Andreas Zumach (2021): Reform oder Blockade – welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag. ISBN 978-3-85869-911-4, 360 S., 26 €.
„Welche Zukunft hat die UNO?“ Diese Frage ist nicht neu: Schon oft wurde hoffnungsvoll nach der Rolle der UNO gefragt – und allzu oft wird resigniert. Der Autor und Publizist Andreas Zumach beleuchtet die Möglichkeiten der UNO in seinem Buch »Reform oder Blockade« eindringlich. Der Blick ins Buch verdeutlicht immer wieder: es sind doch ihre Mitglieder, derzeit 193 Staaten, die mit ihrem Abstimmungsverhalten, ihren Initiativen und Beiträgen die Geschicke der UNO wesentlich lenken. Was stand bei Verhandlungen zur Debatte, wer nahm teil und wie haben die Verhandelnden agiert? Werden die Verfahren und Regeln der UN genutzt und respektiert – oder werden sie gar untergraben?
Als langjähriger UNO-Korrespondent für diverse Tageszeitungen hat Andreas Zumach diese Themen und Arbeitsweisen aus nächster Nähe verfolgt und zeichnet anschaulich Konflikte, Reformen und jüngste Entwicklungen in den internationalen Beziehungen nach. Dass dies so stringent gelingt, liegt sowohl am Thema als auch am Autor: Die UNO lebt vom Gestaltungswillen ihrer Mitglieder und die sind handelnde Subjekte. Entsprechend können politische Verantwortungsträger benannt werden – was sich angenehmerweise auch in Zumachs aktivischem Schreibstil widerspiegelt. Auch wenn man meint, die Konflikte in zumindest den großen Linien schon zu kennen – Zumachs Detailkenntnis macht die Lektüre spannend und sorgt für Erkenntnisgewinn. Es ist dabei eine gut gewählte Lösung von Autor und Verlag, auf Quellennachweise zu den vielzähligen Resolutionen oder den allgemeinen Abläufen zu verzichten, dafür aber bei weniger geläufigen oder strittigen Themen Verweise zu Hintergrundinformationen direkt im Text anzuführen.
Vor dem Eindruck der Corona-Pandemie wendet sich Zumach gleich zu Beginn des Buches der internationalen Gesundheitspolitik zu und erörtert, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Ende des Kalten Krieges immer stärker in die Abhängigkeit von Pharmakonzernen, Stiftungen und anderen privaten Geldgebern geriet. Dadurch vernachlässigte die WHO zunehmend ihren Gründungsauftrag, den Ausbau öffentlicher Gesundheits- und Fürsorgesysteme zu unterstützen. Wie etwa auch »Medico International« fordert, wären hier die Mitgliedstaaten gefragt, die Finanzierung nachhaltig zu sichern und damit wirtschaftliche Abhängigkeiten von einigen wenigen mächtigen Akteuren zu vermeiden. Ähnlich findet eine Aushöhlung der Strukturen der UNO auch an anderen Stellen wie etwa im Wirtschafts- und Umweltbereich statt, wie Zumach eindrucksvoll aufzeigt.
Wohin eine Blockadehaltung von Staaten führen kann, illustriert Zumach an der ständigen Abrüstungskonferenz, wo die wichtigsten Fortschritte der letzten Jahre im Wesentlichen auf Initiativen von NGOs zurückzuführen sind – die auch teils außerhalb der UNO verhandelt und vereinbart wurden. Zusätzlich enttäuschte die verstärkte Erosion des Völkerrechts seit Ende der 1990er Jahre die Hoffnung, dass sich die UNO durch die Überwindung der Ost-West-Konfrontation endlich effektiv für friedliche Konfliktregelung einsetzen könne. So zeichnet Zumach nachvollziehbar und folgerichtig die Vorbedingungen der aktuellen Krise der UNO-Organe und ihre Handlungsunfähigkeit angesichts des Ukraine-Kriegs vor.
Der sogenannten Kosovokrieg 1999 schuf hier, so Zumach, einen Präzedenzfall für die Missachtung des Völkerrechts. Mit Konzepten wie der »Responsibility to Protect« und Verweisen auf den Völkermord in Ruanda sowie das Massaker von Srebrenica versuchten die NATO-Staaten ihren Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro zu rechtfertigen. Zumach zeigt jedoch auch hier, dass es selbst bei diesen Verbrechen im Vorfeld warnende Stimmen und andere Handlungsmöglichkeiten gab. Durch den völkerrechtswidrigen Krieg wurde hingegen „die Diplomatie auf eine militärisch gestützte Drohpolitik“ verengt, was auch noch während der später dominanten Terrorismusbekämpfung des »Krieg gegen den Terror« der USA und ihrer Alliierten ein zentrales Motiv bleiben sollte. Außerdem wurde Moskau bedeutet „dass die NATO auch ohne russische Einbindung und Zustimmung agieren würde“ (S. 224). Damit wurde eine Blaupause für die völkerrechtswidrige Annexion der Krim geliefert und der Weg für weitere völkerrechtswidrige Kriege geebnet, so Zumach überzeugend.
„Bei keinem anderen Gewaltkonflikt seit Ende des Kalten Krieges sind sich weite Teile der öffentlichen und veröffentlichten Meinung derart einig, dass die Vereinten Nationen und insbesondere der UNO-Sicherheitsrat gescheitert sind, wie bei dem seit März 2014 stattfindenden Vielfrontenkrieg in und um Syrien“ (S. 116). Dies erklärt Zumach auch mit den zahlreichen gescheiterten Verhandlungsrunden und den steten Beteuerungen guter Absichten aller Verhandlungsparteien bei gleichzeitig fortgesetzter Unterstützung der Bündnispartner in Syrien. Dabei läge es an den UNO-Mitgliedsstaaten, insbesondere den Vertretern des Sicherheitsrates, einen Friedensplan zu oktroyieren.
Auch die Ukrainepolitik – und damit die Vorgeschichte des russischen Einmarschs – beleuchtet Zumach sehr kundig mit Hintergrundinformationen u.a. zum einkassierten Versprechen, die NATO nicht gen Osten zu erweitern, dem Einfluss der EU auf die Ukraine, Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim und möglichen Deeskalationsschritten. Obwohl es zu einer der schlechten Traditionen aus der Zeit des Kalten Krieges gehöre, dass sich die UNO aus Konflikten heraushalte, an denen eine oder mehrere Vetomächte beteiligt seien, könnten UNO-Mitgliedstaaten durchaus vermitteln und die Deeskalation des Konfliktes unterstützen, fasst Zumach die Selbstblockade der Staatengemeinschaft treffend zusammen.
Trotz der vielen Versäumnisse ist der Grundtenor des Buches hoffnungsvoll: die UNO werde noch gebraucht, so Zumach. Sie könnte eine viel bedeutendere Rolle bei der internationalen Friedenssicherung und gesellschaftlichen Entwicklung einnehmen. Die Voraussetzung dafür sei jedoch, dass die Mitgliedsstaaten dies wollen, die UNO entsprechend ausstatten und ihr Regelwerk respektieren.
Dennoch, so Zumach, ist die „entscheidende Frage für die Zukunft der UNO […], ob die Politikeliten in Washington den relativen ökonomischen und politischen Macht- und Einflussverlust ihres Landes endlich akzeptieren und die multipolare Realität dieser Welt anerkennen“ (S. 113). Nach vier Jahren Trump und dessen erklärter Feindseligkeit gegen die UNO, hat sich US-Präsident Biden wieder stärker den multilateralen Organisationen zugewandt. Doch bis zu einer vollwertigen Etablierung einer akzeptierten Multilateralität ist es noch ein weiter Weg.
Seit der Veröffentlichung des Buches hat Russland die Ukraine überfallen. Die Mitgliedsstaaten konnten oder wollten die Foren der UN-Institutionen nicht oder nur wenig für aktive Diplomatie nutzen. Die Frage nach der Handlungsmacht der UNO in Fragen von Krieg und Frieden hat sich damit weiter dramatisch zugespitzt.
Andreas Zumach bringt seine Kenntnisse dankenswerterweise engagiert in aktuelle öffentliche Diskussionen ein. Eine weitere Neuauflage des Buches, die diese jüngsten Entwicklungen mit berücksichtigt, wäre sicher sehr interessant, doch auch so kann das Buch bereits als Grundlagenwerk zu Entwicklung und Funktionsweisen der UNO empfohlen werden. Außerdem regt es zum Weiterdenken an: zu Ansatzpunkten für zivilgesellschaftliches Engagement, der Verortung wissenschaftlicher Analysen und Möglichkeiten der friedlichen Konfliktregelung durch internationale Organisationen.
Dr. Susanne Schmelter ist Anthropologin und Friedens- und Konfliktforscherin. Nach Forschungsaufenthalten in Syrien und Libanon, wo sie insbesondere zum Zusammenspiel humanitärer Akteure forschte, lebt sie nun in Genf, wo sie kürzlich den Verein »Manara« zur Stärkung von Zivilgesellschaft im multilateralen Dialog gegründet hat.