W&F 2018/3

Abschiebe-Poker

von Jürgen Nieth

Getrieben von der CSU – wann hat schon mal ein Minister seiner Regierungschefin ein zweiwöchiges Ultimatum gestellt? –, hat sich die Kanzlerin im Europäischen Rat für eine weitreichende Abschottung der EU eingesetzt. In der Nacht vom 28. auf 29. Juni hat dieser beschlossen:

  • Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex,
  • weitere drei Milliarden Euro an die Türkei für die Zurückhaltung von Bürgerkriegsflüchtlingen,
  • Unterstützung der Länder der Sahelzone und der libyschen Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr,
  • Sammellager innerhalb Europas und Nordafrikas, »Ausschiffungsplattformen«, von denen Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, zurück nach Afrika gebracht werden.

Abschrecken, abschotten, abschieben

Bettina Gaus in der taz (30.6.18, S. 12):

„Das Tempo, in dem sich das gesellschaftliche Klima verändert, ist atemberaubend. Vorschläge und Pläne, die noch vor wenigen Monaten als absurd, rechtswidrig und menschenverachtend gegolten hätten – zu Recht –, werden inzwischen von den höchsten politischen Institutionen jenes Kontinents erörtert, der sich viel darauf einbildet, eine Wertegemeinschaft zu sein […] Eine derartige Missachtung rechtlicher und humanitärer Grundsätze, wie ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht für möglich gehalten. Beispiel Seenotrettung […] Jeder Kapitän muss unverzüglich Hilfe leisten, wenn er von einer Notsituation erfährt […] Die Hilfsbedürftigen müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. So klar und unmissverständlich ist das Völkerrecht in dieser Frage. Ebenso klar und unmissverständlich machen demokratisch gewählte Regierungen und demokratische Parteien in Europa deutlich, dass sie sich darum nicht scheren.“

Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung (30.6.18, S. 4):

„Die notgedrungen vage gehaltene Gipfel-Einigung in Sachen Migration und Flucht [ist] so etwas wie ein Erfolg, jedenfalls in dem Sinne, dass sich Regierungen mit höchst unterschiedlichen Standpunkten auf Richtlinien verständigt haben. Diese Richtlinien setzen deutlich auf Abwehr und Abhaltung. Allerdings hat die EU insgesamt ohnehin nie eine Willkommenspolitik verfolgt […] Was [der Kompromiss] taugt, wird sich daran erweisen, ob die Flüchtlingszentren in der EU nicht nur stacheldrahtbewehrte Internierungslager werden und ob genug Solidarität zur Verteilung der Asylberechtigten besteht.“

Joachim Dorfs in Stuttgarter Zeitung (30.06.18, S. 1):

„Wenn nun von einer schärferen Gang­art gegenüber Flüchtlingen die Rede ist, dann stimmt das nur bedingt. Schließlich ist das, was sich täglich auf dem Mittelmeer abspielt, in höchstem Maße inhuman: Tausende sterben bei der Flucht, und wer in Europa landet, kann nicht sicher sein, hierbleiben zu können. Die EU hat nun den ersten Schritt getan: Sie verringert die Anreize, sich in der Hand von Schleppern auf die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer zu begeben. Der zweite Schritt muss folgen: Es muss legale Möglichkeiten der Einreise auch aus Afrika geben. Und es braucht einen Verteilmechanismus für diese – dann kontrollierte – Zuwanderung in die EU.“

Damir Fras in der Frankfurter Rundschau (30.6.18, S. 11):
„Die EU-Pläne zur Verschärfung ihrer Migrations- und Asylpolitik sind keine Antwort auf eine Schicksalsfrage. Es handelt sich dabei um vage Ideen, rechtlich bedenkliche Vorschläge und allgemein gehaltene Willensbekundungen. Luftschlösser könnte man sagen. Alle zusammen werden sie, wenn sie überhaupt jemals verwirklicht werden, die Migration nach Europa nicht steuern und schon gar nicht verhindern.“

Uwe Kalbe in Neues Deutschland (30.6.18, S. 1):

„Es ist Konsens der Regierungspolitik, dass eine gute Stimmung im eigenen Land wichtiger ist als der Überlebenskampf außerhalb Europas […] Außengrenzen werden frontexdicht, Schlepper statt Fluchtursachen bekämpft und Menschen für ihre Flucht durch Internierung bestraft […] Fluchtursachenbekämpfung? Zusammenarbeit mit Afrika? Gibt es in Form von Lagern, für deren Betreiben Kooperationswillige bestochen werden sollen, damit sie erledigen, was die EU für unzumutbar hält.“

Nikolas Busse in Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.6.2018, S. 1):

„In einer Hinsicht war die deutsche Debatte der vergangenen zwei Wochen irreführend. Die EU verfolgt keine Politik der offenen Außengrenzen. Ganz im Gegenteil ist ihre Asylpolitik in den vergangenen drei Jahren restriktiv geworden. Die Abriegelung der Balkan Route, das EU-Türkei-Abkommen, der Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex und diverse andere Maßnahmen zielen darauf ab, die ungeregelte Einwanderung nach Europa zu drosseln. Und das hat schon Wirkung gezeigt […] die Anzahl illegaler Grenzübertritte seit Oktober 2015 [ist] um 95 Prozent gesunken.“

Benedikt Neff in Neue Zürcher Zeitung (30.6.2018, S. 3):

„Die Regierungserklärung vom Donnerstag zeigte, wie sehr sich Merkel in den vergangenen drei Jahren bewegt hat. Von ihrer offenen Asylpolitik ist im Wesentlichen nur noch das Beharren auf europäisches Recht geblieben. Davon abgesehen ist sie bereit, die Gesetze so weit wie möglich auszureizen […] Mit ihrer Rede vor dem Parlament machte Merkel deutlich, dass sie von den Positionen des Innenministers nicht viel trennt. Der Unterschied bleibt: Angela Merkel will eine europäisch abgestimmte Lösung, Horst Seehofer scheut auch den Alleingang nicht.“

Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

Geringe Differenzen? Seehofer reichten sie für Rücktrittsdrohung und die Auslösung einer Regierungskrise. Am 5. Juli einigte sich schließlich der Koalitionsausschuss. „Bei dem Kompromiss geht es vor allem darum, an der deutsch-österreichischen Grenze Migranten abzufangen und zurückzuschicken, die schon in anderen EU-Ländern einen Asylantrag gestellt haben.“ (Allgemeine Zeitung – Mainzer Ausgabe, 6.7.8, S. 1) Das Trostpflaster für die SPD – die sogenannte Transitzentren bisher strikt abgelehnt hat – ist die Zusage, dass es noch in diesem Jahr ein Einwanderungsgesetz geben soll.

Während Bundesregierung und Europäischer Rat die verschärfte Flüchtlingsabwehr diskutierten, ging das Sterben im Mittelemeer weiter: „Die Internationale Organisation für Migration meldet 483 Ertrunkene zwischen dem 19. Juni und dem 3. Juli.“ (Spiegel, 7.7.18, S. 55)

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2018/3 Gender im Visier, Seite 4