W&F 1989/1

1990 ist nicht 1983.

von Paul Schäfer

Damals konnten sich die wirtschaftspolitischen Verheißungen der Konservativen gegen die Meinungsmehrheit in der Raketenfrage durchsetzen. Heute greift diese ideologiepolitische Technik der Themenverlagerung nicht mehr - die Fremdheit gegenüber der militärische Welt und ihrer folgenblinden Sicherheitskonzeption hat sich als sozusagen natürlicher Mehrheitshabitus etabliert. Neue Nuklearraketen als Wahlkampfthema sind da gänzlich unpassend - ja, sie bedrohen tendenziell die Regierungsfähigkeit. Kein Zweifel: die politische Unkalkulierbarkeit der anstehenden "Modernisierung" ist offenbar ungewöhnlich. Die Aufstellung neuer atomarer Raketen ist erneut zum Loyalitätssymbol gegenüber der US-Regierung geworden, gefährdet jedoch gleichzeitig die politische Mehrheit der Koalition im Lande. Was also tun? Sicher müssen hier den einseitigen AbrüstungsmaBnahmen der Staaten des Warschauer Pakts jede Publizität und damit politische Wirkung genommen werden. Auch ist denkhar, daß die "hard liner" im westlichen Militärbündnis ein Einsehen haben und der bedrängten Regierung in Bonn die Entscheidung über die LANCE-Nachfolge-Raketen vor 1990 ersparen. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Die Entscheidung über die Entwicklung und Produktion einer konventionellen und nuklearen Variante der neuen, taktischen Rakete ATACMS ist im US-Kongreß bereits gefallen. Solchen Entscheidungen pflegt voraus zugehen, daß die in Betracht kommenden Stationierungsländer Zustimmung signalisiert haben.

Die Frage des Zeitpunkts der "Follow-on-to-LANCE"-Entscheidung ist sekundär. Gravierend ist die Frage, ob die NATO überhaupt Verhandlungen über die Kurzstreckensysteme anstreben soll. Die Bundesregierung macht sich für eine solche Option stark, weil sie den innenpolitischen Druck abfangen muß und über Struktur und Zahl der Nuklearwaffen maBgeblich mitreden will. Das NATO-Establishment, allen voran die USA und GroBbritannien, treibt vor allem die Sorge um, der politisch-psychologische Druck für nächste Abrüstungsschritte - weiterer Null-Lösungen gar - könnte zu stark werden.

Die Abschaffung der landgestützten Nuklearraketen in Europa würde längst nicht die Denuklearisierung bedeuten, und die UdSSR müsste erheblich mehr weggeben (1600:700). Aber in den Alpträumen der militärisch-politischen Eliten droht das gesamte Gebäude der nuklearen Abschreckung, in dem sie sich eingerichtet und verschanzt haben, langsam einzustürzen.

Die möglicherweise ins Haus stehende Neuauflage eines "NATO-Doppelbeschlusses" ist dieses Mal nicht nur betrügerisch, sondern auch absurd. Jede/r weiß, daß ein Abrüstungsabkommen leicht zu haben wäre. Es liegt auf der Hand, daß solche Verhandlungen mit dem Verweis auf die vorrangig zu beseitigende konventionelle Uberlegenheit des Warschauer Pakts verzögert und damit zur Farce würden. Derweil würden die neuen, noch gefährlicheren Waffen gebaut und disloziert.

Es folgt aus alledem:

1. dem Verwirrspiel der Regierung ist die klare Forderung nach einem Veto gegen neue Atomraketen und -sprengköpfe entgegenzusetzen.

2. die Gesamtheit des nuklearen Aufrüstungsprogramws sollte in der Öffentlichkeit einer Kritik unterzogen werden. Noch gravierender als die Ersetzung der LANCE ist schließlich die Bestückung der Flugzeuge mit nuklearen Abstandswaffen (Reichweite: 1000-2000 km). Hier wird der INF-Vertrag unterlaufen; hier sollen neue Offensivpotentiale aufgebaut werden.

3. hier ist auch die Verbindung zur Tiefflugproblematik zu ziehen. Es geht ja nicht nur um Lärm- und Umweltschäden. Die offensiven Militärstrategien ("deep-strike") müssen vom Tisch.

4. Der Widerstand sollte von weiterreichenden, positiven Forderungen geleitet sein. Es geht um die Uberwindung der Abschreckungsdoktrin, um stringente Abrüstung, um die Umstrukturierung der Streitkräfte zu Defensivzwecken und um die Entwicklung der internationalen Kooperation bei den eigentlichen Menschheitsproblemen.

Wir bitten unsere Leserinnen: Unterstützen Sie den Aufruf "Veto gegen neue Aufrüstung". Beteiligen Sie sich an den Aktionen der Friedensbewepung im April Mai.

Ihr Paul Schäfer

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/1 1989-1, Seite