W&F 2022/3

Rezensionen

BICC/HFSK/IFSH/INEF (2022): Friedensfähig in Kriegszeiten. Friedensgutachten 2022. Bielefeld: transcript. ISBN 978-3-8376-6403-4, 152 S., 15 € (print), kostenlos (digital).

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Es scheint, als brächte der Titel des diesjährigen Friedensgutachtens zentrale Probleme zum Ausdruck, mit denen sich die Friedensforschung momentan konfrontiert sieht, aber auch die Begrenztheiten, denen jeder Versuch eines Blicks über Tellerränder hinaus ohnedies ausgesetzt ist. Gab es in den letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten jemals keine Kriegszeiten, global betrachtet? Allerdings: Zur Zeit tobt ein Krieg wieder einmal mitten in Europa. Aus europäischer Sicht ist er sehr nahe gerückt. Die Autor*innen der den inhaltlichen Kapiteln vorangestellten »Stellungnahme« sprechen gar von einem „tektonische[n] Wandel“, der im „russische[n] Angriffskrieg“ Ausdruck fände. „Die Rivalität zwischen den Großmächten USA, Russland und China der 2010er Jahre“ sei nunmehr „in eine unmittelbare Konfrontation übergegangen“ (S. 5). Ein allfälliger „Weg zurück zu einer kooperativen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa“ werde kein „einfacher“ sein, selbst wenn er (unter der weiteren Voraussetzungen zumindest eines Waffenstillstandes) von ukrainischer wie russischer Seite zu beschreiten gesucht werden sollte. Den „Gefahren des Wettrüstens“ sei weiterhin zu begegnen, und zwar auf internationaler Basis. Die Autor*innen der »Stellungnahme« empfehlen daher einen „öffentliche[n] Verzicht der NATO auf einen Erstschlag“, zudem die Nutzung von Möglichkeiten des „Format[s] Ständige Mitglieder des VN-Sicherheitsrats […] als“ eines „Gesprächsforum[s]“ (S. 6f.).

(Wirtschaftliche) Sanktionen werden von den Autor*innen als „zweischneidiges Schwert“ eingeschätzt, zumal Maßnahmen dieser Art kaum geeignet seien, „unmittelbare, kurzfristige Verhaltensänderungen […] zu erzwingen“ (S. 8). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund zahlreicher bewaffneter Konflikte weltweit (nicht allein in der Ukraine, die Autor*innen der Stellungnahme weisen zurecht darauf hin) sei „feministische Außenpolitik“ besonders wichtig. Sie ziele „darauf ab, internationale Politik geschlechtergerecht und inklusiv zu gestalten und Alternativen zum Patriarchat und zu militarisierter Männlichkeit“ zu erschließen (S. 10). Generell sei die »Nationale Sicherheitsstrategie« nicht allein an »Wehrhaftigkeit« auszurichten, sondern Sicherheit solle in einem umfassenderen Sinn verstanden werden (also etwa unter Einbeziehung von Fragen des Klimawandels oder sozioökonomischer Asymmetrien auf globaler Ebene). Auch diesbezüglich könne sich feministische Außenpolitik als hilfreich erweisen (S. 10f.) Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine gelte es konkret, „Wehrhaftigkeit mit Perspektiven für eine Kriegsbeendigung zu verbinden, mithin: friedensfähig in Kriegszeiten zu sein“ (S. 10). Dazu gehöre auch eine „[d]emokratische Kontrolle innerstaatlicher Sicherheitsinstitutionen“, konkret im Modus unabhängiger Evaluierung der „künftige[n] Gesetzgebung“ in diesem Bereich durch „eine unabhängige ,Freiheitskommission’“ (S. 11f.).

Generell sei, gerade angesichts zunehmender Gewaltkonflikte weltweit, auf eine „friedliche Bearbeitung von Konflikten“ zu setzen. Dabei bleibe „[d]er diplomatische Einsatz […] prioritär“. „Rüstungsexportpolitik“ sei möglichst restriktiv zu handhaben, wird zudem in Richtung der deutschen Bundesregierung gefordert (S. 9).

Der »Stellungnahme« folgt wie inzwischen schon üblich der mit »Fokus« betitelte Abschnitt, diesmal zum Thema »Friedens- und Sicherheitspolitik nach der Zeitenwende«. Der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine habe die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zerstört“, weshalb nach dem Krieg nicht zuletzt „ein neues Konzept europäischer Sicherheit entwickelt werden müsse. Dieses solle „Verteidigungsfähigkeit mit einer langfristigen Perspektive auf zukünftige kooperative Sicherheitsstrukturen und dauerhaften Frieden“ verbinden (S. 27). Es folgen Analysen zur Genese des besagten Krieges in der Ukraine samt konkreter Folgen insbesondere für die „deutsche Sicherheits- und Friedenspolitik“, wobei der Fokus hier auf der Bundeswehr im Rahmen eines umfänglicheren Militärbündnisses, eben der NATO, liegt.

Die daran anschließenden Kapitel des Friedensgutachtens 2022 sind, auch dies durchaus schon vertraut, den Themenfeldern »Bewaffnete Konflikte«, »Nachhaltiger Frieden«, »Rüstungsdynamiken«, »Institutionelle Friedenssicherung« und »Transnationale Sicherheitsrisiken« gewidmet. Leider sind dabei doch einige Schwächen, aber durchaus auch Möglichkeiten zu konstatieren, was ich im Folgenden gerne exemplarisch darstellen möchte.

Die konkreten Inhalte entsprechen wie üblich den bereits in der »Stellungnahme« relevierten Themen. So werden etwa „Sanktionen als Mittel wertebasierter Außenpolitik“ in Kapitel 4 erörtert. Sie erschienen, so heißt es dort, „[a]ls Mittel zwischen Diplomatie und Krieg […] geeignet, um eine wertebasierte Außenpolitik umzusetzen, ohne größere politische oder gar militärische Kosten fürchten zu müssen“ (S. 130) Von großer Bedeutung sei der zielgerichtete Einsatz, der heute allerdings ohnehin üblich sei (S. 122). Von Sanktionen dieser Art werden begrifflich „Boykotte und Weaponized Interdependence“ durchaus klar unterschieden (S. 126). Sanktionen könnten als Verhandlungsmasse eingesetzt werden, wie etwa im Kontext des iranischen Atomprogramms (S. 128). Im Verhältnis (insbesondere der EU) zu Groß- und Regionalmächten könnten allerdings keine unmittelbaren Verhaltensänderungen erwartet werden. Eher stellten sie „Mittel“ dar, „Handlungsspielräume zu begrenzen sowie Fehlverhalten zu markieren und die eigene Verpflichtung gegenüber einer regelbasierten Ordnung zu bekräftigen“ (S. 123). Naja, gut und schön, aber haben wir das nicht so ähnlich schon in der »Stellungnahme« gelesen? Doch, und insofern muten die weiteren Ausführungen in Kapitel 4 weniger als Ergänzung und (systematische bzw. empirische) Vertiefung, sondern eher als dasselbe mit anderen Worten. Welchen Erkenntniswert kann das haben? Kaum einen, ließe sich vorsichtig sagen. Leider ist das geschilderte Beispiel kein Einzelfall. Etwas mehr bietet beispielsweise der Abschnitt zur feministischen Außenpolitik.

Feministische Ansätze in aller Munde

„Feministische Außenpolitik“, so die Autor*innen von Kapitel 2, „kritisiert anhaltende patriarchalische Strukturen in der internationalen Politik, exklusive Entscheidungsprozesse und den Einsatz militärischer Mittel zur Konfliktbearbeitung.“ Auch „feministische Entwicklungspolitik“ sei im Entstehen begriffen und an dieser Stelle mit zu bedenken, nicht minder als „postkoloniale feministische Kritik“ (S. 82). Zugleich sei alledem, gerade schon unter Gesichtspunkten der Inklusion, ein weites Verständnis von Gender und Diversität zugrunde zu legen, sodass selbstverständlich auch „LGBTQI*-Identitäten im Rahmen feministischer Außenpolitik zu berücksichtigen seien (S. 71). Feministische Außenpolitik könne sich auf eine Reihe von „Regelwerke[n] der VN“ stützen. Besondere Bedeutung gerade für den Bereich »Frieden und Sicherheit« komme in diesem Zusammenhang der Agenda »Women, Peace and Security« zu (S. 83). Konsequenterweise betonen die Autor*innen, dass feministische Außen- nicht gut ohne feministische Innenpolitik zu haben sei. Ohne letztere wäre erstere „nicht glaubwürdig“ und zudem „gesellschaftlicher Frieden gefährdet“ (S. 85). Der Status quo, „allzu oft noch durch kontraproduktive militarisierte Männlichkeit geprägt“ (S. 86), ist, darin wäre den Autor*innen jedenfalls beizupflichten, hochgradig überwindungsbedürftig.

Die Ausführungen im Abschnitt zu feministischer Außenpolitik gehen zumindest auch in definitorischer Hinsicht über das eher vage, in der Stellungnahme zum Thema feministische Außenpolitik Gesagte hinaus. Allerdings: Wäre es nicht wünschenswert, aus wissenschaftlicher Perspektive etwas genauer zu werden als es Politiker*innen möglicherweise selbst bei Vorhandensein entsprechender Vorsätze werden (können)? So wird dem Begriffsfeld feministische Außenpolitik (oder feministische staatliche Politik überhaupt) so ziemlich alles einzugemeinden gesucht, das irgendwie mit dem Thema »Gender« zu tun hat. Derlei kann aber nicht funktionieren, weil sich auch die Verknüpfung von feministischen Ansätzen und Anliegen mit jenen der ebenfalls völlig zu Unrecht gerne homogenisiert betrachteten LGBTQI*-Community keineswegs von selbst versteht. Zudem verdeckt ein solches Verfahren evidente Unterschiede und zumindest potentielle Konfliktpotentiale. Diese nicht zu benennen, ist meist schon der erste Schritt auf dem Weg in ein Desaster. Gesellschaften werden diese Konflikte wohl ernstnehmen, aushalten und – so langweilig das auch anmuten mag – Kompromisse finden müssen, nicht für immer und ewig, aber für eine bestimmte Zeit. Derlei tragen, er-tragen zu können, erfordert nicht nur Diskursoffenheit, sondern vor allem ein hohes Maß an intellektueller wie emotionaler Reife. Vielleicht wäre das Streben danach ein geeigneteres Ideal gesellschaftlicher Entwicklung als das vielfach ersehnte Konzept eines glücklichen »Ameisenhaufens«, den offenbar nicht wenige nach wie vor ersehnen. Friedensforschung war zumindest lange Zeit immer auch Konfliktforschung, nicht zuletzt, weil Konflikte ernstgenommen, nicht eingeebnet werden sollten, schon gar nicht am Beginn einer Entwicklung.

Allgemeine Ratlosigkeit

Wie schon eingangs erwähnt, scheint sich im vorliegenden Friedensgutachten generell eine gewisse friedenspolitische Ratlosigkeit auszudrücken, die momentan vermutlich nicht nur Friedensforscher*innen empfinden. In der Tat ist zu vieles offen und ungewiss, allzu viel an Entwicklungen der zurückliegenden Dekaden falsch gelaufen, keinesfalls nur auf einer Seite, bewusst oder unbewusst ignoriert bis hin zur ökonomischen Selbstauslieferung demokratischer Staaten an das seit langem erkennbar despotische Regime der Russischen Föderation.

Rettungsanker aus dieser Ratlosigkeit scheinen sich auch im Friedensgutachten in Gestalt grundlegenden Wandels am Horizont abzuzeichnen, aber so fern, dass als wünschenswert eingestufte Perspektiven kaum schon adäquat beschrieben werden können. Dies gilt nicht zuletzt für das meiner Auffassung nach im höchsten Maße löbliche Projekt einer feministischen Innen- wie Außenpolitik, von der gesagt werden kann, dass sie (endlich) konsequent mit nach wie vor existenten patriarchalen Strukturen brechen solle bzw. werde. Dieses Brechen wird konfliktfrei nicht vonstatten gehen, bedenkt man/frau, wie schwierig es allein schon ist, in den Führungsetagen von Unternehmen unter Gender-Aspekten auch nur ansatzweise ausgewogene Verhältnisse zu schaffen. Auf freiwilliger Basis geschieht hier nicht viel. Und die Gruppenbilder von NATO-Regierungstreffen zeigen ganz überwiegend Menschen männlichen Geschlechts, die auch weitgehend den tradierten Konzepten von Männlichkeit treu geblieben zu sein scheinen.

Eine im weitesten Sinne feministische Politik, so wäre wohl die berechtigte Hoffnung, könnte anders mit Konflikten umgehen, diese vielleicht auch ohne die permanente Eskalation aushalten, die patriarchale Konzepte und Praktiken toxischer Männlichkeit andauernd zur Schau stellen. Sollte dieser gesellschaftliche Wandel gelingen, dann, und vielleicht auch nur insofern, schiene denn das große, womöglich allzu große Wort von der »Zeitenwende« tatsächlich angemessen und eine ernsthafte Friedensfähigkeit in kriegerischen Zeiten möglich. Es ist zweifellos verdienstvoll, dass sich die Verfasser*innen des Friedensgutachtens 2022 um diese Perspektive bemühen.

Gerhard Donhauser

Marlene Streeruwitz (2022): Handbuch gegen den Krieg. Wien: Bahoe Books. ISBN 978-3-903290-76-1, 104 S., 19 €.

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„Krieg. Und. Alles ist falsch.“ Mit diesen kurzen, orthografisch eindrücklich stolpernden und gerade darum noch überzeugenderen fünf Worten eröffnet Marlene Streeruwitz ihr ebenso knappes wie starkes »Handbuch gegen den Krieg«, das in diesen Tagen auf jedes Nachtkästchen, in jedes Buchregal, in jede Bibliothek – und vor allem: gelesen – gehört. Der Text ist ein Ringen um ein Sprechen vom und für den Frieden in einer Zeit des Kriegsgetöses allerorten, und gerade darin überzeugender als so manche Expertise, die wir seit dem »Ausbruch« des Krieges in der Ukraine Ende Februar 2022 in medialem Stakkato zu hören bekommen. Dieses (Wider-)Sprechen vom und für den Frieden ist notwendiger Teil einer reflexiven und kritischen Kultur des Friedens auf Basis eines breiten Verständnisses von Gewalt, Macht und Herrschaft. Nichts erscheint in diesen Tagen weniger opportun zu sein. Nichts dringlicher.

In verdichteten Überschriften, eindringlichen Sätzen und maximal reduzierten Textfragmenten bringt die Autorin unmissverständlich auf den Punkt, woran sich Politik und Wissenschaften (einschließlich weiten Teilen der Friedens- und Konfliktforschung) eindeutig uneindeutiger abarbeiten: Krieg ist eine äußerst stabile Institution, hält Streeruwitz nicht nur mit Blick auf die Ukraine fest. Krieg ist selten eine Überraschung und niemals ein Naturereignis, sondern von Menschen gemacht, eine sorgfältig konstruierte Maschine der Gewalt“ (S. 5). Krieg ist Bühne, bisweilen Unterhaltung und künstliche Psychose, Missbrauch in Pseudoempathie und nicht zuletzt die dominante kulturelle Gründungsgeschichte der Moderne. Krieg ist, so die Autorin weiter, die Grammatik der Mächtigen. Wer überleben will, muss diese Grammatik verstehen und erlernen, während wir weiterhin nichts über den Frieden lernen und noch weniger über ihn zu verstehen scheinen. Ganz im Gegenteil erhalten und geben wir einander, bisweilen wider Willen, Lektionen in Krieg. „Wir werden sogar durch unsere Tränen, unser Mitleid mit den Opfern in den Missbrauch“ des Kriegsgetöses und damit des Krieges selbst hineingezogen, so Streeruwitz (S. 19). Selbst unsere Bemühungen des Helfens zählen „zur Beute der Kriegsführenden“ (S. 19), und zwar auf allen Seiten. Weil wir Menschen – wenn auch in höchst unterschiedlichem Ausmaß – in der brutalen Zufallslogik des Krieges als dessen potenzielle Kollateralschäden mit einkalkuliert sind, haben wir Angst. Und Angst, so die Autorin, macht einfältig, unlogisch, unvernünftig: „Angst sucht Schutz. Biedert sich an. Angst stimmt der Gewalt zu, um der Gewalt zu entkommen.“ (S. 6)

In diesem Dilemma stecken weite Teile der derzeitigen öffentlichen Debatte, die zugleich einen strategischen Faktor im Kriegsgeschehen darstellt. Der unbedingte Ruf nach Handlung wird mit physischer, aber auch mit diskursiver, kognitiver, ja affektiver Militarisierung beantwortet, die sich bisweilen mit Friedenstauben und -zweigen schmückt, während pazifistische oder auch nur an einer anderen Interpretation von Frieden, gar entlang eines strukturellen, antikapitalistischen und antipatriarchalen Verständnisses von Gewalt orientierte Stimmen immer schonungsloser diskreditiert werden. Während, getragen von diesem Diskurs der Unvermeidbarkeit, Milliarden in Kriegsgerät nicht nur in Russland, sondern aus aller Welt auch in die Ukraine fließen, wird Europa allerorten blau-gelb beflaggt – real wie auch mental. In selektiver zivilisatorischer Verbundenheit mit einem vielen Europäer*innen bis heute unbekannten Staat beruft sich Europa auf seine demokratischen Grundwerte, die es zugleich im Namen einer neuen »europäischen Sicherheitsarchitektur« zu opfern bereit ist, wie die zunehmend nationalistische und militarisierte Diskursverengung zeigt.

An diese kognitiv-mental-affektive Dimension von Krieg und Gewalt erinnert das »Handbuch gegen den Krieg« ganz aus- und eindrücklich. Vehement widersetzt sich dessen Autorin der Logik des Zählens und Zahlens und der stets selektiven Operationalisierung, mit der uns Sicherheits- und Rüstungsexpert*innen ebenso wie Politiker*innen aller Couleur täglich aufs Neue in den Chor der aufgeregten Aufrüstung, der vermeintlichen Versicherheitlichung, der angeblichen Vernunft der Moral einstimmen.

In Streeruwitz’ Worten: „Und alle treten auf und wissen alles. Vermutungen. Taktische Vorschläge. Wahrsagerei. Wunschvorstellungen.“ (S. 25) Vor mehr als hundert Jahren, im Angesicht des heranrollenden Getöses des Ersten Weltkrieges, schrieb Karl Kraus: „Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!“ 1 In diese stets marginalisierte Tradition des schier unmöglich erscheinenden Versuches, gegen den Krieg anzusprechen, anzudenken, anzuschreiben, reiht sich auch Streeruwitz ein. Darüber hinaus ergänzt sie die antikapitalistische Analyse des frühen 20. Jahrhunderts konsequent um eine feministische, auch am Konzept der strukturellen und diskursiven Gewalt orientierte, Kritik des Krieges. Gerade damit erinnert sie (mich) auch an Christa Wolfs eindrückliche Figur der Kassandra, die uns lehrt: „Mitten im Krieg denkt man nur, wie er enden wird […]. Wenn viele das tun, entsteht in uns der leere Raum, in den der Krieg hineinströmt.“ Inmitten dieses Strömens scheinen Kraus, Wolf und Streeruwitz zu einem ähnlichen, von Kassandra wie folgt formulierten Fazit zu gelangen: „Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.2

Wieder einmal erweist sich die Literatur als vielleicht kraftvollste und überzeugendste Stimme für den Frieden, nicht nur als politische Utopie, sondern als ebenso alltägliche wie bewusst normative Denk- und Sprachhandlung, die auch heute eine wichtige Verbindung zwischen Friedensbewegung und Friedensforschung sein kann – und soll. Möge es dem schmalen Band, der interessanterweise nicht – wie Streeruwitz zahlreiche Romane – in einem großen deutschen, sondern in einem kleinen Wiener Verlag erschienen ist, gelingen, mehr Leser*innen zu bewegen als dies den zahlreichen, aber weitgehend ungehört bleibenden, kritischen Stimmen der Friedensforschung derzeit möglich ist: bewegen zum Nachdenken, zu Kritik am dominanten Diskurs der Unvermeidbarkeit, zum Widerspruch gegen Aufrüstung und „Pseudoempathie“ (S. 41) – und auch auf die Straße.

Diese Rezension ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen bei: abfang.org – Aktionsbündnis für Frieden, aktive Neutralität und Gewaltfreiheit.

Anmerkungen

1) Karl Kraus (1914): In dieser großen Zeit. In: Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936, 16:404, S. 1-20.

2) Christa Wolf (1983): Kassandra. Erzählung. Darmstadt: Luchterhand.

Claudia Brunner

Ulrich Frey (2022): Auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens. Texte aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Gottfried Orth. Norderstedt: edition pace, BoD. ISBN 978-3-754-385-692, 445 S., 14,90 €.

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Dieser Aufsatzband mit Texten zur Friedensethik, Friedenstheologie und Friedenspolitik wurde unmittelbar vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine veröffentlicht. Er wird damit jetzt zu einem willkommenen und klärenden Beitrag zu den kontrovers geführten Diskussionen über die Wahrnehmung friedensethischer Verantwortung in diesem Konflikt. Die Initiative zur Veröffentlichung kam von Gottfried Orth, emeritierter Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig, in Verbindung mit dem 2019 gegründeten Ökumenischen Institut für Friedenstheologie.

Der Autor der 28 in diesem Band zusammengestellten Texte, Ulrich Frey, ist weithin bekannt als eine der Schlüsselfiguren in der christlichen Friedensbewegung in Deutschland seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, vor allem in seiner Rolle als Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden e.V. (AGDF) von 1972-2000. Als Volljurist ausgebildet war Ulrich Frey zunächst im Bereich christlicher Freiwilligendienste für Entwicklung und Frieden tätig, bevor er die Leitung der AGDF übernahm. Seine zumeist für Vorträge ausgearbeiteten und ursprünglich in Zeitschriften veröffentlichten Texte, die zum Großteil aus den letzten 20 Jahren stammen, werden hier im Vorgriff auf seinen 85. Geburtstag im Zusammenhang vorgelegt. Der Band ist gegliedert in zwei gleichgewichtige Hauptteile von jeweils 12 Texten mit den Schwerpunkten Friedensethik bzw. Friedenspolitik, zwischen denen ein kürzerer Mittelteil von vier Texten steht, die sich mit freiwilligen Friedensdiensten befassen.

Im Zentrum der Texte des ersten Teils zur Friedenstheologie und Friedensethik (S. 27-170) steht die Diskussion über das Leitbild des »gerechten Friedens«. Dieses Leitbild geht zurück auf Impulse des ökumenischen konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung in den 1980er Jahren. Seine Konkretisierung erlangt dieses Leitbild in der Vorrangoption der Gewaltfreiheit. Frey behandelt in seinen Texten insbesondere die Dekade zur Überwindung von Gewalt, die Internationale Ökumenische Friedenskonvokation 2011 und den dort vorgelegten »Aufruf zum Gerechten Frieden«, die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 mit der These vom gerechten Frieden durch »rechtserhaltende Gewalt« sowie das ethische Problem der Kriterien zur Legitimation des Einsatzes militärischer Gewalt im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.

Schon 2005 hatte Ulrich Frey im Auftrag der Evangelischen Kirche im Rheinland zusammen mit einer Arbeitsgruppe eine sorgfältige Argumentationshilfe zur Friedensarbeit unter dem Titel »Ein gerechter Friede ist möglich« vorgelegt. Die zusammenfassenden Thesen dieser Publikation sind am Ende dieses ersten Teils noch einmal abgedruckt. Die dort vorgelegte Interpretation des Leitbildes von gerechtem Frieden verstanden als ein „offener, geschichtlich-dynamischer Veränderungsprozess mit immer neuen Anstrengungen zur Verminderung oder gar Überwindung der sich wandelnden Ursachen von Unfrieden“ (S. 165) gilt für den ganzen ersten Teil.

Unter den Beiträgen im kürzeren Mittelteil zu Friedens- und Freiwilligendiensten (S. 171-216) verdient vor allem der Vortrag »Ziviler Friedensdienst – der Intelligenz der Herzen vertrauen« aus dem Jahr 2005 Beachtung. Frey beschreibt darin das Profil des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) folgendermaßen: „Der Zivile Friedensdienst (ZFD) ist gewaltfrei konzipiert. Er stellt nicht den Anspruch, eine Alternative zum Militär zu sein, da er der Logik der Gewaltfreiheit folgt. Er hat seine friedenstheologische Begründung in der Bergpredigt. Der ZFD setzt die Idee der Gewaltfreiheit in aktives Handeln um […]. Der ZFD ist friedensethisch Ausdruck der Handlungsanweisung ‚Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor‘ und verhilft zur Realisierung des Leitbildes vom gerechten Frieden“ (S. 202). Im weiteren Text folgt dann eine präzise Darstellung der Entstehungsgeschichte, Organisation, Finanzierung und der Zielvorstellungen des ZFD, verbunden mit kurzen Skizzen beispielhafter Projekte. Dieser Mittelteil des Buches ist besonders für die Leser*innen geeignet, die die verschlungenen, manchmal mühsamen, aber schlussendlich doch erfolgreichen Pfade nachvollziehen wollen, die zur Etablierung eines expliziten Friedensdienstes in Deutschland geführt haben.

Im zweiten Hauptteil über Friedensbewegung und Friedenspolitik (S. 219-422) finden sich einerseits drei sehr umfassende und informative Texte zur Geschichte der Friedensbewegung. Frey spannt hier den Bogen von den Auseinandersetzungen über die Atombewaffnung in den späten 1950er Jahren über die großen Friedensdemonstrationen 1981-83 im Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss bis hin zur Kooperation zwischen den entsprechenden Friedensinitiativen in Ost und West für eine neue Entspannungspolitik. Andererseits enthält dieser Teil sehr sachkundige, kritische Beiträge zum Thema der zivil-militärischen Zusammenarbeit in Konfliktgebieten, wie z.B. Afghanistan, zur Problematik des erweiterten Sicherheitsbegriffs in der Politik der EU und der NATO und den Folgen für die zivile Krisenprävention, aber auch zur Profilierung von Friedenslogik gegenüber dem sicherheitslogischen Denken in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Besonders hervorgehoben werden muss ein Text aus dem Jahr 2016, der an die mittlerweile endgültig verpassten Chancen für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts erinnert. Der Band wird abgeschlossen durch eine historische Übersicht. Sie ordnet das hier reflektierte Friedensengagement des Autors ein in die sich wandelnden politischen Zusammenhänge.

Insgesamt zeichnen sich die Texte durch die klare Sprache des geschulten Juristen aus, was die Beiträge durchweg gut lesbar und verständlich macht. Das Plädoyer für die Gewaltfreiheit prägt auch die Argumentationsweise, die sich wohltuend abhebt von der gegenwärtig zunehmend polemischen Diskussion zur christlichen Friedensethik. Die Ankündigung des Bandes spricht von „Texten aus drei Jahrzehnten“. Hinter den hier vorgelegten Beiträgen stehen jedoch die reiche Erfahrung und differenzierte Sachkunde des Autors aus mehr als 50 Jahren engagierter christlicher Friedensarbeit. Der Band kann daher dazu beitragen, die oft kurzatmige und geschichtsvergessene öffentliche Diskussion über Krieg und Frieden sowie über Abschreckung oder Entspannung als sicherheitspolitische Optionen kritisch zu überprüfen anhand der hier in Erinnerung gerufenen Einsichten und Erfahrungen der vorangegangenen friedensethischen und friedenspolitischen Debatten. Das gilt auch und vor allem für die jüngeren Generationen, die sich unvermittelt und unvorbereitet mit der Herausforderung von Krieg und Frieden in Europa konfrontiert sehen. Der Band würde sich daher hervorragend eignen als Kompendium oder Lehrmaterial für entsprechende Seminare oder Bildungsveranstaltungen.

Diese Rezension ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen in Zeitschrift für Evangelische Ethik 66(3), 2022, S. 228f.

Konrad Raiser ist emeritierter Professor für Systematische Theologie-Ökumenik und war von 1993-2003 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf.

Vincent Streichhahn; Riccardo Altieri (Hrsg.) (2021): Krieg und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Interdisziplinäre Perspektiven zu Geschlechterfragen in der Kriegsforschung. Bielefeld: transcript Verlag, ISBN 978-3-8376-5764-7, 346 S., 30 €.

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Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, wurden die Aufgaben in der ukrainischen Bevölkerung klar verteilt: Ukrainische Männer, allen voran der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi, waren dazu aufgerufen, das Land zu verteidigen; viele ukrainische Frauen hingegen flohen mit den Kindern aus dem Land. Europa, die USA und die NATO begannen unmittelbar damit, aufzurüsten und wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen. Aus feministisch-pazifistischer Sicht verfiel die ganze »westliche Welt« in alte Muster: die selbstverständliche Aufteilung in kriegerische Handlungen auf Seiten der Männer und in Versorgung der Familie auf Seiten der Frauen sowie die ebenso selbstverständliche militarisierende Reaktion auf Gewalt. Der hier zu besprechende Herausgeberband des Politologen Vincent Streichhahn und des Historikers Riccardo Altieri zu »Krieg und Geschlecht« gewinnt angesichts dieser aktuellen Entwicklungen auch für das 21. Jahrhundert an besonderer Bedeutung.

Der Band präsentiert in 17 Beiträgen unterschiedliche Forschungsansätze vor allem im Kontext feministischer Forschung. Die Beiträge sind in fünf Themenblöcke zusammengefasst. Im ersten Themenblock werden weibliche Darstellungen in Kriegsmobilisierung und Propaganda betrachtet. Anschließend wird das Erleben von Heimat- und Kriegsfront unter Berücksichtigung vergeschlechtlichter Funktionen untersucht. Täterinnenschaft, Gewalterfahrungen und deren Aufarbeitung in europäischen und außereuropäischen Kriegskontexten stehen im Mittelpunkt des dritten Themenblocks, gefolgt von Auswirkungen von Krieg auf die Geschlechtsrepräsentationen in Kunst und Wissenschaft. Zum Abschluss werden Perspektiven im Zusammenhang mit Erinnerungskultur aufgezeigt.

In mehreren Beiträgen wird auf die Hypothese Bezug genommen, dass Krieg als Motor für Emanzipationsbewegungen betrachtet werden könne. Diese Hypothese kann nach der Lektüre des Bandes allerdings als widerlegt gelten, zeigen die Autor*innen doch anhand unterschiedlicher Beispiele, dass sich während der Kriege zwar neue Möglichkeiten für Frauen ergaben, diese allerdings nach jedem Krieg schnell in die alten Rollen zurückgedrängt wurden. So wurde die »Heldenmutter« im Deutschen Reich des Ersten Weltkrieges in ihrer Bedeutsamkeit aufgewertet, gleichzeitig war aber sozialpolitisch und medial keine Neugestaltung der Position von Frauen innerhalb der deutschen Gesellschaft vorgesehen, wie Julia Richter anhand der Analyse von nicht-fiktionalen Texten aufzeigt (S. 25-43). Jana Günther beleuchtet in ihrem Beitrag zum Band, dass die Erfolge der britischen Frauenbewegung nicht auf sozialen Veränderungen im Ersten Weltkrieg basierten, sondern auf den Errungenschaften, die bereits davor erreicht worden waren, an die anschließend angeknüpft werden konnte (S. 87-104). Auch in Katharina Seiberts Artikel (S. 105-123), in dem sie aus raumhistorischer Perspektive die zunehmende Beteiligung von Frauen im Spanischen Bürgerkrieg von 1936-1939 beleuchtet, zeigt sich, dass die ehemaligen Franquistischen Krankenpflegerinnen nach dem Krieg zwar für die gleichen Rechte, die auch den Soldaten zustanden, kämpften, sich aber gleichzeitig gesellschaftspolitisch nichts an den patriarchalen Verhältnissen änderte. Genauso lässt sich Florian Grafls Beitrag (S. 125-142) in diesen Zusammenhang stellen: Er zeigt, dass die Funktionen der wenigen Frauen, die an Ausschreitungen und Protestkundgebungen im Barcelona des 20. Jahrhunderts vor Beginn des spanischen Bürgerkriegs teilnahmen, oft ihrem geschlechtsspezifischen Rollenverhalten entsprachen, indem sie häufig für Hilfsfunktionen eingesetzt wurden. Als weiteres Beispiel sei hier auch der Artikel von Anna Horstmann (S. 265-283) genannt, die sich mit dem Einsatz von Frauen als Chemikerinnen im Deutschland des Ersten und Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Aufgrund des zunehmenden Männermangels wurden auch die kriegswichtigen Chemiker rar, weshalb immer mehr Frauen in diesem Beruf Fuß fassen konnten. Die Autorin kann jedoch zeigen, dass auch diese Entwicklung nicht als Motor für die Frauenbewegung gesehen werden kann, da die alten Geschlechterstrukturen unmittelbar nach dem Krieg wiederhergestellt wurden: die Chemikerinnen wurden abqualifiziert und zu Hilfsarbeiten herangezogen, sowie eine eigene weibliche Sparte der Patent- und Literatur-Chemikerinnen erschaffen, denen der Zugang zu Wissenschaft und Forschung verwehrt blieb.

Der Großteil der Texte des Sammelbandes beschäftigt sich primär mit der Rolle der Frau in unterschiedlichen Kriegskontexten und nur implizit mit Fragestellungen, die auch die Konstruktion von Männlichkeit, Patriarchat und Heteronormativität miteinbeziehen. Eine erfreuliche Ausnahme bildet der Artikel von Agnes Laba (S. 143-162) zur Rolle der Geschlechterordnungen in Besatzungszonen. Sie zeigt auf, dass die Prozesse, durch die sich in der Vergangenheit die gesellschaftlichen Strukturen von Kriegs- zu Friedensordnungen veränderten, höchst gegenderte Prozesse waren, die patriarchale Systeme beförderten. Besonders in Gebieten, die über einen längeren Zeitraum von einer feindlichen Macht besetzt waren, zeigte sich dieser Prozess insofern, als die Entmachtung der Männer in der besetzten Zone zu einer Gegenbewegung führte, indem diese ihre Männlichkeit besonders in den Vordergrund stellten. Dies zeigt sich einerseits in der entwürdigenden Behandlung von Frauen, die sexuelle Beziehungen mit den feindlichen Soldaten eingegangen waren, und andererseits in einer Rückkehr zu bereits überwundenen patriarchalen Strukturen innerhalb der Familien und im gesellschaftlich verankerten Frauenbild nach der Besatzung.

Auch Ute Sonnleitner (S. 231-249) präsentiert in ihrer Analyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Schauspieler*innen im Ersten Weltkrieg die widersprüchliche Entwicklung des Geschlechterbildes in diesem Berufsfeld. Die Geschlechtsstereotypen, die Männer als Soldaten und Frauen als Krankenpflegerinnen verorteten, waren auch in der darstellenden Kunst vorherrschend.

Besonders hervorheben möchte ich noch zwei Artikel, die Gewalt gegen Frauen als Kriegsstrategie thematisieren – eine Sichtweise, die bis in die 1990er-Jahre weder geteilt noch als eigenes Forschungsthema behandelt wurde. Am Beispiel der sexualisierten Kriegsgewalt gegen Maya-Frauen im guatemaltekischen Bürgerkrieg zeigt Anja Titze (S. 187-205) auf, wie diese Gewaltform systematisch eingesetzt wurde, um den sozialen und kulturellen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft zu zerstören und letztlich die indigenen Bevölkerungsgruppen zu vernichten. Das lange Schweigen der Opfer erschwerte die Strafverfolgung der Täter, die Autorin diskutiert allerdings anhand exemplarischer Prozesse, wie das Thema sexualisierter Gewalt als einer Kriegs- bzw. Terrorwaffe mittlerweile Einzug in die Rechtsprechung gefunden hat.

Anja Zürn und Catharina Crasser (S. 207-228) zeigen am Beispiel der Demokratischen Republik Kongo den systematischen Einsatz sexualisierter Gewalt auf. Sie legen in ihrem Artikel den Fokus allerdings auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die die Wirkmächtigkeit dieser Gewaltakte überhaupt erst möglich machten. Sie beleuchten durch die Analyse der Geschlechterverhältnisse vor, während und nach dem Krieg Aspekte, die dazu beigetragen hatten, sexualisierte Gewalt als Waffe wirkmächtig werden zu lassen: das Ansehen der Gemeinschaft, das auf der Unversehrtheit der Frauen beruht, ökonomische und soziale Diskriminierungen der Frau, Bildungsungerechtigkeit und das Festhalten an patriarchalen Strukturen und Abhängigkeiten.

Den Abschluss des Sammelbandes bietet schließlich das faszinierende Porträt von Rosi Wolfstein, das Riccardo Altieri (S. 321-340) nachzeichnet. Er zeigt, wie diese Frau im Erleben zweier Weltkriege und trotz heftiger, teilweise abwertender Gegenstimmen stets ihre antimilitaristische Haltung bewahrte und sich nie scheute, diese auch öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Das Porträt macht deutlich, dass auch die Kriegsgegner*innenschaft keineswegs eine rein männliche Position war und korrigiert dieses falsche Bild von der unpolitischen Frau.

Der Sammelband bietet eine beeindruckende Zusammenschau unterschiedlichster Perspektiven auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen in der Kriegsforschung – nicht nur in europäischen, sondern auch in außereuropäischen Zusammenhängen. Allerdings fokussiert er in erster Linie auf die Betrachtung feministischer Debatten, Fragen der (historischen) Konstruktionen von Männlichkeit und Heteronormativität auch und gerade in Kriegssituationen bleiben außen vor. Dies könnte ein Zugang für einen Fortsetzungsband sein. Zu empfehlen ist der Band besonders für (kriegs-)historisch informierte Leser*innen – an manchen Stellen wird ein gewisses historisches Vorwissen vorausgesetzt – und für Menschen, die sich für Geschlechterforschung interessieren, da auch unterschiedliche methodische Forschungszugänge präsentiert werden.

Agnes Stephenson ist Dozentin im Department Psychotherapiewissenschaft der Sigmund Freud PrivatUniversität Linz und forscht zu psychodynamischen Aspekten gesellschaftlicher Phänomene (wie Populismus, Autoritarismus und Verschwörungstheorien), Global Citizenship, Identität und Heimat.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 57–61