100 Schweigeminuten für den Frieden
Völliges Scheitern der Biowaffenkonvention gerade noch abgewendet
von Jan van Aken
Diskutieren verboten! An diese Devise hielten sich alle Vertragsstaaten auf der Fünften Überprüfungskonferenz zur Biowaffenkonvention, die am 14. November in Genf zu Ende ging. Keine zwei Stunden hatten sich die Delegierten in den Tagen vom 11. bis 14. November im Plenum getroffen, niemand außer dem Vorsitzenden sagte auch nur ein Wort, um dann einstimmig ein Papier abzunicken, das an Seichtheit wohl kaum zu überbieten ist und trotzdem die wahrscheinlich letzte Chance zur Rettung der Biowaffenkonvention darstellt.
Zur Vorgeschichte dieser wohl schweigsamsten Rüstungskontrollkonferenz aller Zeiten: Die Biowaffenkonvention von 1972 verbietet zwar grundsätzlich die Entwicklung, Produktion, Lagerung und Weitergabe von biologischen Waffen, sie enthält jedoch keinerlei Ansätze für ein effektives Überprüfungs- und Kontrollsystem und ist damit letztendlich ein zahnloser Tiger. Anfang der 1990er Jahre begannen die Verhandlungen um ein Zusatzprotokoll zur Stärkung der Konvention, das im Kern Offenlegungspflichten und Kontrollinspektionen vorsah. Im August 2001 lehnte die neue amerikanische Regierung das ganze Projekt jedoch rundherum ab und erklärte, man werde weder dieses noch irgendein anderes Zusatzprotokoll zur Biowaffen-Konvention unterzeichnen.
In der Folgezeit schlugen die Amerikaner ein ganzes Bündel alternativer Maßnahmen vor, die alle eines gemeinsam hatten: Es waren keine rechtlich verbindlichen Regelungen, keine multilateralen Abkommen, sondern fast ausschließlich unverbindliche oder bilaterale Absprachen.
In dieser Situation fand im November und Dezember 2001 die Fünfte Überprüfungskonferenz zur Biowaffen-Konvention statt. Diese alle fünf Jahre stattfindenden Treffen der Vertragsstaaten sollen die Wirksamkeit und Aktualität der Konvention überprüfen, vor allem vor dem Hintergrund der rasanten technischen Entwicklungen im Bereich der Biomedizin. Es war das erklärte Ziel der europäischen Staaten, ein neues Verhandlungsforum zu beschließen, um nicht weitere fünf Jahre bis zur nächsten Konferenz tatenlos abwarten zu müssen. Jährliche Vertragsstaatenkonferenzen und ein umfangreich ausgestattetes Sekretariat würden die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, neue Ansätze für eine Stärkung der Biowaffen-Konvention zu entwickeln. Die Zeit drängt, da bereits heute Tendenzen zu einem neuen biologischen Wettrüsten zu beobachten sind. Nicht zuletzt die tödlichen Milzbrandanschläge in den USA haben der Welt vor Augen geführt, dass die Gefahr durch biologische Waffen größer und aktueller geworden ist.
Doch auch die Überprüfungskonferenz im vergangenen Jahr ließen die Amerikaner platzen. In buchstäblich letzter Minute legten sie einen neuen, unannehmbaren Forderungskatalog vor und sprengten damit die Konferenz, die daraufhin – als letzter Verhandlungsstrohhalm – auf diesen November vertagt wurde.
In den Monaten vor der Fortsetzungs-Konferenz redete die Bush-Administration Klartext: In einem vertraulichen Schreiben ließ sie im September die westlichen Verbündeten wissen, dass bis 2006 keine weiteren Verhandlungen über eine Stärkung der Biowaffen-Konvention gewünscht sind. Im November solle ausschließlich eine Verschiebung auf 2006 beschlossen werden, Diskussionen zu anderen Themen seien grundsätzlich unerwünscht, andernfalls wolle man einige Länder öffentlich des Bruchs der Konvention bezichtigen.
Als Ausweg aus dieser festgefahrenen Situation entwickelte der Vorsitzende der Überprüfungskonferenz, Botschafter Tibor Tòth aus Ungarn, in Absprache mit den Verhandlungspartnern vorab ein Kompromisspapier, nach dem auch in den kommenden Jahren jeweils einwöchige Vertragsstaaten-Konferenzen stattfinden sollen, auf denen nach einem vorab festgelegten und unverrückbaren Fahrplan bestimmte Themen diskutiert werden. Die Liste der Themen ist niederschmetternd, da keines der heißen Eisen wie Verifizierung, Exportkontrolle oder nicht-tödliche Waffen angefasst werden darf. Im einzelnen nennt das Papier die folgenden Themenpunkte:
- Nationale Gesetzgebung zur Implementierung der Biowaffen-Konvention;
- Nationale Maßnahmen zur Kontrolle von krankheitserregenden Mikroorganismen und Toxinen;
- Verbesserung der internationalen Möglichkeiten, auf (vermeintliche) Biowaffeneinsätze zu reagieren, sie zu untersuchen und ihre Folgen zu lindern;
- Stärkung nationaler und internationaler Bemühungen zur Erfassung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten;
- Ein Verhaltenskodex für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.
Das Papier wurde von Tòth am Morgen des 11. November der fortgesetzten Überprüfungskonferenz in einer knapp zwanzigminütigen Sitzung mit der Maßgabe vorgelegt, dass darüber nicht diskutiert werden darf und dass darüber hinaus keine gemeinsame politische Abschlusserklärung diskutiert oder verabschiedet werden solle. In einer zweiten Sitzung am 14. November wurde das Papier dann ohne weitere Diskussion einstimmig beschlossen.
Noch in der gleichen Woche feierte Joschka Fischer dies in einer Rede vor dem Bundestag als Erfolg der deutschen Außenpolitik – eine Sichtweise, die nicht ganz nachzuvollziehen ist. Betrachtet man die Entwicklung der vergangenen 18 Monate im Paket, hat sich die amerikanische Position voll und ganz durchgesetzt. All das, was jetzt beschlossen wurde – eine Fokussierung auf nationale und unverbindliche Maßnahmen – wurde genau so von der amerikanischen Regierung vor Jahresfrist gefordert. In einem simplen diplomatischen Schachzug hat Washington vor zwei Monaten seine Position radikalisiert, nur um sich in der Folge wieder auf die ursprünglichen Forderungen herunterverhandeln zu lassen. Insofern ist das Ergebnis der Fünften Überprüfungskonferenz auf der ganzen Linie eine Niederlage für die Position der europäischen Staaten, die ein ernsthaftes Interesse an einer Stärkung der Biowaffen-Konvention haben.
Auf der anderen Seite war das Tòth-Papier sicherlich die einzige Möglichkeit, ein vollkommenes Scheitern der Überprüfungskonferenz zu vermeiden. Die Vertragsstaaten standen vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder der offene Konflikt und damit das praktische Ende der Biowaffen-Konvention, oder aber die Weiterführung eines politischen Prozesses, der sich mit Belanglosigkeiten über die nächsten Jahre hinüberhangelt und damit Optionen für bessere politische Zeiten offen hält. Deshalb war die Annahme des Tóth-Papieres sicherlich die einzig richtige Möglichkeit für die Überprüfungskonferenz.
Die entscheidende Frage ist jedoch, welche anderen Möglichkeiten zur Stärkung des weltweiten Verbotes von biologischen Waffen noch existieren. Es hilft nicht viel weiter, über den aktuellen Unilateralismus der Amerikaner zu jammern – seit fast zwei Jahren wissen wir, dass im Rahmen der bestehenden multilateralen Verträge nicht viel Konstruktives aus Washington zu erwarten ist. Richtig ist, in diesen schweren Zeiten die Verträge so weit es geht am Leben zu halten. Es wäre jedoch eine politische Bankrotterklärung für Deutschland und Europa, sich damit zu begnügen.
Das Verbot biologischer Waffen steht heute am Scheideweg. Die Revolution in der Biotechnologie, die Entwicklung der neuen »nicht-tödlichen« Biowaffen, die zunehmende Gefahr asymmetrischer Kriege – all das lässt ein biologisches Wettrüsten aktuell wahrscheinlich werden. In dieser zugespitzten Situation ist mehr gefordert als das Prinzip Hoffnung. Jetzt muss die deutsche und europäische Diplomatie gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten und – zunächst – ohne die USA neue Wege zu einer biologischen Rüstungskontrolle entwickeln. Bereits im vergangenen Jahr hätte die Chance bestanden, das Verifikationsprotokoll auch ohne die USA zu unterzeichnen. Jetzt gäbe es die Möglichkeit, in einem vorsichtigen, neuen politischen Prozess mit vielen anderen Staaten des Nordens und des Südens Gemeinsamkeiten zu suchen und diese in praktische Maßnahmen umzusetzen. Das würde einerseits den politischen Druck auf Washington erhöhen, andererseits auch ganz praktisch zu einer Stärkung der Norm gegen biologische Waffen beitragen.
Bei der praktischen Ausgestaltung einer solchen Initiative sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Angefangen bei einer internationalen Expertenkonferenz zu Transparenz und Kooperation in der biologischen Abwehrforschung über die Gründung eines »centers of excellence« für Verifikationsmethoden im Biowaffen-Bereich bis hin zur Initiierung eines multilateralen Verhandlungsprozesses für eine »Biosecurity«-Konvention ist eine Vielzahl von abgestuften Maßnahmen denkbar, die zunächst einmal auch so niedrig aufgehängt sein können, dass der Konflikt mit den USA nicht gleich vorprogrammiert ist. Wichtig dabei ist auch, dass ein neuer, paralleler politischer Prozess nicht die zentrale Bedeutung der Biowaffen-Konvention als Rückgrat der biologischen Rüstungskontrolle in Frage stellt.
Eine auf Jahre im Halbschlaf dahinvegetierende Biowaffen-Konvention reicht nicht aus, um ein neues biologisches Wettrüsten zu verhindern. Das muss international signalisiert werden – es muss aber offensichtlich auch erst einmal in den europäischen Hauptstädten erkannt werden. Bis heute kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die rasant wachsende Gefahr durch biologische Waffen von den politischen Entscheidungsträgern innerhalb Deutschlands und Europas nicht wahrgenommen wird. Während auf der einen Seite in hektischen Maßnahmen hunderte von Millionen Euro in Pockenimpfstoff investiert werden, scheinen auf der anderen, der politischen Seite die Biowaffen auch weiterhin nur eine marginale Rolle zu spielen. Wenn sich das nicht schnell ändert, reichen die Impfstoffvorräte womöglich bald tatsächlich nicht mehr aus.
Dr. Jan van Aken ist Gründer des »Sunshine Project«, das Informationen über Biowaffen recherchiert und veröffentlicht