1989 – fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn
von Till Bastian
Das Jahr 1989 hatte noch gar nicht begonnen, da wurde es schon mit höchsten Erwartungen befrachtet. Theo Sommer, um globale Perspektiven und welthistorische Dimensionen selten verlegen, schrieb in der letzten Ausgabe der Zeit im Jahr 1988, unsere Generation habe „ein Rendezvous mit der Geschichte“. Für eine solche Feststellung – Sommer hatte sie einer Rede des US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt entlehnt – gibt es allerdings allen Anlaß. Vor fünfzig Jahren, am 1. September 1939, wurde um 5 Uhr 45 »zurückgeschossen« – mit dem Angriff des Schlachtschiffs »Schleswig-Holstein« auf die polnische Westerplatte begann der Zweite Weltkrieg: Hitlers Versuch, die Karten von 1914 neu zu mischen und einen nächsten Waffengang zu wagen; ein Krieg, an dessen Ende nicht nur die Zerstörung ganzer Länder und millionenfacher Tod standen, sondern auch die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki, die mahnenden Fanale eines neuen Atomkriegszeitalters. Auch in dieser Hinsicht ist 1939 ein Schicksalsjahr gewesen. Der von Th. Sommer zitierte 32. US. Präsident Roosevelt hatte – das erkennen wir heute, aus der Perspektive des 50-Jahres-Abstandes deutlicher als die damaligen Zeitgenossen – in jenem Jahr sein ganz persönliches Stelldichein mit Klio, der Muse der Historiker: Aufgerüttelt durch Einsteins Brief über den mittlerweile möglichen Bau einer »Superbombe« (August 1939) leitete der Politiker kaum ein Jahr nach der ersten Kernspaltung durch Hahn, Meitner und Straßmann das Atomprogramm seines Landes in die Wege: 1942 wurde der Kernreaktor angefahren, am 16. Juli 1945 in der Wüste von New-Mexiko die erste Atombombe gezündet – die nächsten Explosionen verwüsteten japanische Städte.
In Anbetracht dieser historischen Verwicklungen und Reminiszenzen kann ein auch nur halbwegs sensibler Chronist kaum anderes empfinden als ein Gefühl der Peinlichkeit, ja der Scham, wenn er Zustand und Entwicklung der offiziellen Bonner Politik betrachtet. Nicht nur, daß ein Besuch des Staatsoberhauptes zum 1. September in der Volksrepublik Polen – im Grunde eine selbstverständliche Geste des politischen Anstandes und des Versöhnungswillens – von der »Stahlhelm«-Fraktion in der CDU/CSU erfolgreich verhindert ist; nicht allein, daß auch der Bundeskanzler seine Polenreise mit einer fragwürdigen Begründung verschoben hat – als wolle er deutschem Wahn und deutscher Hybris noch die Krone des schlechten Gechmacks aufsetzen, hat ein hochkarätiger Politiker in Ministerrang, auf die rechtsradikalen Wähler schielend, just fünfzig Jahre nach Beginn jenes Krieges, in dem deutsche Schergen ein Viertel der polnischen Bevölkerung ausgerottet haben, die polnische Westgrenze in Frage gestellt und kaum verhüllt den Anspruch auf deutsche Wiederinbesitznahme der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie angemeldet. Wenn sich ein Rendezvous mit der Geschichte so anbahnt – dann ist es offenbar von Selbsttäuschung, Verleugnung und Verdrängung überschattet. Mit einem glücklichen Ausgang kann so kaum gerechnet werden.
Die Welt vor hundert Jahren
Empörung, sie sei so berechtigt, wie sie wolle, ist ein unzureichender Nährboden für die Antwort auf die Frage, was zu tun sei. Welchen Gebrauchswert kann die historische Rückbesinnung denn haben für all jene, die dabei mit mehr Furcht und Zweifel zu Werke gehen als die Herren Kohl und Waigel? Betrachten wir die Welt vor hundert Jahren, 1889: Damals wie heute sehen wir eine Fülle vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, beobachten wir Versuche, mit den traditionellen Verhaltensweisen der Machtpolitik radikal zu brechen, hören wir die Forderung nach einem neuen Denken und Handeln, nach dem Bau eines tragfähigen Fundamentes für den Weltfrieden. In Paris tritt 1889 der erste Weltfriedenskongreß zusammen; Frédéric Passy, Vorsitzender der »Französischen Gesellschaft der Friedensfreunde«, begrüßt die Delegierten von hundert verschiedenen Friedensgesellschaften und gründet mit seinem Freundeskreis die rasch bekannt werdende Zeitschrift »Revue de la Paix«(zunächst unter dem Titel »Arbitrage entre Nations«). Im selben Jahr 1889 entsteht auf Initiative des britischen Arbeiterführers, Unterhausabgeordneten und Pazifisten William Randal Cremer die »Interparlamentarische Union für Schiedsgerichtbarkeit und Frieden«, ein Verein, in dem sich friedenspolitisch engagierte Parlamentarier aus 9 Ländern zusammengefunden hatten (1890 traten ihr auch die deutschen Abgeordneten Barth, Broemel und Dorn bei). 1889 – ein Jahr vielfältiger friedenspolitischer Aktivitäten, auch auf publizistischem Gebiet. Friedrich Engels, fast siebzig Jahre alt, brütet über Manuskripten, aus denen später der programmatische Essay „Kann Europa abrüsten?“ (1893) hervorgehen wird, ein Aufsatz, der erstmalig erörtert, ob die Frage von Krieg oder Frieden nicht unter bestimmten Bedingungen als den Erfordernissen des Klassenkampfes übergeordnet betrachtet werden muß – ein Gedanke, der bekanntlich hundert Jahre später in der politischen Philosophie des Michael Gorbatschow voll zum Tragen kommt. Den unbestrittenen Höhepunkt der zahllosen friedenspolitischen Veröffentlichungen jener Tage bildet freilich der just 1889 erschienene Roman „Die Waffen nieder!“ der am 9. Juni 1843 zu Prag geborenen Adligen Bertha von Suttner, die im Jahr 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. Doch die internationale Friedensbewegung, für die der Name von Suttner prototypisch stehen mag, ist trotz bestem Willen und großem Engagement letzten Endes machtlos gegen den aufblühenden, auf Krieg und Kolonialbesitz setzenden Imperialismus. Mag sein, daß diese Bewegung allzu philosophisch-philanthropisch orientiert gewesen ist – ein deutlicher Fingerzeig für uns Gegenwärtige, wo doch heute der Satz „Der Friede beginnt in den Köpfen“ auf Friedenskongressen und Kirchentagen wieder in aller Munde ist. Unstreitig ist die Sentenz richtig, doch umfaßt sie nur die halbe Wahrheit – denn wenn das, was in den Köpfen beginnt, sich in Waffenfabriken, Generalstäben und Ministerien nicht praktisch durchsetzt, also institutionell-organisatorisch abgesichert wird, droht der Frieden allemal in seinen Ansätzen stecken zu bleiben. So geschah es auch in der Zeit der Jahrhundertwende. „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung“, so schrieb Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke 1880 an den Heidelberger Völkerrechtsgelehrten Bluntschli: „In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut, Entsagung, Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne ihn würde die Welt im Materialismus versumpfen.“ Die Furcht des Generalissimus erwies sich freilich als unbegründet; die Welt »versumpfte« nicht. Schon im August 1914, Frau von Suttner war soeben zu Grabe getragen worden, donnerten die Kanonen. Kaiser Wilhelm II., der oberste Kriegsherr aller Deutschen, hatte seine Reichstagsrede zur Kriegserklärung mit den Worten beendet: „Nun wollen wir sie aber dreschen!“
Eine zeitgenössische Photographie zeigt eine gewaltige Menschenmenge, die sich vor der Münchener Feldherrenhalle versammelt hat, um der Verkündigung des Mobilmachungsbeschlusses zu lauschen. Unter den begeisterten Zuhörern ein enthusiastisch jubelnder junger Mann; die Ausschnittvergrößerung beweist, daß es sich um keinen anderen als Adolf Hitler handelt, geboren 1889, in eben jenem Jahr, als „Die Waffen nieder!“ erschien. Jetzt ist er fünfundzwanzig – als Fünfzigjähriger wird er, getragen von einer breiten Wille der Zustimmung unter seinen »Volksgenossen« als Rache für den verlorenen ersten einen zweiten, noch ungleich blutigeren Weltkrieg entfesseln….
Die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges«
Vielleicht werden Historiographen späterer Zeiten die Jahre 1914 bis 1945 als die Epoche des zweiten »dreißigjährigen Krieges« bezeichnen. Auf jeden Fall aber war diese erste Hälfte unseres bluttriefenden 20. Jahrunderts eine Epoche nicht nur exzessiver Machtentfaltung, sondern auch der Machtverherrlichung expressis verbis. Vom Kaiser Wilhelm II., der seine Feinde »dreschen« wollte, haben wir bereits berichtet – fünfundzwanzig Jahre später, im August 1939, verkündete Adolf Hitler, der einst der kaiserlichen Mobilmachungsorder so begeistert zugehört hatte: „Wer Macht nicht besitzt, verliert das Recht zum Leben.“ Der Krieg, den Hitler 25 Jahre nach der wilhelminischen Kriegserklärung begann, sechs Jahre, nachdem er selber von einer Woge der Sympathie und Begeisterung an die Macht getragen worden war – dieser Krieg muß in der Tat als der Versuch gewertet werden, sich am machtpolitischen Ziel von 1914 noch einmal, aber noch brutaler, noch rücksichtsloser, zu versuchen. Insoweit hatte Philipp Jenninger in seiner verunfallten Gedenkrede durchaus recht, als er, von seinem Unbewußten zum gar zu einfühlsamen Umgang mit dem Nationalsozialismus verführt, die rhetorische Frage stellte: „Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?“
Schon 1935 hat Bertrand Russell, zu Zeiten des Ersten Weltkrieges wegen des Aufrufs zur Wehrdienstverweigerung mit Gefängnis bestraft, nach dem zweiten Weltkrieg mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, hellsichtig geschrieben:
„Der Hitlerische Wahnsinn unserer Tage ist ein aus Götter- und Heldensagen gewobener Mantel, in den sich das deutsche Ich einhüllt, um nicht im eisigen Wind von Versailles zu erstarren…. Thyssen glaubt, mit Hilfe der Nazi-Bewegung sowohl den Sozialismus vernichten als auch seinen Umsatz gewaltig steigern zu können. Die Annahme, daß er recht hat, scheint jedoch ebenso unbegründet zu sein, wie zu glauben, daß seine Vorgänger im Jahre 1914 recht hatten. Für ihn ist es unumgänglich, das deutsche Selbstvertrauen bis zu einem gefährlichen Grad aufzupeitschen; das Ergebnis ist wahrscheinlich ein Krieg mit unglücklichem Ausgang. Selbst große Anfangserfolge würden nicht zu einem endgültigen Sieg führen; heute wie vor zwanzig Jahren vergißt die deutsche Regierung, daß es Amerika gibt.“
Die Friedensbewegung von 1889 hat sich nicht durchsetzen können; 1914 taumelte die Welt in einen Krieg, nach dessen Ende die Schaffung einer stabilen Weltfriedensordnung mißlang; der nächste Weltkrieg folgte rund zwanzig Jahre nach dem ersten. Es läßt sich lange darüber philosophieren, warum dem so gewesen ist – aber ein Grund kann wohl doch darin gesehen werden, daß sich die meisten Staatsmänner nach 1919 den künftigen Frieden als auf Machtpolitik gegründet dachten; daß sie nicht begriffen, daß die Politik bewaffneter Abschreckung schon das erste große Völkerringen nicht hatte verhindern können – wie sie sich später auch gegen einen zum Äußersten entschlossenen Hasardeur vom Schlage Hitlers als weitgehend wirkungslos erwies. Die Welt fuhr nach 1919 fort in jenem schon von Bertha von Suttner beklagten Wechselgesang der Großmächte:
Meine Rüstung ist die defensive.
Deine Rüstung ist die offensive,
Ich muß rüsten, weil du rüstest,
weil du rüstest,rüste ich
Also rüsten wir,
Rüsten wir nur immer zu…. (Aus: „Die Waffen nieder“,1889)
Eine radikale politische Wende blieb 1919 aus – die Gedanken und Ideen der Friedensbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts zerstoben in der blutigen »Realpolitik« des beginnenden zwanzigsten Saeculums. Ausnahmen hat es freilich gegeben: Als die USA am 6. April 1917 in den Krieg eintraten, wurden sie von ihrem achtundzwanzigsten Präsidenten, Thomas Woodrow Wilson, regiert (er war 1912 gewählt, 1916 wiedergewählt worden). Wilson, der 1919 den Friedensnobelpreis erhielt, ist in der Folgezeit oft wegen seiner »idealistischen« Außenpolitik geschmäht worden (unter anderem in einem Buch, das Sigmund Freud gemeinsam mit dem ehemaligen US-Sonderbeauftragten in Moskau, William Christian Bullitt, verfaßt hat). Daran ist zumindest richtig, daß Wilson, insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Staatsmännern seiner Zeit, der damals üblichen »Real« – und das heißt Machtpolitik äußerst skeptisch gegenüberstand. In seiner mit großem Jubel aufgenommenen Kriegsbotschaft an den Kongreß (2.4.1917) prägte er den berühmten Satz „That the world must be made safe for Democracy“, und am 8. Januar 1918 trug er eben diesem Kongreß seine bekannten »Vierzehn Punkte« vor, die insgesamt „das Programm des Weltfriedens“ bilden sollten. Den letzten Punkt – er lag Wilson besonders am Herzen und sollte sozusagen dramaturgisch den Schlußakkord des Konzeptes bilden – stellte die Idee des Völkerbundes dar: „Es muß eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit bestimmten Vertragsbedingungen gebildet werden, zum Zwecke gegenseitiger Garantieleistung für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen sowie kleinen Nationen…“
Daß Wilsons Gegner, der Hohenzollernkaiser in Berlin, in dieser Frage anders dachte, bedarf wohl kaum der Betonung. Wilhelm II., der es liebte, den Rand der von ihm durchgesehenen Gazetten mit Bemerkungen und Kommentaren zu versehen, hat noch am 10. März 1918, also kurz nach der Veröffentlichung der »Vierzehn Punkte« neben einem Artikel der »Münchener Allgemeinen Zeitung« vermerkt: „Der kommende Frieden wird unseren Feinden, so Gott will, aufgezwungen werden müssen. Sie werden erst zum Frieden schreiten, wenn sie so geschlagen sind, daß sie genug haben …. Also ein echter, rechter hausbackener Friede, wie er bisher immer nach jedem siegreichen Kriege geschlossen wurde. Volksbeglückende Weltbürgerschaftsgedanken finden darin keinen Platz. Nur das nackte eigene Interesse und die Garantien für die eigene Sicherheit und Größe dürfen maßgebend sein!“
Die Redewendung vom „nackten eigenen Interesse“, das allein maßgeblich sein dürfe, gemahnt schon fast an den »böhmischen Gefreiten«, der alsbald dem Hohenzollern als oberster deutscher Schlachtenlenker nachfolgen sollte – man ist versucht, zu seufzen: Wer hat uns Deutsche nicht schon regiert…! Dem Kaiser blieb allerdings nicht mehr viel Zeit zum Schwadronieren. Acht Monate nach seiner auf den Erzwidersacher Wilson gezielten Tirade über die „volksbeglückenden Weltbürgerschaftsgedanken“ flüchtet er ins holländische Exil, und am selben 10. November unterzeichnet der Abgeordnete Erzberger das Waffenstillstandsabkommen, aus dem der Versailler Vertrag hervorgehen sollte, dessen Teil I die Völkerbundsatzung bildete.
Vom Völkerbund zur UNO
Die Friedensbewegung von 1889 hat den ersten, der Völkerbund von 1919 den zweiten Weltkrieg nicht verhindern können – in beiden Fällen bewahrte ein gnädiges Geschick Bertha von Suttner und Thomas Woodrow Wilson davor, das Scheitern ihrer Ideale und Pläne noch erleben zu müssen. Für Wilson (er starb 1924) mag es bitter genug gewesen sein, daß er – seit dem 2. Oktober 1919 durch einen Schlaganfall linksseitig gelähmt und ans Krankenlager gefesselt – noch mitansehen mußte, daß der Senat in zwei Abstimmungen vom 19.11.1919 und vom 19.03.1920 den Eintritt in den Völkerbund ablehnte und daß sein Nachfolger im Präsidialamt, Warren Harding, nicht zögerte, den eigenen überwältigenden Wahlsieg von 1920 als gegen den Völkerbund gerichtetes Plebiszit darzustellen. Es kann hier nicht der Ort sein, das Scheitern des Völkerbundes nachzuzeichnen – seine letzte Sitzung fand übrigens vor fünfzig Jahren, kurz nach Kriegsbeginn, am 14. Dezember 1939 statt. Doch schon vier Jahre später vereinbarten Emissäre der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Chinas auf einem Treffen in Moskau die Neubelebung des Völkerbundgedankens; treibende Kraft dieser Entwicklung war der Amerikaner Cordell Hull, geboren 1871 und von 1933 bis 1944 US-Außenminister, ein begeisterter Anhänger der politischen Philosophie Wilsons, für dessen demokratische Partei er seit 1907 dem Kongreß angehörte. 1955 hat Hull, von Roosevelt als „Vater der Vereinten Nationen“ bezeichnet, für seinen Verdienst den Friedensnobelpreis erhalten. Auf der sogenannten Dumbarton-Oaks-Konferenz 1944 wurden die Grundzüge einer UN-Charta entwickelt und am 26. Juni 1945 unterzeichneten die USA und 49 andere Nationen diese Charta der Vereinten Nationen. Während der Völkerbund keine zwanzig Jahre überdauerte, können die Vereinten Nationen bald ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern. Das Ansehen dieser Organisation war nicht immer groß, ihr Prestige oft glanzlos – vielen galt die UN über Jahre als teure und ineffektive, von Bürokraten übervölkerte Schwatzbude, deren Resolutionen kaum größerer praktischer Nutzwert zukam als jenem Beschluß, mit dem das Laterankonzil 1139 das Verbot der Armbrust (als einer »unritterlichen"Waffe, die gegen »Ungläubige« freilich weiterhin gebraucht werden durfte) durchsetzen wollte….
Heute, 1989, fünfzig Jahre nach Kriegsbeginn, wird diese Ansicht allerdings immer weniger Anhänger finden – zu deutlich haben die Vereinten Nationen, dieser »Völkerbund im zweiten Anlauf«, sich in den letzten zwei Jahren als weltpolitischer Stabilitätsfaktor von hohem Wert erwiesen: zum Waffenstillstand am persischen Golf, zu Abkommen in Afghanistan, Angola und Namibia haben sie ganz entschieden beigetragen, und der Wunsch, mehr Einfluß, Kreativität und Kompetenz auf supranationalen Ebenen zu übertragen, wird immer häufiger vernommen. Ist Präsident Wilson also gescheitert? Der Gang der Ereignisse zeigt deutlich, daß historische »Momentaufnahmen« untauglich zur Beantwortung dieser Frage sind. Schon 1919, erst recht aber 1939 – nach Kriegsausbruch und Auflösung des Völkerbundes – hätten wohl viele Menschen mit einem klaren Ja geantwortet; die Situation im Jahre 1989 jedoch beweist, daß ein solches Ja recht vorschnell gewesen wäre.
Diese Betrachtung gibt uns Anlaß, die Frage von Mißerfolg und Scheitern in der Politik – und speziell bei den Bemühungen um Abrüstung und Weltfrieden – neu zu überdenken. Gerade ein solches Nachsinnen stellt einen überaus wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion im Gedenkjahr 1989 dar. Denn der von Richard von Weizsäcker auf die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen gemünzte Satz gilt im Grunde uneingeschränkt: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Und wer gegenwartsblind ist, wird kaum je die Zukunft gestalten können.
Die unterirdischen Wasseradern der Geschichte
Man muß nicht gleich den etwas pathetischen Satz vom „Rendezvous mit der Geschichte“ bemühen, um festzustellen, daß gerade in einem so betrüblichen Gedenkjahr wie 1989 das Nachdenken über den Gang der Weltgeschichte eine wichtige Ressource für eine planvolle Gestaltung der Zukunft darstellt. Viele, die sich diesem Bemühen widmen, werden sich wohl mit der Frage plagen, ob denn im Verlauf der geschichtlichen Ereignisse Kontinuitätslinien erkennbar sind oder aber ob es gerade die Brüche, die Diskontinuitäten sind, die Geschichte machen. Und in beiden Fällen stellt sich die zweite Frage, wo wir kontinuierliche Entwicklungslinien einerseits, wo wir Ein- und Umbrüche andererseits zu vermuten haben. Ein Essay von dieser Kürze darf sich nicht erfrechen, eine Antwort auf solche Fragen zu versuchen, er darf aber dem Verdacht Ausdruck geben, ob die Frage nicht eventuell falsch gestellt ist – ob Brüche und Kontinuitäten nicht zwei Seiten einer Medaille darstellen.
Eine solche Auffassung wird insbesondere durch die Betrachtung »zweiseitiger« Ereignisse nahegelegt – prototypisch hierfür mag die Geschichte des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen sein: Als Idee 1918/19 häufig verlacht und verspottet, im ersten Realisierungsversuch 1939 recht kläglich gescheitert, hat sich das Konzept des supranationalen Staatenverbandes dann eben doch – vielleicht gar endgültig – durchgesetzt; auch wenn Wilson sich zunächst für gescheitert gehalten haben mag, so hat er doch in Cordell Hull einen höchst wirkungsvollen Testamentvollstrecker gefunden. Sieht man das Werk der Friedensnobelpreisträger von 1919 und 1945 im kontinuierlichen Zusammenhang, so muß es dann doch als erfolgreiches, weltveränderndes Trachten gewertet werden, trotz des blutigen Unterbruches im Jahr 1939. Im übrigen könnte man durchaus noch weiter ausholen und das Konzept von Völkerbund und Vereinten Nationen bis zu Immanuel Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“(1795) zurückverfolgen – eine Schrift, die damals sicher von vielen Zeitgenossen als typisch philosophische, weltfremde Spintisiererei abgetan worden ist (Kant selber hatte schon 1793 geklagt, daß alle Philosophie, die „auf den Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Frieden hofft….als Schwärmerei allgemein verlacht wird“). Auch Bertha von Suttner, auch die Friedensbewegung ihrer Zeit ist allgemein verlacht worden – und was könnte, so scheint es, deutlicher ihr Scheitern markieren als die beiden blutigen Weltkriege? Doch hier ist abermals, das konnten wir schon an Person und Philosophie des Thomas Woodrow Wilson zeigen, Vorsicht am Platz. Die Menschheitsgeschichte ist weder ein gradliniger Prozeß, noch vollziehen sich entscheidende Veränderungen in kurzen Fristen. Und darüber hinaus: Was meinen wir eigentlich mit »Realität«, wenn wir eine Idee, ein Konzept, eine These als »realitätsfern« oder gar als »weltfremd« bezeichnen? Könnte nicht Immanuel Kant, wenn er als Revenant zum 50sten Jahrestag der UN-Gründung 1995 auf diese Welt wiederkehrte, mit Recht sagen, daß, wer zuletzt lacht, am besten lacht – mag er zuvor auch noch so arg verspottet worden sein? Wenn ein Feldherr Tausende abschlachten läßt, ist das für uns grausige Realität, neben der das Traktat des Philosophen zu grauer, abgehobener Theorie verblaßt. Aber diese Sicht der Dinge ist einseitig und verzerrt. Es muß doch nachdenklich machen, daß das Verdikt »weltfremd«, ausgesprochen von Männern wie General Moltke, Kaiser Wilhelm II. oder Generalsekretär Wörner stets die Pläne für ein friedliches Zusammenleben der Völker betrifft – von der „Klage des Friedens“ des Erasmus von Rotterdam (1517) bis zu Wilhelm Penns „Essay zum gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa“(1693); von der Bergpredigt bis zu Frau von Suttners „Die Waffen nieder!“; von Kants Friedenstraktat bis zu Wilsons vierzehn Punkten. Die Konzeptionen der Rüstungsbefürworter und Militärplaner, der Realpolitiker und Gewaltstrategen werden demgegenüber erstaunlich milde beurteilt – vom »Schlieffen-Plan« des preußischen Generalstabs bis zu Ronald Reagans »Krieg der Sterne«-Projekt…. Als der Philosoph Leibniz 1671 nach Paris reiste, um den »Sonnenkönig« Ludwig XIV vom Angriff auf seine Nachbarn abzuhalten, scheiterte er, denn der Monarch weigerte sich, den Besucher zu empfangen. Aber der Feldzug des ehrgeizigen Königs scheiterte auch – und war dieser Plan nicht viel verwegener als das Bemühen des Philosophen?
Wir kommen zum Ende unserer Betrachtungen. Ein amerikanischer Leser könnte jetzt vielleicht fragen:„ Where is the beef?“ – Wo ist der praktische Nutzeffekt für die um ihr Selbstverständnis ringende Friedensbewegung im historischen Gedenkjahr 1989?
Nun, gerade das sollte gezeigt werden: Daß es falsch ist, sich in einem verkürzten Geschichtsverständnis gar zu eng an die Vordergründigkeit der vermeintlichen Realität zu klammern; daß es in die Irre führt, in fehlgeleitetem Pragmatismus auf allzu kurzfristige Effekte und Wirkungen zu hoffen…..
Es gibt Traditionslinien von eigener Kraft, die wie unterirdische Wasseradern unsichtbar unter dem Urgestein der »historischen Tatsachen« verlaufen und die, wenn wir sie nur ernst nehmen, durchaus zum Kraftquell werden können: die Friedensdichtungen des Novalis, des Jean Paul und der Bertha von Suttner; die kosmopolitische Humanität eines Lessing und eines Wieland; die politischen Visionen von Immanuel Kant. Wie erbärmlich wirkt es demgegenüber, wenn ein Herr Mayer-Vorfelder auf alle drei Strophen des Deutschlandliedes, wenn ein Herr Waigel auf die Grenzen von 1937 setzt…..
Die Gründung der Vereinten Nationen und die Nürnberger Prozesse von 1945; beides Versuche, die Weltordnung auf eine neue, gerechte Grundlage zu stellen. Diese Versuche mußten halbherzig bleiben. Solange sie im Schatten der Atombombe, im Rahmen einer Politik der nuklearen Abschreckung erfolgten – denn diese Politik macht Völkermord zum legitimen Mittel der zwischenstaatlichen Auseinandersetzung. Aber vielleicht vollzieht sich auch der durch den Kriegsbeginn 1939 ausgelöste Neuaufbruch zu einer anderen Politik »zweizeitig«. Vielleicht können gerade wir Deutschen fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entscheidend dazu beitragen. Politische Visionen, die sich selbst als langfristig wirksam verstehen und bewußt abseits der Tagespolitik halten – wie die Idee einer atomwaffenfreien Welt, zu der eine atomwaffenfreie BRD gewiß einen großen Schritt beisteuern könnte – sind dafür unabdingbar.
„Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“ hat Niels Bohr einmal gesagt. Die Zukunft ist in jeder Hinsicht offen, wir können nichts Verläßliches über sie aussagen. Aber es mag ein Trost sein, daß wir immerhin hoffen dürfen – aber nur, wenn wir auch tun.
Dr. Till Bastian, Arzt und Schriftsteller, lebt in Isny.