W&F 2022/2

Rezension

Stefan Kurt Treiber (2021): Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt am Main: Campus Verlag, ISBN 978-3-5935-1426-0, 343 S., 43 €.

Abb. von Buch

Zu Deserteuren der Wehrmacht gibt es seit Ende der 1970er Jahre zahlreiche Arbeiten. Nach Otto Schweling, der die Wehrmachtjustiz verharmlosen wollte, begannen zahlreiche Autor*innen – darunter Jörg Kammler, Fritz Wüllner, Manfred Messerschmidt und Wolfram Wette – sich dem Thema zu nähern. Sie bauten zu Schweling eine Gegenposition auf wissenschaftlicher Basis auf. Die nächste Generation, die neue Forschungsansätze bemühte, kam in den frühen 2000er Jahren hinzu: Magnus Koch und Claudia Bade sind hier zwei prominente Autor*innen. Ging es zunächst noch um den Nachweis der Unvereinbarkeit von Wehrmachtjustiz mit Gerechtigkeitsnormen, wandelte sich der Fokus, hin zu den Deserteuren und ihren individuellen Biografien. Insbesondere die Frage nach den Gründen der Desertion wurde thematisiert. Die Betrachtungen verabschiedeten sich von pauschalisierenden Sichtweisen, die Deserteure entweder als »Feiglinge« denunzierten oder als »Helden« stilisierten (Koch 2007); stattdessen kamen die individuellen Gründe der Desertion in den Blick.

Die 2021 in der Reihe Krieg und Konflikt des Campus-Verlags erschienene Dissertation von Stefan Kurt Treiber »Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg« geht ebenfalls dieser Frage nach. Er möchte in seiner Studie ein differenzierteres Bild des Deserteurs zeichnen.

Im ersten Teil seiner Arbeit stellt Treiber den aktuellen Forschungsstand zu Deserteuren vor. Nur kurz geht er dabei auf die Rechtfertigungsversuche ehemaliger Nazis ein, sein Fokus liegt auf der gesellschaftlichen und inhaltlichen Auseinandersetzung zu Deserteuren. Leider deutet sich hier schon ein Mangel an, der sich durch die gesamte Arbeit zieht: Von seiner Position abweichende Arbeiten, sei es von rechts (wie die zu Recht kritisierte Arbeit von Franz Seidler) oder eben von anerkannten Wissenschaftler*innen, werden als »ideologisch« gebrandmarkt. Insbesondere Fritz Wüllner wird so diskreditiert: „In weiten Teilen des Buches erkennt man, dass Wüllner sich auf einem Kreuzzug befand“, schreibt Treiber (S. 112). Aber auch der Friedensbewegung nahestehende Autor*innen und die historische Forschung der DDR werden von ihm pauschal zurückgewiesen. Treiber ist sichtlich bemüht, seine eigene – durchaus parteiliche – Position als neutrale wissenschaftliche darzustellen. Das macht er nicht durch eine besonders gewissenhafte, neutrale Abwägung der verschiedenen Positionen und Einordnung der Quellen, sondern durch eine Herabwürdigung der anderen Autor*innen. Dass er selbst Doktorand an der Hochschule der Bundeswehr war und von der Axel Springer Stiftung mit einem Stipendium gefördert wurde, ist ihm dagegen keine Reflexion wert.

Ein sichtbar wichtiges Anliegen ist Treiber, über die Rechtsstaatlichkeit der Wehrmachtjustiz zu diskutieren. Ausgehend von einer allgemeinen Geschichte der Militärjustiz und anhand von Vergleichen mit den Armeen der USA und Großbritanniens meint er, dass grundlegende Prinzipien ähnlich und die Gesetze auch im NS-Staat formal demokratisch beschlossen worden seien. Dabei unterlaufen ihm in seiner Argumentationskette mehrere schwere Fehler, insbesondere:

  • Das Gesetz zur Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit wurde am 12.5.1933 beschlossen, als das Parlament längst ausgehebelt war. Zudem wich das praktische Handeln der Wehrmachtjustiz deutlich vom Gesetzestext ab, blickt man etwa auf das praktische Nichtvorhandensein von Verteidigern in den Verfahren (vgl. S. 101).
  • Dass Großbritannien die Todesstrafe für Fahnenflucht abgeschafft hatte, wird von Treiber zwar erwähnt (S. 82), geht aber nicht in seine Bewertung ein.

So kommt Treiber am Ende zu einer, die Zeit des Nationalsozialismus relativierenden Aussage: Es war nicht alles so unrechtmäßig. Sein Versuch, wissenschaftlich ausgewogen zu erscheinen, schlägt fehl.

Den Hauptteil von Treibers Arbeit macht freilich nicht die Analyse der Strukturen von Wehrmacht und Justiz aus, vielmehr wertete er beim Militärarchiv in Freiburg 999 Akten aus. Dazu wählte er einen flachen Ansatz, indem er sich auf Akten des Feldheeres (also keine Marine, kein Ersatzheer etc.) bis 1944 ohne regionale Einschränkung bezieht. Unklar ist, ob alle Akten des Feldheeres ausgewertet wurden, bzw. wie eine Auswahl innerhalb der Akten der Feldgerichte erfolgte. Die Auswertung erfolgte mit qualitativen und quantitativen Methoden. Die Akten – oder die Personen, die sich hinter ihnen verbergen – sind als fahnenflüchtig gelabelt. Unter den Dokumenten sind 139 Kriegsgerichtsakten (davon 99 Verurteilungen wegen Fahnenflucht), die übrigen sind Tatbeschreibungen von (möglicherweise) erfolgreichen Entziehungen. Das Material ist durchaus interessant, denn es ermöglicht einen anderen Blick auf das Strafverfolgungssystem. Bisher wurden für zahlreiche der regionalen und überregionalen Studien fast ausschließlich Urteilsakten herangezogen – auch weil kaum andere Dokumente verfügbar waren. Auffällig ist, dass in den von Treiber herangezogenen Dokumenten die als »fahnenflüchtig« Beschriebenen meist gute bis sehr gute Bewertungen erhielten, die Sprache der NS-Urteile – gespickt von abwertenden Vokabeln wie »asozial« und »minderwertig« – findet sich kaum.

Bei dem Versuch, Motive für Desertion aus den Akten herauszufiltern, verliert sich der Autor in zahlreichen eigens erstellten Statistiken, die er in Verbindung mit anderen Studien setzt, um seine Argumentation zu bekräftigen oder anderen Arbeiten die Beweiskraft abzusprechen (insbesondere in der Auseinandersetzung mit Wüllner, S. 110-120). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es um das Strafmaß der Verurteilungen und die Anzahl der Hinrichtungen geht. Treiber schließt aus seinem Beobachtungszeitraum das Jahr 1945 komplett aus – was natürlich zu Verzerrungen führt. Mit Ende des Krieges stiegen die Entziehungsversuche deutlich an, die Antwort des Oberkommandos waren Standgerichte, deren Opfer praktisch nicht zählbar sind. Ausführlich widmet Treiber sich der sehr spezifischen Gerichtspraxis in der Marine und im Ersatzheer (S. 42-45), um die Besonderheiten in seinen Schlussfolgerungen zu ignorieren oder sogar kleinzureden. Seine Akten befassen sich ausschließlich mit der Ostfront gegen die Sowjetunion zwischen 1941 und 1944, da dort – so der Autor – eine bessere Analyse möglich sei, da die Angst vor dem Tode (beispielsweise beim Ersatzheer) so nicht bestanden habe (S. 42). Treiber ermittelt so aus 99 Urteilen wegen Fahnenflucht und 78 verhängten Todesurteilen, wovon ein Drittel in Abwesenheit gefällt wurden, 19 bekannte Vollstreckungen. Er gelangt so zu einer »Vollstreckungsquote« von 50 % und widerspricht anderen Erkenntnissen, die von 60-70 % ausgehen. Wüllner schätzte 40.000 Urteile wegen Fahnenflucht insgesamt, Treiber meint es hingegen genau zu wissen, trotz schwieriger Aktenlage: 26.479 Urteile wegen Fahnenflucht seien es gewesen (S. 121). Der Nachweis ist eine Hochrechnung, begrenzt auf die Jahre 1941-1944.

Obwohl das Buch auf die individuellen Motive für Desertion fokussieren will, geht es ihnen kaum ernsthaft nach. So habe es nur einen Fall politischer Fahnenflucht gegeben (Richard Felix Kaszemeik, ausführlich vom Autor der Rezension gewürdigt1), sodass sie empirisch bedeutungslos sei (S. 182). Treiber unterschlägt dabei, dass die politische Fahnenflucht eher beim Bewährungsbataillon 999 vorkam, das er nicht untersucht hat. Zudem ist ein Unterschied zwischen den in der Vernehmung gestandenen und den tatsächlichen Gründen, insbesondere aufgrund der Straferwartung, zu erwarten. Gewiss war politische Fahnenflucht nur ein Grund von vielen und wollten Fahnenflüchtige oft zu ihren Liebsten oder konnten das Morden des Militärs nicht mehr ertragen, aber das politische Motiv dermaßen zu marginalisieren spricht nicht für die Qualität von Treibers Arbeit.

In seiner Zusammenfassung kommt der Autor zu der Ansicht, dass die NS-Gerichte häufig »milde« Urteile gefällt hätten (S. 314f.). Dies deckt sich nicht mit einer Vielzahl anderer Studien – auch meiner eigenen –, die das Gegenteil belegen.

Das Buch ist ein hilfreicher Einblick in die Entwicklung der Debatte um Desertion. Der große Pluspunkt der Arbeit ist die Sicht auf Vorgangsakten und nicht nur auf Gerichtsakten. Allerdings sind die Wertungen so deutlich parteilich und verharmlosend zum NS-Staat und seinen Institutionen, dass die Arbeit durchaus gut zur Schau stellt, warum sie an der Hochschule der Bundeswehr und gefördert von der Axel Springer Stiftung verfasst werden konnte. Zur Aufarbeitung des Charakters der Wehrmachtjustiz leistet sie keinen neuen Beitrag.

Diese Rezension ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen bei Connection e.V. im Rundbrief »KDV im Krieg«, Februar 2022.

Anmerkung

1) verqueert.de/ein-vergessener-­deserteur-vor-70-jahren-wurde-felix-kaszemeik-hingerichtet/

Ralf Buchterkirchen

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 58–59