Analyse und Debatte
„Uns hält man nicht auf. Keiner kann uns stoppen.“
Zustand und Aufbruch der israelischen Friedensbewegung
von Johannes Zang
Nach über zwanzig Jahren effektivem Stillstand und massiven Hindernissen durch rechtskonservative Regierungen steht die Frage zu beantworten: Wie steht die Friedensbewegung in Israel 2023 da? Doch um diese Bewegung und ihre Ziele, Hoffnungen und Scheitern besser in Kontext zu setzen und auch um zu verstehen, weshalb die heutige Friedensbewegung in Israel derart geschwächt dasteht, bedarf es einer kurzen Geschichte der Friedensbewegung.
Editorische Notiz: Der Artikel entstand über den Sommer 2023. Nach dem Hamas-Massaker Anfang Oktober aktualisierte der Autor einige Zahlen am Ende des Textes und fügte dort zudem einige Sätze ein.
Steht dem Parents Circle bei! Friedenserziehung hat das Recht, an israelischen Schulen unterrichtet zu werden!“ So lautete eine Anfang August lancierte Petition der US-amerikanischen Freunde des sogenannten Elternkreises (E-Mail der American Friends of the Parents Circle, 3.8.2023). Diese unterstützen den »Parents Circle« in Israel/Palästina, eine Gruppe etwa 700 israelischer und palästinensischer Hinterbliebener, die alle einen Angehörigen beweinen, getötet im Konflikt, während einer Intifada oder in einem der israelischen Kriege. Seit 20 Jahren haben diese Trauernden zu zweit – ein Israeli, ein Palästinenser – Oberstufenschüler*innen ihre Leidensgeschichte und ihren Weg in die Versöhnungsarbeit geschildert. 261 Mal sprachen sie in israelischen Schulen im vergangenen Jahr (in Palästina: 20 Mal).1
Damit ist es vorerst vorbei – auf israelischer Seite. Die so genannten Klassendialoge stünden „im Widerspruch zu den Werten des Bildungsministeriums“, verlautbarte dasselbe. Die US-amerikanische Unterstützerorganisation »Partners for Progressive Israel« ist „empört, aber nicht überrascht“ von dieser Entscheidung und erbittet Unterstützung der Petition an Bildungsminister Kisch (Likud-Partei). Diese besteht aus lediglich drei Sätzen, einer lautet: „Palästinensische und israelische Hinterbliebene, die für Frieden eintreten, mundtot zu machen, gefährdet die israelische Demokratie.“ Nach Ansicht von »Partners for Progressive Israel« hat der Elternkreis seit den Nullerjahren einen „unersetzlichen Beitrag für die israelisch-palästinensische Friedensbewegung geleistet.“ (PPI 2023)
Dieses Beispiel steht nur für viele weitere ähnlich gelagerter Schwierigkeiten, denen die israelische Friedensbewegung begegnen muss. Wie steht sie aktuell da? Hat sie angesichts der derzeitigen ultranational-strengreligiösen Regierung Israels eine Überlebenschance? Wer gehört ihr an? Und seit wann existiert sie?
Die Entstehung einer »Friedensbewegung« in Israel
Die »Alliance for Middle East Peace« (»Allmep«) listet auf ihrer Internetseite 170 israelische, palästinensische oder bi-nationale Organisationen und Initiativen auf, die sich für Dialog, Gleichberechtigung, Koexistenz, Menschenrechte, Frieden oder Versöhnung engagieren; manche verschwinden, immer wieder entstehen neue. Sie heißen »A Land for All«, »Hands of Peace«, »Combattants for Peace« (Friedensstreiter), »One Voice Movement«, »Samen des Friedens«, »Abraham Initiatives«, »Kids4Peace« oder »Omdim bejachad« (hebr. Zusammenstehen).
Hillel Schenker, israelischer Chefredakteur des Palestine-Israel Journal und selbsterklärter »Friedensaktivist« rechnete im Interview für diesen Beitrag weitere Gruppen dazu, etwa die Rabbiner für Menschenrechte (»Rabbis for Human Rights«), die Veteran*innenorganisation »Breaking the Silence«, ferner die Menschenrechtsorganisationen »Ir Amim« (hebr. Stadt der Völker), »Yesh Din« (hebr. Es gibt Recht und Gesetz), »HaMoked« oder auch die »Ärzte für Menschenrechte«.2 Wichtig war Schenker in seiner Aufzählung, auch die Genfer Initiative zu erwähnen. Im Oktober 2003 wurde sie, von Mitgliedern der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft verfasst, von ehemaligen Ministern – einem Israeli und einem Palästinenser – unterzeichnet und sollte eine große zivile Solidaritätsbewegung anstoßen. Am 3. August 2023, wenige Tage nach dem Interview mit Schenker, vermeldete das Schweizer Nachrichtenportal swissinfo.ch (2023) jedoch: „Schweiz beerdigt Genfer Initiative nach 20 Jahren.“ Die Zeit sei reif für einen „innovativeren und effektiveren“ Ansatz, erklärten die für die Initiative Verantwortlichen. All diese Organisationen, Initiativen und Kampagnen stehen für eine breite zivilgesellschaftliche Friedensbewegung in Israel. Ihre Ursprünge sind bislang wenig beleuchtet.
Schenker vermutete im Interview, der Begriff »Friedensbewegung« für ein spezifisches zivilgesellschaftliches Handeln sei erst nach dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Sadat 1977 in Jerusalem aufgekommen, wirklich Bedeutung erlangt hätte er jedoch „vor allem nach der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen 1993 zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO.“ Schenker, der seit Jahrzehnten mit seinem palästinensischen Co-Herausgeber Ziad Abu Zayyad die einzige israelisch-palästinensische Publikation zwischen Mittelmeer und Jordan veröffentlicht, versichert: „Bevor Sadat kam, war Frieden nur Theorie.“
Nach dessen Besuch ermutigten 348 israelische Reserveoffiziere mit einer Petition Premierminister Begin, den so begonnenen Friedensprozess fortzuführen. Diese Petition, in Tageszeitungen abgedruckt, führte im März 1978 zur Gründung von »Schalom achschaw« (hebr. »Frieden Jetzt«), einer basisdemokratischen Organisation. Diese erklärt auf ihrer Internetseite: „Zig Tausend Israelis unterstützten den Brief und die Bewegung war geboren.“ Auf einer Kundgebung riefen die Demonstrant*innen Begin auf, im Tausch mit der 1967 eroberten Sinai-Halbinsel Frieden mit Ägypten zu schließen. Da habe man erkannt, so Schalom achschaw, „dass öffentlicher Druck und Kampagnen für den Friedensprozess den Lauf der Geschichte diktieren könnten und würden.“ (ebd.)
Naomi Chazan, Politologie-Professorin, Ex-Knessetmitglied und selbst Friedensaktivistin, verortet die Wurzeln des Friedenslagers zwischen 1967 und 1987 und beschreibt die Entstehung als „allmählich.“ In ihrem Essay »The Rise of the Israeli Peace Camp« (2021) für die Heinrich Böll Stiftung in Tel Aviv charakterisiert sie ihre Gesellschaft um 1980 allerdings so: „Die meisten Israelis waren an Frieden nicht interessiert, es war ihnen gleichgültig, welche Folgen es haben könnte, ihn nicht aktiv zu fördern.“ (2021, S. 3)
Während dieser ersten 20 Jahre seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 seien „die einzigen Schritte, Israels Beziehungen mit seinen unmittelbaren Nachbarn zu fördern, sporadisch und unbedeutend“ gewesen, ausgegangen von „linken Aktivisten“ wie dem Knessetabgeordneten Uri Avnery, dem Ex-General Matityahu »Matti« Peled oder Lyova Eliav, dem früheren Generalsekretär der Arbeitspartei Avoda. Diese knüpften Kontakte zur palästinensischen Seite, etwa zur Birzeit-Universität, zu Dr. Issam Sartawi und Said Hamami (beide von der palästinensischen Abu-Nidal-Gruppe ermordet). Letzterer, so erklärte Avnery in seinem Interviewbuch »Zwei Völker – zwei Staaten«, sei der „erste Beauftragte Arafats für den Dialog mit Israelis“ gewesen und obendrein „äußerst sympathisch“ und „sehr gemäßigt; er glaubte daran, dass ein Frieden mit Israel nötig und möglich sei.“ (Avnery 1995, S. 146) Arafat, so Avnery, habe, um eine Grundlage für ein Abkommen zu schaffen, selbst israelische Persönlichkeiten kontaktiert, die Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Regierungspolitik in Israel hatten. (ebd.)
Das »Goldene Zeitalter« der Friedensbewegung
Die Besatzung zu beenden und einen palästinensischen Staat neben Israel zu errichten – das waren die bislang nie gehörten und für viele unerhörten Forderungen der Friedensbewegten. Avnery nennt sie (und damit sich) „jene Pioniere des Friedens“, die bereits 1975 – und damit vor dem Sadat-Besuch – den „israelischen Rat für einen israelisch-palästinensischen Frieden gründeten.“
Naomi Chazan urteilt über diese Friedenssucher bis 1987, bis zum Ausbruch des ersten palästinensischen Aufstandes (Intifada): Ihre deutlich weitreichenderen Außenseiterpositionen hätten kaum Anklang gefunden, nicht einmal bei Schalom achschaw. „Da es seitens der Öffentlichkeit so gut wie keine Unterstützung gab und kaum einen Zugang zum Establishment, hatte das unerfahrene Friedenslager keinen wesentlichen Einfluss auf israelische Politik und Entscheidungsträger.“ Misstrauen und Skepsis saßen in weiten Teilen der Bevölkerung einfach zu tief.
Für Tamar Herman vom Israeli Democracy Institute hatte bereits Ende der 1970er Jahre das „goldene Zeitalter der Friedensbewegung in Israel“ begonnen, im engeren Sinne ihren Höhepunkt aber vor allem „nach dem Ausbruch der ersten Intifada 1987“ gesehen (Herman 2017, o.S.). Naomi Chazan indes grenzt die „Blütezeit“ sehr viel enger auf die sechs Jahre zwischen 1987 und 1993 ein. Die Beziehungen zu den Palästinenser*innen wurden ihr zufolge „schlagartig ein nationales Thema“ (Chazan 2021, S. 4), als der erste Palästinenseraufstand im Dezember 1987 in Gaza ausbrach und wenig später auf das Westjordanland übersprang. „Von da an (…) vergrößerte sich das Friedenslager und wurde viel aktiver.“ (ebd.)
Neue Organisationen, Initiativen und Denkfabriken entstanden – mit Fokus auf Dialog, wirtschaftlicher Kooperation, Frieden oder Menschenrechte. Sie hießen »Professoren gegen Besatzung«, »HaMoked«, »East for Peace« oder »Reshet« – einige existieren bis heute. Auch wenn jede Gruppe ihren Schwerpunkt hatte, befürworteten sie alle direkte Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinenser*innen, um den Konflikt ein für allemal zu beenden. „Land für Frieden“ wurde ein geflügeltes Wort und meinte: Der Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten sollte mit Frieden belohnt werden.
Zeitgleich trafen palästinensische Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und der akademischen Welt israelische Politiker*innen öffentlich oder geheim. „Dutzende solcher Treffen halfen, die tiefsitzenden Stereotypen über die jeweils andere Seite zu überwinden und konstruktive Bande zwischen potenziellen Verhandlungspartnern zu schaffen“, erläutert Chazan (2021, S. 5). Immer mehr Parlamentarier*innen „stimmten in den Chor ein, der zu direkten Verhandlungen aufrief.“ (ebd.)
1991 unternahmen die USA mit Außenminister James Baker einen neuen Anlauf „zur Entschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts“, schreiben Jörn Böhme und Christian Sterzing in ihrem Buch »Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts« (2023, S. 65). Delegationen aus Israel, Syrien, dem Libanon sowie eine jordanisch-palästinensische trafen sich für drei Tage in Madrid. Für Naomi Chazan nahm die israelische Regierung „widerwillig“ teil, die Konferenz sei jedoch ein wichtiger „Wendepunkt für das Friedenslager.“ (2021, S. 5) Auch wenn in den Monaten danach keine wesentlichen Fortschritte erzielt wurden, war der diplomatische Prozess angestoßen, was letztlich auch Yitzhak Rabin 1992 an die Regierung brachte. Er nahm in seine Koalition auch die links-liberale Drei-Parteien-Liste »Meretz« auf, die seit jeher den Rückzug aus den besetzten Gebieten befürwortet hatte und laut Böhme und Sterzing „zum Teil aktiv an dem verbotenen Dialog mit Repräsentanten der PLO beteiligt“ (2023, S. 67) gewesen war. Damit wurde erstmals eine Partei an der Regierung beteiligt, „die sich als parlamentarischer Arm der israelischen Friedenskräfte verstand.“ (ebd.) Meretz-Mitglieder wurden nicht nur in die Knesset gewählt, manche wurden sogar zu Minister*innen ernannt wie Shulamit Aloni, der das Erziehungsministerum anvertraut wurde. „Frieden schien tatsächlich möglich“, fasst Chazan (2021, S. 5) die Stimmung vor 30 Jahren zusammen.
Noch 1992 wurde der Friedensblock Gush Shalom gegründet. Uri Avnery, Michel Warschawski, »Matti« Peled und Mitstreitern erschien die Politik Rabins nicht ausreichend am Frieden orientiert, daher wollten sie die öffentliche Meinung dahingehend beeinflussen – mit Zeitungsannoncen, Kampagnen und Demonstrationen.
Im Folgejahr, 1993, wurde nach Geheimgesprächen unter Vermittlung des norwegischen Außenministers Holst (Oslo-Prozess) in Washington im Beisein von PLO-Chef Arafat, Israels Premierminister Rabin und seinem Außenminister Peres sowie US-Präsident Clinton die Prinzipienerklärung unterzeichnet. Die PLO erkannte damit das Existenzrecht Israels an und dieses seinerseits die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes. Das Papier ließ laut Böhme und Sterzing „breiten Interpretationsspielraum“ und „steckte voller Risiken, aber auch Chancen.“ Gleichwohl bezeichnen sie das auch Oslo-I-Abkommen genannte Papier als „historischen Durchbruch.“ Zwei Konfliktparteien, die sich „jahrzehntelang wechselseitig die Existenzberechtigung abgesprochen hatten“ führen direkte Verhandlungen, und das ohne US-amerikanische Vermittlung. (Böhme und Sterzing 2023, S. 68ff.)
In der Folge der Verhandlungen wurde das Friedenslager deutlich größer und durchdrang immer mehr politische Zirkel. „Einige der Anführer waren nun direkt an Verhandlungen beteiligt“, erläutert Chazan (2021, S. 7) und nennt Yossi Beilin, Shulamit Aloni, Yossi Sarid und Avraham Burg (später bekannter Autor von »Hitler besiegen«).
Rückschläge und Enttäuschungen
Doch die Euphorie verflog bald: Die Verhandlungen wurden zunehmend verfahren und kompliziert, Frustration stellte sich allseits ein. Palästinensische Selbstmordattacken, enorm beschleunigter israelischer Siedlungsbau, Liquidierung mutmaßlicher palästinensischer Drahtzieher sowie weiter bestehende israelische Daumenschrauben in punkto Bürokratie (z.B. bei Familienzusammenführungen oder dem Vorenthalten von Baugenehmigungen) zerfraßen das gerade erst mühsam aufgebaute Vertrauen. Verübten palästinensische Gruppierungen in den gesamten 1980er Jahren nur einen einzigen Selbstmordanschlag in Israel, waren es 1993 zwei (zwei Tote), ein Jahr später bereits fünf (38 Tote) und 1995 und 1996 jeweils vier (98 Tote insges.); etwa 100 weitere Israelis kamen in den besetzten Gebieten ums Leben. Das Land wirkte traumatisiert und fiel 1995 nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Rabin durch einen jüdischen Terroristen und Friedensgegner in eine Schockstarre.
Benjamin Netanyahus Regierungsübernahme 1996 verstärkte die Orientierungslosigkeit, er legte der Friedensbewegung weitere Steine in den Weg. Auf der anderen Seite töteten von 1993 bis 1996 laut israelischer Menschenrechtsorganisation B’Tselem israelische Soldat*innen, Grenzpolizist*innen und Zivilist*innen (in der Regel Siedler*innen) 451 Palästinenser*innen zwischen Mittelmeer und Jordan, darunter 70 Minderjährige. Auch hier gerieten Friedensbewegte in Erklärungsnot gegenüber Landsleuten, warum sie an der Idee der Aussöhnung und eines Friedensschlusses festhielten, wo sich doch deutlich das Scheitern dieser Idee zeige.
„Das einst dynamische Friedenslager begann sich aufzulösen und seine Ziele aus den Augen zu verlieren“, meint Chazan (2021, S. 6). Dieses, stellt sie rückblickend fest, habe mit der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen 1993 den „Gipfel seiner Errungenschaften“ erreicht. Kein Wunder, dass Chazan die sieben Jahre bis 2000 als »Institutionalisierung und Niedergang« charakterisiert. In diesen Jahren – von Chazan nicht erwähnt – fanden jedoch hunderte, wenn nicht eine vierstellige Zahl, von Dialogtreffen statt: Israelische Journalist*innen, Soziolog*innen, Historiker*innen und Lehrer*innen trafen palästinensische Kolleg*innen auf Kreta, Zypern und sehr oft in der Türkei, vor allem in Antalya.3 Die Begegnung in Israel oder Palästina wäre angesichts von Passierscheinen und Kontrollpunkten ungleich schwieriger zu organisieren gewesen, wenn nicht gar unmöglich. Jugendliche beider Seiten trafen sich ebenfalls im Ausland, auch in Deutschland. Oft förderten europäische Regierungen, die EU, kirchliche Hilfswerke oder wohlhabende Mäzene diese Begegnungen gänzlich oder großteils. Sie fanden, wenngleich in deutlich geringerer Zahl, auch während der zweiten Intifada (2000-2004) und danach noch statt.
Doch weshalb muss diese Phase trotz des Suchens nach Kontakt, Austausch und Begegnung als Niedergang betrachtet werden? Dem Volksaufstand der zweiten Intifada vorausgegangen war der hektisch einberufene Camp-David-Gipfel im Sommer 2000. Chazan erwähnt das gescheiterte Treffen beiläufig und nennt keine Details. Für Redakteur Hillel Schenker jedoch war das der „Hauptgrund“ für den Niedergang des israelischen Friedenslagers. Binnen zwei Wochen wollten der israelische Premierminister Barak und der palästinensische Präsident Arafat mit Bill Clinton an dem geschichtsträchtigen Ort in den USA wenn schon kein »Endstatusabkommen«, so doch wenigstens den Fahrplan zur Konfliktlösung ausarbeiten. Als der Gipfel ohne Übereinkunft endete, wurden nach Schenkers Meinung „zwei große Fehler“ begangen.
Erstens hatte Gastgeber Clinton zuvor versichert, keiner der Parteien die Schuld zu geben, sollte der Gipfel scheitern. Doch „er gab Ehud Baraks Bitte nach, den Palästinensern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das ermöglichte es Barak zu erklären, dass ‚Es keinen palästinensischen Partner für den Frieden gibt’. Das war ein vernichtender Schlag für das Friedenslager.“ Uri Avnery verfasste für seinen Friedensblock »Gush Shalom« wenige Monate später 80 Thesen für ein neues Friedenslager. Schon die erste These lautete: „Der Friedensprozess ist zusammengebrochen und hat einen großen Teil des israelischen Friedenslagers mit sich gerissen.“ (Avnery o.J.) Er blieb jedoch auch im Angesicht dieser Schwierigkeiten seinen Überzeugungen treu und formulierte als 80. These: „Die Unterzeichnung eines Friedensabkommens und dessen ehrliche Umsetzung wird zur historischen Versöhnung zwischen den beiden Nationen führen, die auf Gleichheit, Zusammenarbeit und gegenseitiger Achtung beruht.“ (ebd.)
Inwiefern das Manifest auch innerhalb der Bewegung für Veränderungen gesorgt hat, wird kontrovers diskutiert. Manche sahen Avnery, auch wegen seiner häufigen Medienpräsenz, ohnehin etwas kritisch. Sicher ist: Weiter geschwächt wurde das Friedenslager durch die Gewaltwelle der zwei Monate später ausbrechenden zweiten Intifada, die laut Hillel Schenker „über 1.000 Israelis tötete, das Vertrauen der meisten Israelis in die Absichten der Palästinenser*innen untergrub und die Mainstream-Gesellschaft Israels nach rechts rutschen ließ, vor allem die jüngere Generation.“
Und heute? Zustand einer geschwächten Bewegung
Seither kam weder die Friedensbewegung jemals wieder auf die Beine noch kamen ernsthafte Verhandlungen zustande. Das Friedenslager, vor allem seit dem Jahr 2000 durch ausländische Friedensfachkräfte4 unterstützt, war uneins hinsichtlich Strategie und Zielen und tat sich schwer, Nachwuchs zu rekrutieren. Die überwiegend rechts-nationalen Regierungen Israels der letzten 20 Jahre behinderten außerdem Friedens- und Menschenrechtsaktivisten massiv. Ksenia Svetlova hat 2021 für die Böll-Stiftung in Tel Aviv die Analyse »The Lost Decade of the Israeli Peace Camp« (Das verlorene Jahrzehnt des israelischen Friedenslagers) verfasst. Darin erläutert sie, wie der „Verhandlungsstillstand“ israelische wie palästinensische Unterstützung für die Zwei-Staaten-Lösung verringert hat. Sie weist jedoch auf eine weitere, relativ neue Hürde für alle Friedensbewegten hin: Organisationen, teils von der israelischen Regierung finanziert, attackieren, beleidigen und verleumden gezielt das Friedenslager, wie etwa die „extremistisch-rechte Organisation Im Tirzu“ (2021, S. 6); außerdem organisieren sie „bösartige Kampagnen gegen Menschenrechtsorganisationen, linke Politiker*innen, Sänger*innen, Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen“ (ebd.). Dem Friedenslager sei es schwer gefallen, sich zu wehren, auch wegen interner Querelen. „Anstatt sich auf Netanyahus Strategie der Zerstörung des Friedenslagers zu konzentrieren, waren die unterschiedlichen Gruppen in endlosen internen Debatten gefangen.“ (ebd., S. 8) Zerstritt man sich in den 1980er Jahren über die Fragen „Mit der PLO reden?“ oder „Wehrdienst leisten? Und wenn ja, wo?“, so debattierte man nun über (fehlenden) Patriotismus, Menschenrechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten und das Ausmaß erlaubter Kritik an israelischer Politik.
Svetlova, in Moskau geboren, Journalistin, Nahostexpertin und selbst Parlamentsmitglied der 20. Knesset, beendet ihre Analyse mit dieser Prognose für das Friedenslager: „Die Unterstützung der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, nach einer zehnjährigen Schmierkampagne gegen die Linken und die Palästinenser, wird extrem schwer, wenn nicht gar unmöglich sein.“ (ebd., S. 9)
Nicht wenige israelische Jüd*innen schauen auf Friedens- und Menschenrechtsaktivisten abfällig herab, verachten sie als blauäugige »Peaceniks« und links, manche sehen in ihnen Verräter*innen und feinden sie an – sogar in der eigenen Familie.
Einen weiteren Gegner des Friedenslagers hat keine*r der bisher Zitierten angeführt: Die israelische Rüstungs- und Sicherheitstechnikindustrie. Hunderte von kleinen, mittelgroßen und staatseigenen Firmen wie »Elbit Systems« oder »Rafael Advanced Defense Systems« exportieren in über 130 Länder, ihr jährliches Gesamtvolumen bewegt sich zwischen acht und zehn Mrd. US$. Zusätzlich sollen fast 7.000 Israelis mit Waffen handeln – versichern israelische Rüstungsforscher wie Jonathan Cook, Jeff Halper, Shir Hever oder Regisseur Yotam Feldman (Feldman 2013). Ihnen zufolge leben 150.000 Haushalte in Israel von der Militärindustrie (Zang 2021, S. 82f.). Forscherin und Aktivistin Sahar Vardi ist überzeugt, die Rüstungsindustrie „ist davon abhängig, ihre Produkte weiterhin testen, entwickeln und als `kampferprobt´ vermarkten zu können, das heißt, sie ist davon abhängig, dass der Konflikt fortbesteht.“ (Vardi, o.J.) Die Rolle dieses »unsichtbaren« Gegners gilt es, weiter zu erforschen. Sicher ist, dass Rüstungsfirmen und Waffenmessen sowohl finanzielle als auch ideelle Unterstützung durch die Politik erhalten; obengenannte Forscher belegen sogar, wie ehemalige Militärs oder Politiker in Rüstungsgeschäfte involviert sind.
Noch nie in der Geschichte des israelischen Friedenslagers erschien der Einsatz für Verständigung und Aussöhnung so sisyphosgleich aussichtslos wie aktuell. Dutzende von Auszeichnungen für Dialog und Frieden wurden Einzelpersonen und Gruppen in Israel und Palästina verliehen seit Rabin, Peres und Arafat 1994 den Friedensnobelpreis entgegennahmen.
Doch Frieden scheint 2023 angesichts der nationalistischsten Regierung in der Geschichte Israels und erst recht seit dem gerade erfolgten Angriff von Attentätern der Hamas aus dem Gaza-Streifen heraus Lichtjahre entfernt zu sein. Es stehen sich eine israelische Regierung, in der ein Minister folgenlos zur „Auslöschung“ einer palästinensischen Kleinstadt aufgerufen hat, und eine radikalisierte militärische Macht im Gaza-Streifen, die auch vor der Tötung von Festivalbesucher*innen, Greisen und Kleinkindern nicht zurückschreckt, gegenüber.
Töteten israelische Sicherheitskräfte 2022 mit 151 fast doppelt so viele Menschen im Westjordanland wie im Jahr zuvor, so beendeten sie bis einschließlich 18. September dieses Jahres das Leben von 212 Palästinenser*innen, darunter 38 Kindern, laut UN-Agentur OCHA. Auch der bisherige Rekord an Siedlerattacken (2022: 849) gegen Palästinenser*innen, ihr Vieh, ihre landwirtschaftlichen Geräte oder Bäume dürfte gebrochen werden, liegt die Zahl doch schon jetzt bei 798.5
Seit vergangenem Samstag, dem 7. Oktober, müssen zu diesen traurigen Zahlen diese addiert werden: 1.300 getötete Israelis 6 und 2.300 Palästinenser*innen, dazu tausende Verwundete auf beiden Seiten (Haaretz 2023). Die Zeichen für eine innergesellschaftlich erfolgreiche Friedensbewegung stehen schlechter denn je.
Aufbruch und Ausblick
Für Hillel Schenker hatten die Massenproteste seit Jahresbeginn gegen Netanyahus Regierung noch „neue Möglichkeiten für das Friedenslager eröffnet.“ Nun sei das Thema Besatzung auf der Tagesordnung, bei den Samstagsprotesten in Tel Aviv gebe es sogar eine „Ecke mit einem Anti-Besatzungs-Block“, in Haifa und Beer Sheva hätten Redner*innen die Besatzung thematisiert. „Die Tatsache, dass zum ersten Mal in der israelischen Gesellschaft ernsthaft über die Natur der Demokratie diskutiert wird, wird hoffentlich zu einer Diskussion darüber führen, dass es volle Demokratie mit einer Besatzung nicht geben kann.“
Der eingangs erwähnte Elternkreis wurde kürzlich von seinem US-amerikanischen Freundeskreis zu einem »Not- und Ernstfall«-Webinar eingeladen. Die vier Diskutant*innen, darunter eine Israelin und ein Palästinenser vom Elternkreis gaben sich gegenüber den weltweit 400 Zuhörenden an den Bildschirmen kämpferisch. Man werde alles mobilisieren, um wieder an die Schulen zurückkehren zu können. Ayelet Harel fasste es so zusammen: „Mein Bruder und Bassams Tochter wurden getötet – um ihretwillen brauchen wir jetzt Frieden.“ Dann erklärte sie: „Uns hält man nicht auf. Keiner kann uns stoppen.“
Diese Zuversicht ist angesichts der dramatischen, schockierenden Ereignisse der vergangenen Tage dringlicher denn je. Denn klar ist: Der Ansatz, den Konflikt zu managen, den israelische Politiker in den letzten 20 Jahren praktiziert haben, ist gescheitert. Gleiches gilt für Netanyahus Maxime, man könne ohne Berücksichtigung der Palästinenser*innen die Beziehungen zur arabischen Welt (Stichwort: Abraham-Abkommen) normalisieren oder gar Friedensverträge schließen.
Doch wie viele Jahre oder Jahrzehnte werden vergehen müssen, bis sich beide Seiten wieder an einen Tisch setzen können? Der Romancier David Grossman sorgt sich, dass sein Land nach dem Horror des Terrors und dem 6. Gaza-Krieg seit 2006 „viel rechtsextremer, militanter und rassistischer sein“ werde. Er, der dem Friedenslager nahesteht, schon immer die Besatzung verurteilt und Netanyahu für seine fehlende Friedensvision kritisiert hat, bezweifelt in seinem Essay für die Financial Times, dass ein „echter Dialog über die echte Akzeptanz der Existenz der anderen Nation durch beide Nationen“ auf lange Sicht überhaupt noch möglich ist. „Israel und Palästina, zwei durch endlosen Krieg verzerrte und korrumpierte Nationen, können nicht einmal Cousins sein – glaubt noch irgendjemand, dass sie siamesische Zwillinge sein können? Es werden noch viele kriegsfreie Jahre vergehen, bis Akzeptanz und Heilung überhaupt in Betracht gezogen werden können“ (zit. in Mink 2023).
Umso schmerzlicher erscheinen nun im Rückblick die letzten 15 Jahre, in denen zwischen Israel und Palästina Eiszeit statt Gesprächsbereitschaft herrschte und wertvolle Zeit vergeudet wurde. Seit der Annapolis-Konferenz 2007 wurde nicht mehr ernsthaft verhandelt; sowohl die USA als auch die EU schienen sich anderen Themen als diesem Konflikt zuzuwenden. Außer einem gelegentlichen Aufruf zur »Mäßigung« oder der mantraartig wiederholten Sorge über die Gewalt oder Israels Siedlungsbau war von diesen beiden Akteuren kaum etwas zu hören.
Mehr denn je gilt, was der frühere lateinische Patriarch von Jerusalem, der römisch-katholische Erzbischof Michel Sabbah, ein Palästinenser aus dem Staatsgebiet Israels, immer und wieder beteuerte: „Sicherheit für die Israelis wird es erst geben, wenn die Palästinenser frei und unabhängig sind.“
Literatur
Abdeleli, A. (2023): Nahost-Konflikt: Schweiz beerdigt Genfer Initiative nach 20 Jahren. SWI – swissinfo.ch, 3.8.2023.
Alexandridi, K. (2023): Friedensaktivisten unter Opfern der Hamas – nun verurteilt die Bewegung „Israels Arroganz“. Berliner Zeitung, 12.10.2023.
American Friends of the Parents Circle-Families Forum (2023): Stand with us: Our education program has a right to be in Israeli schools. Sign our petition!, am 3.8.2023 über E-Mail versandt.
Avnery, U. (1995): Zwei Völker. Zwei Staaten. Gespräch über Israel und Palästina. Heidelberg: Palmyra.
Avnery, U. (o.J.): 80 Thesen für ein neues Friedenslager, ein Entwurf von Gush Shalom. Archiviert auf uri-avnery.de.
B’Tselem (o.J.): Database on fatalities and house demolitions. Homepage, btselem.org
Böhme, J.; Sterzing, Ch. (2023): Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. 9. überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag.
Chazan, N. (2021): The rise and fall of the Israeli peace camp. The Israeli peace camp: Rise, heyday and decline (1967-2000). Peacemism, Heinrich Böll Stiftung Tel Aviv.
Haaretz (2023): Gaza War Day 5: | Israeli Death Toll Soars to 1,200 and 2,400 Wounded as Israel Targets Hamas Leaders in Gaza Airstrikes. 11.10.2023.
Herman, T. (2017): Fifty years of occupation: The effectiveness of activity for peace in Israel 1967-2017. Palestine-Israel Journal 22(2), o.S.
Mink, A. (2023): Israel befindet sich in einem Albtraum. tachles – das Jüdische Wochenmagazin, 12.10.2023
Partners for Progressive Israel (2023): Israeli students have the right to peace education – sign and share the petition!, Erklärung 6.8.2023.
Peace Now (o.J.): Who we are. Homepage, peacenow.org.il.
Svetlova, K. (2021): The lost decade of the Israeli peace camp. How the negotiation stalemate has weakened Israeli and Palestinian support for the two-state solution. Peacemism, Heinrich Böll Stiftung Tel Aviv.
Feldman, Y. (2013): The Lab – Das Versuchslabor (Ha-Ma’Abada). Dokumentarfilm über die israelische Rüstungsindustrie, 60 Min., Israel/Belgien/Frankreich.
Vardi, S. (o.J.): Waffenexport: das Geschäft mit dem Krieg. Rosa Luxemburg Stiftung Israel Office, rosalux.org.il.
Zang, J. (2021): Erlebnisse im Heiligen Land. Wien: Promedia.
1 Die Zahlen wurden am 28.3.23 dem Autor von der Projektkoordinatorin Mira Edelstein/Parents Circle per E-Mail mitgeteilt.
2 Hillel Schenker hat mehrere Interviews mit dem Autor zwischen 2005 und 2023 geführt. Aus diesen wird zitiert, zudem aus E-Mail-Kommunikation.
3 Der Autor hat selbst 2006 an einem viertägigen Seminar mit jeweils 100 israelischen, palästinensischen und internationalen Friedensaktivisten in einem Hotel in Antalya teilgenommen, finanziert durch die Regierung Finnlands. Laut Hotelpersonal hatten bis dato fast 80 israelisch-palästinensische Treffen allein in diesem Hotel stattgefunden.
4 Unterstützung durch z.B. das forumZFD oder das EAPPI-Programm des Weltkirchenrates aus Genf.
5 OCHA: Protection of Civilians Report | 5 – 18 September 2023. Siehe https://www.ochaopt.org/
6 Darunter auch der Friedensaktivist Chaim Katzman (laut Gush Shalom), andere wurden in den Gaza-Streifen verschleppt wie die Israel-Kanadierin Vivian Silver aus dem Kibbuz Be’eri. Sie hatte jahrelang freiwillig geholfen, damit palästinensische Bewohner des Streifens medizinische Behandlung in Israel zu erhalten (Alexandridi 2023).
Zum Autor:
Johannes Zang hat fast zehn Jahre in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gelebt. Unter anderem hat er 1985/86 Pomelos, Zitronen, Orangen und Grapefruit im Kibbuz Be´eri gepflückt, der nun 108 Tote zu beklagen hat. Sein viertes Buch »Erlebnisse im Heiligen Land« ist im Promedia-Verlag Wien erschienen. Er hat über 60 Reisegruppen durch Israel/Palästina/Jordanien/den Sinai begleitet. Monatlich (immer am 22.) bespielt er den Nahost-Podcast »Jeru-Salam«. Zang lebt bei Aschaffenburg.
Kontakt: Johannes Zang, Journalist, Referent und Reiseleiter. (jerusalam.info) und johnny64zang@gmail.com