch den gemeinsamen Horror vor einem Atomkrieg und das vitale Interesse an einer Entspannung wieder neues Leben gewinnen können.“ (ebd., S. 18)

„Darum wird meiner Überzeugung nach Österreich im abgerüsteten Zustand inmitten von wohlgesinnten und auf friedliche Koexistenz bedachten Nachbarn – und dazu als scharf beobachtetes Testobjekt des vordringlichsten Belanges der ganzen Welt – bedeutend sicherer leben als im bisherigen Zustand.“ (ebd.)

Über die Tragweite seines Plans war sich Thirring völlig klar: „Österreich könnte als erster neutraler Staat den fatalen Teufelskreis von gegenseitigem Mißtrauen, Drohung und Furcht brechen und damit als Keimzelle für die allgemeine Abrüstung den Kern einer Gruppe von Staaten bilden, die ihre Verpflichtung gegenüber den Vereinten Nationen, auf Waffengewalt zu verzichten, nicht mehr mit der Ausrede verletzen können, man sei von der Gegenseite bedroht“ (zitiert nach Der Antimilitarist Nr. 35/1964, S. 2).

Widerstand gegen den Thirring-Plan

Thirring schlug vor, den Plan von einer Kommission aus Fachleuten ernsthaft prüfen zu lassen. Dazu kam es allerdings nicht. Denn sein Plan wurde von der österreichischen Regierung eindeutig abgelehnt. Seine eigene Partei, die Sozialisten, damals in großer Koalition mit der konservativen Volkspartei regierend, betonten stattdessen ihr Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität. Aus dem Ausland gab es allerdings teilweise begeisterte Zustimmung, etwa durch Philip Noel-Baker, den ehemaligen Leichtathleten und Mitglied des britischen Parlaments, Friedensnobelpreisträger von 1959. In seinem Schreiben ging er noch weiter als Thirring selbst: „Ich stimme vollkommen deinem Argument bezüglich der nationalen Verteidigung von Österreich, der Schweiz, Schweden, Irland, Finnland zu. Ich bin sicher, dass sie deinen Plan ruhig umsetzen könnten, mit einem großen Gewinn für sie selbst.“ (Brief vom 25. August 1963 an Hans Thirring1) Etwa zeitgleich legte auch Ernst Schönholzer einen Aufruf zur totalen Abrüstung der Schweiz vor, der allerdings eher ein allgemeiner Appell als ein konkreter Plan war. Trotz der Ablehnung des Thirring-Plans hatte er innenpolitisch positive Auswirkungen und gab den Kräften Aufschwung, die die Wehrdienstzeit in Österreich verkürzen wollten. Zur internationalen Wirkung meinen Thirrings Biographinnen: „Der Thirring-Plan mit dem Testfall Österreich war zweifellos zu seiner Zeit noch zu weitgehend. Aber mit den Gedanken und Vorschlägen Thirrings für atomwaffenfreie Zonen ist eine Politik der Abrüstung ins Rollen gekommen […].“ (Zimmel und Kerber 1992, S. 122)

Und heute?

Mit seinem kühnen Plan hat sich Hans Thirring dem generellen politischen Klima der 1960er Jahre in Österreich entgegengestellt, und daran ist er wohl in erster Linie gescheitert. Es ist erschreckend zu sehen, wie wenig sich diesbezüglich bis heute geändert hat. Thirring sprach nämlich von „einer durch die Pressehetze ohnehin schon zu Haßgefühlen aufgestachelten Bevölkerung“ und stellte fest, „daß in der Volksmeinung bis in hochgebildete Kreise hinauf im Osten wie im Westen gewisse stereotype Ansichten über die Weltlage entstehen, die man als das ,weiße Märchen‘ bzw. ,rote Märchen‘ bezeichnen könnte.“ (Thirring 1962, S. 438) Damit meinte er die Feindbilder kommunistische Sowjetunion bzw. amerikanischer Imperialismus. Und er setzte fort: „Beiden Märchen ist das magische Denken mit der Vorstellung von Engeln und Teufeln gemeinsam: Während die eigene Seite über allen Zweifel erhaben engelsrein sei, könne man dem Gegner jede Tücke zutrauen, gegen die man mit entsprechend überlegener Stärke gerüstet sein muß.“ (ebd.) So müssen wir leider feststellen, dass hier eine große Gelegenheit aus Kleinmut, Konservatismus und dem Vorherrschen militaristischer Denktraditionen versäumt wurde.

Da drängen sich Analogien angesichts der allgemeinen Kriegshysterie seit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges auf. Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts nach 2014 sind aus ähnlichen Gründen gescheitert. Und seit der Krieg im Frühjahr 2022 mit dem russischen Angriff offen ausgebrochen ist, wurde auch schon manche Möglichkeit, ihn zu stoppen, außer Acht gelassen.

Es ist es doch bezeichnend, dass etwa der Aufruf des Friedensnobelpreisträgers Oscar Arias aus Costa Rica und des Präsidenten des Global Security Institute, Jonathan Granoff, vom Sommer 2022 keine Chance auf eine ernsthafte Diskussion bekam. Arias, Ex-Präsident Costa Ricas, eines Staats, der tatsächlich ohne Armee ist, also sozusagen den Thirring-Plan verwirklicht hat, schlug vor, dass die NATO Russland mit einer einseitigen Vorleistung zu Friedensverhandlungen motivieren sollte: „Um beide Seiten wieder in den Dialog miteinander zu bringen, bedarf es einer dramatischen Geste. Deshalb schlagen wir vor, dass die Nato den Abzug aller US-Atomsprengköpfe aus Europa und der Türkei plant und vorbereitet, ehe es zu Verhandlungen kommt. Der Abzug würde erfolgen, sobald Friedensbedingungen zwischen der Ukraine und Russland vereinbart worden sind. Dies würde Putins Aufmerksamkeit erregen und könnte ihn an den Verhandlungstisch bringen.“ (Arias und Granoff 2022, o.S.)

Was wir heute umso dringender brauchen, ist ein visionäres Denken im Geiste Thirrings, um aus den gegenwärtigen verheerenden und weltpolitisch äußerst bedrohlichen Kriegen herauszufinden. Dabei sollte man die ermutigenden Worte bedenken, die damals ein vorsichtiger Befürworter Thirrings geäußert hat:

„Man darf auch nicht übersehen, daß Utopien von heute schon morgen oder vielleicht auch erst übermorgen zur Realität werden können. Zweifellos waren die Forderungen, welche die Arbeiterbewegung vor einem Jahrhundert in Deutschland und in Österreich erhob, Utopien, die deshalb belächelt wurden. Viele dieser visionären Wünsche sind längst erfüllt. Realisiert wurden auch Maßnahmen, die vor hundert Jahren nicht einmal die größten Utopisten dachten oder sagten. Man sollte also den Wert von Ideen, die uns heute utopisch vorkommen, nicht unterschätzen.“ (Schranz 1964, S. 175f.)

Anmerkung

1) Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Wien: Nachlass Hans Thirring. B 35-1259/2. URL: phaidra.univie.ac.at/o:129250.

Literatur

Arias, O; Granoff, J. (2022): Nuclear strategy and ending the war in Ukraine. The Hill, 19.7.2022.

Schranz, E. (1964): Abrüstung in Österreich? Internationale Rundschau 3, S. 175-176.

Thirring, H. (1960): Der Mensch im 20. Jahrhundert. Friede. Zeitschrift des deutschen Versöhnungsbundes, Nr. 11/12, S. 2-7.

Thirring, H. (1962): Ein Physiker interviewt Staatsmänner. Physikalische Blätter 18 (9), S. 431-439.

Thirring, H. (1963): Mehr Sicherheit ohne Waffen. Denkschrift an das österreichische Volk und seine gewählten Vertreter. Wien: Jugend und Volk.

Zimmel, B.; Kerber, G. (Hrsg.) (1992): Hans Thirring. Ein Leben für Physik und Frieden. Wien: Böhlau.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. der Alpen-Adria Universität Klagenfurt (AAU), Österreich, ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der AAU.

Engagierte Neutralität

Engagierte Neutralität

von Heinz Gärtner

Seit Jahren wurde nicht mehr so viel über Neutralität diskutiert, wie seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Doch was ist Neutralität und was kann sie leisten, gerade in Zeiten stärker eskalierender und konfrontativerer Weltverhältnisse? In einer Situation der Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen: Bündnismitgliedschaft oder Neutralität. Der neutrale Staat muss glaubhaft und nützlich sein – dann kann Neutralität an sich eine gute Sicherheitsgarantie darstellen. Sie ist als »engagierte Neutralität« das Gegenteil eines Abseitsstehens.

Durch den Krieg gegen die Ukraine wurde im Jahr 2022 wieder verstärkt über die Möglichkeit der »Neutralität« eines Staates diskutiert. Doch was meint Neutralität eigentlich? Neutralität beinhaltet drei wesentliche Aspekte: Die Nichtbeteiligung des Staates an einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten oder anerkannten Parteien in einem Bürgerkrieg, die Nichtmitgliedschaft eines Staates in einem militärischen Bündnis, sowie das Verbot für einen neutralen Staat, sein Territorium fremden Truppen zur Stationierung oder für die Austragung von kriegerischen Handlungen zur Verfügung zu stellen oder Soldat*innen für deren Kriege zur Verfügung zu stellen (vgl. hierzu Gärtner 2008). Insbesondere darf der dauerhaft Neutrale aber auch keine Abkommen über kollektive Verteidigung schließen (Neuhold, Hummer und Schreuer 1991, S. 477). Neutralität ist niemals eine notwendige Bedingung für Frieden gewesen, aber sie vermied in der Vergangenheit eine der möglichen Kriegsursachen: die Teilhabe an kriegsbereiten Militärbündnissen.

Nach Beginn des Kalten Krieges verlegte sich der Schwerpunkt der Neutralitäts-Definition von der Auffassung der Neutralität als der Nichtteilnahme an fremden Kriegen und militärischen Konflikten auf die der Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen. Dies ist deshalb bedeutend, da sich die Mitgliedsstaaten eines Bündnisses verpflichten, individuell und gemeinsam, anderen Mitgliedern, falls sie von außerhalb des Bündnisses bedroht oder angegriffen werden, unter Einschluss militärischer Mittel zu Hilfe zu kommen. Somit schließt sich für einen neutralen Staat die Mitgliedschaft in der NATO aus, da deren Gründungsvertrag eine explizite Beistandsverpflichtung (Artikel V) enthält. Für die Schweiz und Österreich ist der Neutralitätsstatus völkerrechtlich verpflichtend, für Schweden und Finnland eine historisch-politische Tradition. Deswegen gab es für diese beiden Länder keine rechtlichen Barrieren für ihre Anträge im Jahr 2022, der NATO beitreten zu wollen.

Neutrale Staaten nehmen daher eine kompromisslose Haltung zwischen rivalisierenden Bündnissen ein, die nicht notwendigerweise in offene Feindseligkeiten verwickelt sein müssen, aber ein konflikt- und spannungsgeladenes Verhältnis zueinander haben. Das traf insbesondere auf die Beziehungen zwischen den Blöcken im Kalten Krieg zu. Neutralität versucht, die Verwicklung in Kriege von Bündnissen (»entrapment«) zu vermeiden, riskiert aber, im Notfall alleine gelassen zu werden (»abandonment«). In den verschiedenen Phasen in der Nachkriegszeit ab 1945 bis heute bildeten sich unterschiedliche Typen von Polarisierung aus: Es gab Phasen der Bipolarität/Blockbildung, der Unipolarität und schließlich der Tripolarität.

Neutralität als Anomalie der Blockbildung

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Siegermächte die eroberten Territorien besetzt. Es entstanden politisch-militärische Einflusszonen in Europa. Sie beruhten im Wesentlich auf den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, die auf den Konferenzen von Teheran und Jalta bestätigt wurden. Sie waren geprägt durch die Militärbündnisse NATO und die Warschauer-Vertrags-Organisation (WVO). Inoffiziell wurden diese Einflusssphären gegenseitig anerkannt; in der jeweiligen Propaganda warfen sich beide Seiten »kommunistische Expansion« beziehungsweise »Imperialismus« vor. Die Orientierung auf die Neutralität konnte verhindern, dass Finnland in die sowjetisch dominierte Zone einbezogen und Österreich wie Deutschland geteilt wurde. Die neutralen Staaten waren die Ausnahme. Sie waren nicht Teil der Blöcke, sondern die Anomalie. Sie versuchten, außerhalb der Militärbündnisse zu bleiben. Die Neutralen konnten zur Konfliktverminderung beitragen, indem sie gute Dienste, Vermittlungstätigkeiten aber auch Friedenstruppen anboten. Im Rahmen des KSZE-Prozesses bildeten die sogenannten N+N-Staaten einen losen Zusammenschluss von neutralen und nicht-paktgebundenen blockfreien Staaten1 Europas, die keinem der beiden Bündnisse, der NATO oder der WVO angehörten. Sie nahmen auch eine Vermittlungs- und Brückenfunktion zwischen den Blöcken ein.

Unipolarität als Heraus­forderung für neutrale Staaten

Nach dem Ende der Bipolarität entdeckte der Politologe der realistischen Schule Charles Krauthammer das »unipolare Moment«. In der Phase der angenommenen Unipolarität blieb die NATO unter der Führung der USA als alleiniges Militärbündnis übrig.

Für die neutralen Staaten war diese Periode schwierig. Unipolarität strebt nach globaler Dominanz. Für Neutralität gibt es da wenig Platz. Es dominierte die Vorstellung „mit uns oder gegen uns“. In dieser Phase wurden US-Botschaften in neutralen Staaten bei den zuständigen Regierungen und Ministerien vorstellig und beklagten, dass diese etwa zu wenig für die NATO-Operation in Afghanistan beitragen würden. Aktivitäten außerhalb des Bündnisses, wie Friedenstruppen im Rahmen der Vereinten Nationen, wurden von den USA nicht ernst genommen. Das »unipolare Moment« währte aber nicht permanent.

Danach prägte die realistische Schule den Begriff der »Multipolarität«. Vergangene Episoden einer Multipolarität in der Geschichte waren klar mit Polarisierung und Krieg verbunden, wenn man etwa die Perioden vor den beiden Weltkriegen betrachtet. Entgegen der intuitiven Überlegung einer angenommenen Notwendigkeit der Interessenvermittlung bei stärkerer Gleichwertigkeit multipler Pole waren sie nicht per se von größerer Toleranz und Ausgleich geprägt. Sie waren immer von Rüstungswettläufen begleitet. Multipolarität ist mindestens für die heutige Situation auch ein Euphemismus. Es geht im Wesentlichen mittlerweile um eine Tripolarität zwischen den USA, China und Russland. Es gibt auf einer unteren Ebene ökonomische Zentren, wie die EU, Japan, Indien, Brasilien, die aber nicht die militärische Komponente der Großmächte aufweisen. Die US-Sicherheits- und Verteidigungsdoktrinen2 sprechen mittlerweile auch klar von einer Großmachtkonkurrenz: China und Russland würden die USA in vielen Teilen der Welt herausfordern.

Zwei Optionen: Bündnis­mitgliedschaft oder Neutralität

In einer Situation wachsender Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen.

Erstens können sie sich an eine Großmacht anlehnen (»bandwagoning«) und einem Bündnis beitreten, um die eigene Sicherheit zu erhöhen und auch wirtschaftliche Vorteile davon zu haben. Diese Bündnismitgliedschaft kann freiwillig erfolgen, wie bei den meisten NATO-Mitgliedern, oder erzwungen sein, wie es im Falle des Warschauer Paktes während des Kalten Krieges der Fall war. Mitglieder bekommen in der Regel Schutzversprechen (wie etwa mit Artikel V im NATO-Vertrag), weil sie glauben, dass sie ohne Mitgliedschaft im Falle eines bewaffneten Konfliktes alleine gelassen werden könnten (»abandonment«).

Zweitens können sie neutral oder blockfrei bleiben. Damit versuchen sie die Gefahr zu vermeiden, in fremde Großmachtkonflikte hineingezogen zu werden (»entrapment«), weil sie als Gegenleistung zu den Schutzversprechen eines Bündnisses auch Verpflichtungen eingehen, selbst anderen Schutz zu gewähren, auch wenn es nicht im eigenen Interesse sein muss. Damit behält sich der Neutrale die Macht, eine Weisung nicht auszuführen (Definition von Luhmann 1997, S. 355ff.).

Zwei Aufgaben: Glaubhaftigkeit und Nützlichkeit

Um »abandonment« zu vermeiden, muss ein neutraler Staat zwei Bedingungen erfüllen. Der Status der Neutralität muss erstens glaubhaft und berechenbar sein. Zweitens, der neutrale Staat muss nützlich sein (u.a. Gärtner 2022, S. 33-37).

Glaubwürdigkeit bedeutet, dass ein neutraler Staat schon in Friedenszeiten seine Neutralität und Blockfreiheit unzweideutig vermitteln muss. Er muss immer wieder klarstellen, dass er nicht anstrebt, einem Militärbündnis beizutreten und nicht an fremden Kriegen teilnehmen oder fremde Truppen auf seinem Territorium stationieren wird. Er darf keine Bedrohung darstellen, also zum Beispiel keinem von einer Seite als feindlich wahrgenommen Bündnis beitreten oder diese Absicht vermitteln. Um dies mit dem aktuellsten Beispiel zu illustrieren: Die Ukraine wurde von Russland vor der Intervention eben schon als potentielles NATO-Mitglied wahrgenommen, weil sie diese Absicht vermittelt hatte – die glaubhafte Neutralität war ihr abhandengekommen. Offenbar glaubwürdig dagegen waren in ihrem Neu­tralitätsbekenntnis bis zuletzt wohl die skandinavischen Staaten, deren Entscheidung eines Bündnisbeitritts für viele Beobachter*innen eher überraschend kam. Eine zusätzliche Garantie wäre eine völker- und verfassungsrechtlich abgesicherte Neutralität. Glaubwürdigkeit wird auch dadurch unterstrichen, dass der neutrale Staat bewaffnet ist. US-Präsident Dwight Eisenhower etwa stimmte der österreichischen Neutralität nur unter der Bedingung zu, dass sie von Österreich „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, also auch bewaffnet, verteidigt wird (Gärtner 2017, S. 155-161).

Zum anderen muss der neutrale Staat nützlich sein. Nützlichkeit kann mit Kriterien sowohl der realistischen als auch der liberalen Schule gemessen werden. Er kann im Sinne des Realismus die Funktion eines Pufferstaates übernehmen oder im liberalen Sinne gute Dienste anbieten und vermittelnd im weitesten Sinne tätig sein.3 Damit kann sich der neutrale Staat sehr gute Sicherheitsgarantien erwerben.

In der Zeit des Kalten Krieges übernahmen die Neutralen beide Funktionen. Zum einen die der Pufferfunktion: Mit der von Finnland und Schweden 2022 bekundeten Absicht, der NATO beizutreten, wählten sie Bündnismitgliedschaft vor Neutralität. Damit haben sie die sowohl von der Sowjetunion als auch von Russland anerkannte Rolle als Pufferstaat gegenüber der NATO aufgegeben. Sie werden von Russland als Feindstaaten eingestuft werden. Von der NATO wird Finnland nach einem Beitritt als Teil ihrer östlichen Flanke, also als Frontstaat, behandelt werden, was die Vorwärtspräsenz ihrer Waffen einschließen wird.

Zum anderen die Funktion der »guten Dienste«: Neutrale Staaten bieten ihr Territorium und ihre Vermittlung an, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen. Sie können Fazilitatoren oder Vermittler sein, um den wirtschaftlichen und diplomatischen Verkehr aufrechtzuerhalten. Die Präsenz von sicherheitsbezogenen internationalen Organisationen, wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die Organisation für den Vertrag über den umfassenden nuklearen Teststopp (CTBTO), die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder das Wassenaar Arrangement über Rüstungsexportkontrolle, sowie Wirtschaftsorganisationen, wie die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten (OPEC), allesamt in Wien ansässig, sind Beispiele dafür. Wien ist wegen seines neutralen Status auch zum Gastgeber der Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm 2015 und 2021/22 geworden.

Neutralität als Sicherheitsgarantie

Es gibt kaum Fälle, bei denen glaubhaft neutrale Staaten, außer im Zuge von großen Kriegen, Ziel eines Angriffs wurden. Historisch gesehen wurde Neutralität fast immer dann militärisch verletzt, wenn auch Bündnismitglieder angegriffen wurden. Belgien, das vor den beiden Weltkriegen neutral bleiben wollte, wurde genauso angegriffen, wie die Staaten, die Bündnisverpflichtungen abgeschlossen hatten. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland war aber der Anlass für Großbritannien, in den Ersten Weltkrieg einzutreten. Belgien war zuvor fünfundsiebzig Jahre erfolgreich neutral gewesen.

Hingegen können Bündnisse einen eskalierenden Effekt haben, wenn die Entscheidung für Krieg gefallen ist. Studien belegen: Je stärker und häufiger die Bündnisverpflichtungen eines Staates sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Staat in Kriege verwickelt wird (Singer und Small 1966, S. 109-140; Geller und Singer 1998, S. 62ff.). Für kleinere Staaten gilt zudem, dass sie durch ihre Mitgliedschaft in Bündnissen ihre diplomatische Flexibilität verlieren, außenpolitische Krisen ohne Eskalation zum Krieg zu bewältigen (Singer und Krause 2001, S. 15-25).

Die Bündnisbildungen vor dem Ersten Weltkrieg hatten einen stark eskalierenden Effekt. Die österreichischen und deutschen Kaiserreiche unterstützten sich gegenseitig gegen das serbische Königreich und das zaristische Russland. Deutschland mobilisierte gleichzeitig gegen die Mitglieder der französisch-russischen Allianz. Schon 1905 hatte Frankreich größte Schwierigkeiten gehabt, sich als Bündnispartner Russlands aus dem japanisch-russischen Krieg herauszuhalten. Der Weltkrieg wäre möglicherweise verhindert worden, wenn der österreichische Kaiser Franz-Josef dem Rat des britischen Königs Edward VII 1907 gefolgt wäre, die Allianz mit Deutschland aufzugeben, und gemeinsam mit anderen friedlichen Staaten eine Neutralitätspolitik zu verfolgen (Abbenhuis 2014, S. 172). Eine positive Entscheidung des österreichischen Kaisers hätte vielleicht kriegsverhindernd sein können.

Interessanterweise wollen Großmächte durchaus, dass etablierte Neutralität von anderen Großmächten respektiert wird. US-Präsident Eisenhower signalisierte, das neutrale Österreich, obwohl nicht Teil der NATO, zu verteidigen. Österreich, das den Flüchtlingen aus Ungarn während der dortigen Krise 1956 Hilfe leistete, wurde von der Sowjetunion beschuldigt, Ausbildungslager für die Aufständischen zu unterhalten und Waffen über die ungarische Grenze zu schmuggeln. Moskau würde diese Art von Neutralität nicht akzeptieren. Das US-Außenministerium drohte, dass ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten“4 würde. Es war dies ein eindeutiges Bekenntnis zur österreichischen Neutralität. Es war auch keine zufällige Äußerung. Ein Dokument des Nationalen Sicherheitsrates der USA von 1960, das am 18. Jänner 1961 von US-Präsident Eisenhower (zwei Tage vor der Amtseinführung John F. Kennedys) gebilligt wurde, formulierte als Ziel, „jegliche Verletzung der Integrität Österreichs Territorium oder seiner Neutralität als schwerwiegende Bedrohung des Friedens zu behandeln“.

In dieser Tradition argumentierte der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky als er viele der internationalen Organisationen in Wien anzusiedeln half. Dies geschah zur Zeit des »heißesten« Höhepunktes des Kalten Krieges mit gegenseitigen Nukleardrohungen der USA und der Sowjetunion. Kreisky sah in den internationalen Organisationen eine Nützlichkeit des neutralen Österreich für Großmächte und damit eine gewisse Garantie vor einem nuklearen Angriff. Diese Idee war auch ein Hinweis darauf, dass Nuklearmächte selbst Interesse daran haben müssten, diese indirekten Sicherheitsgarantien zu gewähren.

Konsequenzen für die Ukraine: permanente Neutralität oder permanente Teilung

Die Umsetzung des Vorschlags einer Neutralität der Ukraine nach dem Vorbild Österreichs, der schon 2014 (Gärtner 2014, Kissinger 2014) gemacht wurde, hätte möglicherweise den Krieg verhindern können. Die Ukraine hätte auf den NATO-Beitritt verzichten, Russland aber auch seine Präsenz durch die Unterstützung der Milizen im Osten aufgeben müssen. Die russisch unterstützten Milizen im Donbas sollten unter anderem sicherstellen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt.

Weder die Ukraine, noch die NATO, noch Russland waren jedoch dazu bereit, die Option der Neutralität zu erkunden. Mit ihrer Absichtserklärung, der NATO beizutreten, hat die Ukraine ihre Neutralität nach dem Gipfel der NATO in Bukarest 2008, die 2014 in der Verfassung verankert wurde, endgültig aufgegeben. Ein erkennbares russisches Motiv für die Invasion in der Ukraine war nicht deren bis dato neutraler Status, sondern eben genau ihre Absicht, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten. Russland selbst war nicht bereit, über die Forderung nach Bündnisfreiheit hinauszugehen und die Bedingungen der Neutralität zu akzeptieren, was die Aufgabe der Unterstützung der Milizen im Osten bedeutet hätte. Die Ukraine hätte einen glaubwürdigen Pufferstaat zwischen Russland und der NATO abgeben können, eine Funktion, die Finnland und Schweden jahrzehntelang erfüllt haben.

Die Eskalation des Krieges seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 macht eine Teilung der Ukraine immer wahrscheinlicher. Für die Ukraine könnte sich aus heutiger Sicht die Alternative stellen: permanente Neutralität oder permanente Teilung. Die mögliche Teilung der Ukraine würde vielmehr der Teilung Deutschlands oder auch Koreas nach dem verlustreichen Krieg 1950 bis 1953 ähneln. Dieses Ergebnis würde einen neuen Eisernen Vorhang oder gar »Cordon Sanitaire« vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer zur Folge haben. Russland stünde dann eine Rumpfukraine im Westen mit NATO-Kandidatenstatus gegenüber.

Ein drittes Szenario könnte aus dem Beispiel des zehnjährigen Abnützungskriegs der Sowjetunion in Afghanistan abgeleitet werden. Den Szenarien der permanenten Neutralität und permanenten Teilung käme ein weiteres hinzu: permanenter Krieg.

Nützlichkeit durch »Engagierte Neutralität«

Neutrale Staaten dürfen nicht Teil dieser globalen und regionalen Auseinandersetzung sein. Im Sinne einer »engagierten Neutralität« können sie aber Diplomatie und Vermittlung anbieten. Sie stellen für Großmächte, anders als die Bündnisse, keine Bedrohung dar. Neutrale Staaten sind nicht wertneutral und dürfen es auch in diesem Krieg nicht sein. Im Gegenteil, »engagierte Neutralität« bedeutet, Stellung zu nehmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Krieg. Neutrale Staaten sind aber nicht gezwungen, die Positionen von Großmächten oder Bündnissen zu übernehmen.

Neutrale Staaten können sich in den Vereinten Nationen und in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik engagieren oder bei Friedensoperationen teilnehmen, wenn sie von den Vereinten Nationen autorisiert sind.

Engagierte Neutralität ist somit das Gegenteil von Abseitsstehen. Sie bedeutet Einmischen, wann immer möglich, und Heraushalten, wann immer nötig. Damit kann sie ein wertvoller Beitrag der Vermittlung und der Deeskalation in Zeiten immer schärfer werdender Konfrontationen sein.

Anmerkungen

1) Ebenso wie Neutralität bedeutet Bündnis- oder Blockfreiheit den Verzicht auf Bündnismitgliedschaft. Ihr Ziel ist es, zu verhindern, dass die Blockbildung auf die Länder des Südens übergreift. Damit unterschieden sie sich von den neutralen Staaten. Sie verbieten auch nicht notwendigerweise die Truppenstationierung ausländischer Mächte, wie die neutralen Staaten.

2) Es sind dies die »National Security Strategy« (NSS), die »National Defense Strategy« (NDS) und die »Nuclear Posture Review« (NPR).

3) Die Nützlichkeit im Verständnis der liberalen Schule basiert auf denen der Republiken von Immanuel Kant. Sie treiben Handel und gewähren Gastrecht.

4) Zit. nach Bild-Telegraph, 7.11.1956.

Literatur

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Prof. Dr. Heinz Gärtner (1951) lehrt unter anderem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Derzeit leitet er auch den Beirat des International Institute for Peace (IIP).