Abschluß der C-Waffen-Konvention: Eine Frage des politischen Willens
von Werner Dosch
Die Mittelstreckenraketen waren die zentrale Rüstungsbastion, gegen die die Friedensbewegung angerannt ist. Freuen wir uns, diese Bastion wird geschleift werden! Gewiß, mit der beschlossenen Verschrottung der Raketen entfällt ein Druckpunkt und damit vorübergehend auch ein Stück Orientierung der Friedensbewegung. Von jetzt an muß Abrüstung in Bewegung bleiben, weil sie von jetzt an auf Bewegung angewiesen ist. Die vier Prozent Gefechtsköpfe weniger machen nur Sinn, wenn sie der Beginn eines kontinuierlichen Prozesses sind, bei dem die Menschheit Waffe um Waffenart auf ihre Selbstvernichtung verzichtet. Um diesen Weg durchzustehen, bedarf es notwendiger denn je des Auftriebs einer neuen Friedensbewegung, die sich neu formieren muß, gerade auch durch noch stärkere Ausweitung über die Staats- und Blockgrenzen hinweg. Hier läßt sich nichts erzwingen. Die Selbstorganisation von Menschen zu einer großen politischen Kraft muß sich immer wieder in den einzelnen Köpfen vorbereiten.
Mit dem Abbau eines Teils der Mittelstrekkenraketen rücken in Europa jetzt die konventionellen und die chemischen Waffen stärker in den Mittelpunkt. Der Abschluß der C-Waffenkonvention ist nach 19 Genfer Verhandlungsjahren kaum mehr als eine Frage des politischen Willens. Was hier noch strittig ist, sollte sich nach dem Vorbild der abschließenden INF-Verhandlungen von den Außenministern der USA und UdSSR an einem Wochenende wegverhandeln lassen.
Es kann aber auch ganz anders kommen: Das Credo der Abrüster, die Forderung nach möglichst lückenloser Verifikation, ist besonders schwer zu erfüllen, wenn es um Chemie geht. Kampfstoffchemie läßt sich kontrollmäßig gerade noch fassen, solange sie auf Grund ihrer besonderen Gefährlichkeit als solche erkennbar bleibt. Wenn jetzt ein neuer Typ von sogenannten binären C-Waffen produziert wird, werden diese verräterischen Indikatoren entfallen.
Daher muß die Forderung lauten: Chemische Abrüstung jetzt - solange sie machbar ist! Die Entscheidung für Auf- oder Abrüstung von C-Waffen steht derzeit auf der Kippe. Die Entscheidung zum Frieden braucht Anstöße. Die Friedensbewegung ist aufgerufen!
C-Waffen-Vorräte
Im April haben die Außenminister der USA und der UdSSR Inspektionen der jeweiligen Vernichtungslager für chemische Waffen verabredet. Die Amerikaner hatten schon einmal 1983 ihre Verbrennungsanlage in dem Armee-Depot Tooele, Utah, einer internationalen Inspektion geöffnet, an der sich die Sowjetunion jedoch noch nicht beteiligte. In diesem Jahr haben beide Großmächte ihre chemischen Arsenale gezeigt. Den Anfang machte die Sowjetunion, die im Oktober in Schichany, Bezirk Saratow, 19 verschiedene Typen chemischer Munition vorführte und zeigte, wie Nervenkampfstoffe vernichtet werden. Im November folgte die Bundesrepublik mit der Vorführung der technisch besonders schwierigen Vernichtung von Altkampfstoffen unterschiedlicher Zusammensetzungen in Münster. Im gleichen Monat führten die Amerikaner ihr inzwischen verbessertes Verfahren der Kampfstoffverbrennung in Tooele vor, zugleich aber auch schon Prototypen der geplanten binären C-Waffen. Die Konstruktionsmerkmale von mindestens 11 der noch aktuellen (unitären) US-Waffen waren bereits früher bekanntgegeben worden.1 Jetzt steht noch ein Besuch des britischen Giftzentrums Porton Down aus. Ebenso wie die Bundesrepublik verfügt Großbritannien nicht (mehr) über eigene C-Waffen. Der gewiß aufschlußreiche Einblick in das französische C-Potential wird kaum möglich sein. Frankreich, das bereits C-Waffen besitzt, hat sich in diesem Jahr für eine neue chemische Aufrüstung, offenbar mit Binärwaffen, entschieden.
Das makabre Vorzeigen der schändlichen Giftwaffen ist eine Geste der Abrüstungsbereitschaft. Gerade für die Sowjetunion, die vor wenigen Jahren noch nicht einmal den Besitz chemischer Waffen zugegeben hatte, muß die Demonstration von Schichany ein schwerer Entschluß gewesen sein.
I Vorräte tödlicher Kampfstoffe |
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USA (Schätzungen nach offenen Angaben) 2 a)Nervenkampfstoffe 8.800 t GB + 4.336 t VX = 13.316 t (munitioniert)zusätzlich 3.538 t in bereits veralteter Munition b) Andere tödliche Kampfstoffe: Die bekannten Kampfstoffe sind in bekannten Munitionstypen bzw. in Containern in 10 Depots gelagert: 8 davon in den USA, 1 auf Johnston Island (Pazifik) und in der Bundesrepublik. In der BRD befinden sich ca. 435 t Nervenkampfstoffe GB und VX in ca. 145.000 Artillerie-Granaten. |
UdSSR Unbekannte Mengen aller Kampfstoffarten in mindestens 19 verschiedenen Munitionstypen an unbekannten Orten. |
Frankreich Unbekannte (kleinere) Mengen und Typen chemischer Munition. Aufrüstung mit vermutlich binären CW 1987 beschlossen. |
Proliferation Mindestens 15 weitere Staaten verfügen über CW. „CW = die Atombombe des kleinen Mannes“ |
In Kasten 1 ist zusammengefaßt, was über C-Potentiale bekannt ist. Das Informationsmonopol der Vereinigten Staaten spiegelt sich darin wider, daß hier plausible Schätzungen der grundsätzlich geheimgehaltenen Kampfstoffmengen überhaupt möglich sind. Auch die Vereinigten Staaten geben also keine offiziellen Informationen über ihre Vorräte. Sie haben aber bekannt gemacht, welche Kampfstoffe in welchen Munitionsarten und in welcher prozentualen Verteilung über die 8 bekannten kontinentalen US-Lager verteilt sind.3
Amerikanische Schätzungen der sowjetischen Kampfstoffvorräte gehen bis weit über das 10-fache der US-Bestände hinaus und sind offenbar im Sinne von „worst case“-Annahmen überhöht.
Wegen unterschiedlicher biologischer Wirkungen und dazu erforderlicher Giftmengen lassen sich Kampfstoffe nicht ohne weiteres vergleichen. Nervenkampfstoffe sind mit Abstand am gefährlichsten. Bei Spekulationen über Tonnagen ist weiterhin zu beachten, daß die Waffen rund 10 mal so viel wiegen wie das darin gespeicherte Gift.
Ein ernstes Problem ist die zunehmende Weiterverbreitung (Proliferation) gerade auch bei C-Waffen. Nach US-Angaben 4 ist bei 4 Staaten der Besitz von C-Waffen evident: Frankreich, Irak, Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. 11 weitere Staaten werden verdächtigt, daß sie über solche Waffen verfügen: Ägypten, Äthiopien, Burma, China, Israel, Nordkorea, Libyen, Syrien, Taiwan, Thailand und Vietnam. Als Schwellenländer werden außerdem der Iran und Südkorea eingeschätzt.
Proliferation erschwert und verunsichert Abrüstung und wirkt wie eine heimtückische Zeituhr. Eine besondere Destruktivität geht von Frankreich aus, das bei quantitativ geringem Einsatz mit eigenen Mittelstreckenraketen, der Neutronenbombe und jetzt auch modernisierten C-Waffen Abrüstungshindernisse aufbaut. Die genannten Waffen bedrohen auf Grund ihrer begrenzten Reichweiten auch die befreundete Bundesrepublik.
Wirkung und militärischer Einsatz von C-Waffen
Seit dem vorigen Jahrhundert wird versucht, die Greuel des industrialisierten Krieges durch völkerrechtliche Normen zu begrenzen. Innerhalb des Kriegsvölkerrechts soll das „Haager Recht“ dafür sorgen, daß den Kriegsführenden „kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes“ zusteht. Das „Genfer Recht“ will dagegen bestimmte Personengruppen, vor allem die Zivilbevölkerung, vor Kriegseinwirkungen bewahren.5 In der Realität nimmt aber das Verhältnis von ermordeten Zivilisten zu Soldaten von einem Krieg zum nächsten zu.
Nervenkampfstoffe töten in geringsten Mengen durch Atmung, Hautkontakt und Nahrungsaufnahme. Zivilisten sind unter den Bedingungen eines modernen Krieges vor Giftgas nicht zu schützen. Soldaten verfügen dagegen über die erforderlichen Schutzmittel: Maske, Kampfanzug, gasdichte Fahrzeuge und dergleichen. Sie werden dazu trainiert, innerhalb von Sekunden, die hier zählen, diesen Schutz zu aktivieren. Der Einsatz von Giftgas hat in bisherigen Kriegen zu entsetzlichem Leid und Sterben geführt. Aber durch keinen dieser barbarischen Akte wurden jemals Schlachten oder gar Kriege entschieden. In den letzten Jahren haben Befürworter der C-Waffen angeführt, daß diese dazu benutzt werden könnten, das Leben beispielsweise auf einem frontnahen Flugplatz auszurotten, den der Aggressor im Zuge einer „Vorwärtsverteidigung“ anschließend einnehmen und selbst nutzen möchte. Eine andere Vorstellung ist die, daß sich im Chaos eines Krieges so etwas wie eine Eskalationsfolge der Waffenarten einhalten ließe - konventionell, chemisch, atomar -, wobei die chemischen Massenvernichtungsmittel die „atomare Schwelle“ anheben sollen. Beide Vorstellungen sind militärisch höchst fragwürdig.
Die Unsinnigkeit und Widersprüchlichkeit einer Waffe, die bei dem geringsten Einsatz schon große Teile der Zivilbevölkerung umbringen würde, deren militärischer Effekt aber selbst bei massivstem Einsatz ungewiß bleibt, ist in Kasten 2 veranschaulicht.
Chemischer Krieg in Europa: 98 % der Opfer Zivilisten - militärischer Effekt fragwürdig? | ||||
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1. Aspekt: C-Waffen töten in geringsten Mengen Unter der (unrealistischen) Annahme einer 3 Meter hohen tödlichen Wolke mit dem Nervenkampfstoff VX und eintägiger Einwirkung: |
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Gebiet | km2 | tödl. VX-Menge in t* | % der Vorräte** | x-facher Overkill |
BRD | 248.103 | 5 | 0,02 | 5.803 |
Mitteleuropa | 1.132.103 | 24 | 0.08 | 1.272 |
Welt (Landmasse) | 149.106 | 3.104 | 10 | 3 |
Annahmen: * LCt50VX = 10 mg x min x m-3 6, hochgerechnet auf 1 Tag | ** US-Vorräte = SU-Vorräte = jeweils ca. 15.000 t | ||||
2. Aspekt: Der militärische C-Einsatz wird im Tonnenmaßstab geplant | ||||
Bei Kampfhandlungen werden 0,1- 10t Kampfstoffe pro Hektar oder pro Ziel verschossen. (10 t/ha ist 5 Millionen mal mehr als nötig um zu töten). Dieser ungeheure Oberschuß wird für erforderlich gehalten | - weil Soldaten sich gegen C-Waffen schützen können | |||
- und wegen das Einflusses von Wind und Wetter |
Bei dem hypothetischen Modell der tödlichen Wolke wurde der seßhafte Kampfstoff VX angenommen. Die Giftmengen, die sich rechnerisch ergeben, würden sich im Falle der gedachten Kontamination der Bundesrepublik und selbst noch von Mitteleuropa mit einem Lastwagen transportieren lassen. Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:
1. C-Waffen sind Unsinnswaffen.. Sie töten Zivilisten, ihre militärische Bedeutung hängt von der Überraschung ab 7 und beruht letztlich darauf, daß Soldaten durch die Ungefüge Schutzkleidung bei ihrem Handwerk behindert werden.
2. Die vorhandenen Nervenkampfstoffe sind bereits so giftig, daß es von untergeordneter Bedeutung ist, ob zu den bekannten noch neue Gifte entwickelt werden oder nicht. Aus dem gleichen Grund sind auch die wahren (geheimen) C-Vorräte der Supermächte zweitrangig: Sie sind auf jeden Fall zu groß!
3. Der Vorbehalt einiger Unterzeichnerstaaten des Genfer Protokolls, C-Waffen als „Repressalie“ (Vergeltungskapazität) für den Fall zu benötigen, daß sie mit C-Waffen angegriffen werden 8 überzeugt nicht: C-Waffen morden auch als Repressalie Zivilisten und sind militärisch obsolet.
Ächtung der C-Waffen: Welche Chancen hat die C-Konvention?
Das Verbot der C-Waffen, über das in Genf seit 1968 unter Beteiligung von 40 UN-Mitgliedsstaaten und zusätzlich (mit Unterbrechungen) auch bilateral zwischen den USA und der UdSSR verhandelt wird, muß umfassen: Die Kontrolle der Beständevernichtung und der Nichtherstellung chemischer Waffen.9 Der Rahmen des Abkommens - Definitionen, Richtlinien für die zu schaffende Verifikationsbehörde und -prozeduren, Fristen und Formalitäten - war im Prinzip, wenn auch noch mit alternativen Formulierungen, bereits 1984 fertig (CD/539; vgl. auch 10). Seitdem hängt der Vertrag kaum noch von Verhandlungsdurchbrüchen ab, auch nicht in der Verifikationsfrage. Es fehlt, daß er endlich beschlossen wird.
Eine lückenlose Erfassung eventueller verbotener C-Aktivitäten ist nicht möglich. Abrüstung ist stets auf eine Mischung von Kontrolle und Vertrauen angewiesen und kann kaum mehr behindert werden, als durch die Forderung nach absoluter Verifikation. Der wichtige quantitative Aspekt des Problems der C-Abrüstung ist in Kasten 3 dargestellt: Zu einem C-Potential gehört eine Mindestmenge an Waffen. Die vorhandenen Instrumente der Kontrolle und der chemischen Spurenanalytik sind zu empfindlich, als daß es ein Staat wagen könnte, das C-Verbot zu unterlaufen.
Läßt sich die Abrüstung von C-Waffen kontrollieren?
Weil Kampfstoffe heimlich produziert werden könnten, gibt es Zweifel, ob ein Totalverbot verfiziert werden kann.
In der Tat - ein Chemiestudent, der es darauf anlegt, ist kaum daran zu hindern, einen Kampfstoff in Mengen von 1 oder 2 Litern herzustellen. Ebenso wenig läßt sich verhindern, daß Gifte zu kriminellen oder terroristischen Zwecken mißbraucht werden.
Für militärische Zwecke werden jedoch Vorräte in der Größenordnung von 10.000 Tonnen Kampfstoffen benötigt. Dies entspricht etwa 100.000 Tonnen chemischer Waffen (Granaten, Bomben oder dgl.).
Es ist ausgeschlossen, daß sich Vorräte auch weit unterhalb dieser Mengen (in speziellen Lagern) vor den nationalen und internationalen Instrumenten der Verifikation verbergen lassen.
Veränderte Situation nach den Binaries
Die Entwicklung binärer C-Waffen wird in den USA seit 1954 betrieben.11 Präsident Reagan forderte seit 1982 die Produktion dieser Waffen, konnte sich aber nur schrittweise gegen den Kongreß durchsetzen, der die Mittelfreigabe immer wieder verzögerte. Senator Mike O. Hatfield, Vorsitzender des Bewilligungsausschusses, richtete ebenfalls schon 1982 einen dringenden Appell an die Europäer, die für Europa bestimmten neuen Giftwaffen nicht zu akzeptieren. Am 19. Dezember 1985 genehmigte der Kongreß schließlich die Produktion von geplanten 1,2 Millionen Haubitzengranaten vom Kaliber 155 mm mit jeweils 4,4 kg des binären Nervenkampfstoffes Sarin, band die Genehmigung jedoch an folgende Auflagen an den Präsidenten: Dieser mußte dafür sorgen, daß die NATO den neuen C-Waffen als Streitkräfteziel zustimmt und Stationierungspläne sowie Einsatzrichtlinien für diese Waffen erläßt.
Die Zustimmung zu dem neuen Streitkräfteziel kam am 22. Mai 1986 zustande, allerdings nicht auf der vom Kongreß vorgeschriebenen hohen Ebene der Außenminister, sondern nur der des Nordatlantikrates, und sie wurde ohne Vorbehalte auch nur von der Bundesrepublik, England und der Türkei gegeben.10 US-Senatoren erhoben daraufhin Einspruch bei dem Generalsekretär der NATO, Lord Carrington, wegen des niedrigen Ranges der Entscheidung und der fragwürdigen Konsensbildung. Am 18.10.1987 hat der Präsident in Erfüllung einer letzten Kongreßauflage formell versichert, daß die Produktion der (binären) „C-Waffen im Interesse der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten und der Interessen der anderen NATO-Mitglieder notwendig“ sei. C-Waffen sind zwar ohne jede Bedeutung für die amerikanische Landesverteidigung; mit der Erklärung des Präsidenten war aber die letzte Hürde, die der Kongreß vor die neuen Giftwaffen gesetzt hatte, im Prinzip, wenn auch nicht in guter Form, genommen. Bereits 1987 durften Bestandteile der Binärgranaten gefertigt werden, nur der Zusammenbau war bis zum 1. Dezember 1987 verwehrt. Zur Stunde dieses Schreibens ist es noch ungewiß, ob der US-Kongreß die Produktion jetzt zuläßt. Ebenfalls unklar ist der Stand des Genehmigungsverfahrens bei der zweiten Binärwaffe, der Gleitbombe „Bigeye“. Geplant sind 44.000 dieser Bomben mit jeweils 226 kg binärem VX, das während des Fluges versprüht werden soll. Die Entscheidung über diese Waffe war wegen gravierender Funktionsmngel 1985 zurückgestellt worden.
Die Veränderung der Kontrollsituation bei C-Waffen durch das mögliche Auftreten von Binärwaffen ist in Kasten 4 dargestellt. Das Prinzip der Binärwaffen beruht bekanntlich darauf, daß 2 oder mehr Chemikalien (sogenannte Prekursor) erst nach dem Abschuß der Waffe in einer schnellen chemischen Reaktion den Kampfstoff bilden. Beispielsweise entsteht binäres Sarin gemäß
Methylphosphonsäure-difluorid | + Isopropanol | Sarin | + Flußsäure |
„Schlüssel“perkursor | 2. Perkursor | Nervenkampfstoff | Beiprodukt (Ballast) |
flüssig | flüssig | flüssig | Gas |
Die US-Army hatte eine Zeitlang nach „kleinen Fabriken mit spezieller Erfahrung“ gesucht, für die die Produktion der Schlüsselkomponenten eine „goldene Gelegenheit“12 sein könnten Bei einem C-Verbot wäre es schwierig, solche Fabriken ausfindig zu machen. Isopropanol ist eine allgemein verfügbare Chemikalie, die nicht speziell hergestellt werden muß und die auch nicht reglementiert werden kann. Anstelle von Sarin kann der Nervenkampfstoff Soman binär hergestellt werden, wenn Pinakolyl-Alkohol als zweitem Prekursor eingesetzt wird. Auch Gifte, die sich z.B. wegen begrenzter Lagerbeständigkeit nicht als Kampfstoff eignen, sind u.U. binär zugänglich: Als Beispiel ließe sich Phenyl-Sarin anführen, das mit Phenol als 2. Prekursor entsteht.
Die Binärreaktion wird dadurch ausgelöst daß Behälter mit den beiden Komponenten beim Abschuß der Granate platzen und die Geschoßdrehung eine intensive Durchmischung der Flüssigkeiten bewirkt. Der Alkoholkanister darf grundsätzlich erst unmittelbar vor dem Abschoß in die Granate eingesetzt werden. Der US-Kongreß hat sogar vorgeschrieben, daß Granate und zweiter Kanister in verschiedenen US-Bundesstaaten aufbewahrt werden müssen, solange sich die Waffen in den USA befinden. Dies alles unterstreicht den Bausteincharakter der Binärwaffen. Wenn die kennzeichnende Beschriftung weggelassen wird, ist die chemische Granate nicht von anderen Granaten des in der NATO verbreiteten Kalibers 155 mm zu unterscheiden. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Binärwaffen nicht unbedingt in speziellen Lagern untergebracht werden müssen.
Die oben formulierte „Sarin-Gleichung“ zeigt nur einen der Wege, auf denen binär ein Kampfstoff entstehen kann, und die Reaktion ist stark vereinfacht geschrieben. Tatsächlich enthält der Kanister mit dem phosphororganischen Prekursor noch 2 % N,N-diisopropylcarbodiimid und der andere Kanister ein Gemisch aus 72 % Isopropanol und 28 % Isopropylamin (als Reaktionsbeschleuniger).13 Während des Flugs der Granate soll die Ausbeute an Sarin 80 % betragen. Wegen der Anwesenheit von Zusatzstoffen und der Bildung von Flußsäure entspricht dies aber nur etwa 60 % Sarin bezogen auf die mitgeführten Chemikalien.
Veränderte Situation nach den Binaries | ||
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Gegenwärtige (unitäre) C-Waffen | binäre C-Waffen | |
Produktion | Spezialfabriken umgeben von Sicherheitszonen | in gewöhnlichen Fabriken möglich |
vh | I | |
Transport | gefährlich, spezielleSicherheitsvorkehrungen | kein besonderes Risiko, Perkursoren werden getrennt transportiert und gelagert.Logistische probleme? |
h | I | |
Lagerung | spezielle Lager, erkennbar an Sicherheitsmaßnahmen ähnlich A-Lager | spezielle Lager nicht unbedingt erforderlich |
vh | I | |
Handhabung | Gefährlichb auch für den Agressor | keine besonderen Risiken |
Wahrscheinlichkeit der Entdeckung: vh = sehr hoch, h = hoch, l = gering |
Die erwähnten Eigenschaften machen gemäß Kasten 4 die Kontrolle von Binärwaffen sehr viel schwieriger als die der Unitaren C-Waffen. C-Abrüstung muß daher beschlossen werden, bevor Binärwaffen, zumindest in nennenswerten Mengen, in die Welt gesetzt sind.
Der Vertrag über die Abrüstung der Mittelstreckenraketen hat gerade deutlich gemacht, bis in welche Tiefen bisheriger Militärgeheimnisse Kontrolle vordringen muß. Es kann durchaus nützlich sein, daß sich die Kontrahenten so intensiv beobachten müssen. Je realistischer die Basis der gegenseitigen Einschätzung wird, desto weniger können aufgeblasene Feindbilder die Realität ersetzen; Kontrolle kann ausgebrochen vertrauensbildend wirken. Überzogene Kontrolle wird aber Mißtrauen fördern. Die gerade noch günstigen Verifikationspfade sind schmal und kostbar, Kontrollvereinbarungen sollten so abgestimmt werden, daß sie effizient sind und Vertrauen eher schaffen als verbrauchen. Für die C-Konvention bedeutet dies: Sie muß auf der Basis der bisherigen, Unitaren C-Waffen abgeschlossen werden, man darf nicht warten, bis diese Basis durch die aufkommenden Binärwaffen zerrüttet wird. Nach 19 Verhandlungsjahren über die Abschaffung der alten C-Waffen haben sich die Staaten damit vertraut gemacht, was an Kontrolle auf sie zukommt. Die Vernichtung dieser Waffen wird als gemeinsamer Erfolg empfunden werden und kann die alleinige Basis schaffen, von der aus sich mögliche künftige Verstöße, unitär oder binär, im Keine ersticken lassen und auch das durch Proliferation zustande gekommene Giftgas wieder aus der Welt geschafft werden kann.
Abkürzungen
Kampfstoffe:
GB = SARIN = Methylfluorphosphonsäureisopropylester;
GD = Soman = Methylfluorphosphonsäurepinakolinester,
VX = Ethyl-S-diisopropylaminethylmethylphosphonsäureethiolat,
S-Lost = HD = Yperit = Senfgas = 2-dichlordiethylsulfid,
Lewisit = 2-Chlor = Vinylarsindichlorid.
LCT50 = „Habersches Tödlichkeitsprodukt“: Giftmenge, die beim Binatmen bei 50% der Betroffenen zum Tode führt in mg x min x m-3.
Anmerkungen
1 Chemical Stockpile Disposal Program. Draft Programmatic Fnvironmental Impact Statement (DPEIS). Office of the secretary of Defense. wa shington D.C. 20301. Juli 1986 Zurück
2 Perry Robinson J. P. in SIPRI Yearbook 1986, Oxford University Press, s. 168 wie Zitat Zurück
4 Arms Control Today September 1986 Zurück
5 Däubler, W., Stationierung und Grundgesetz, rororo aktuell 1982 Zurück
6 WHO, Health Aspects of Chemical and Biological Weapons. Genf 1970 Zurück
7 Field Manual 100-5, Headquarter, Department of the Army, Washington D.C., 20. August 1982, 7-12 Zurück
8 Bundesminister für Verteidigung, Weißbuch 1983 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland Bonn 1983, Abschnitt 288 Zurück
9 Hoffmann, H. in Dosch, W., Herrlich, R. (Hrsg.) Ächtung der Giftwaffen, Fischer 1985, 57-72 Zurück
10 wie 9 (Einleitung) 29-31 Zurück
11 Weltföderation der Wissenschaftler: Chemische Waffen und die Folgen ihrer Anwendung. Studie des Abrüstungsausschusses 1986, S. 41 Zurück
12 Ember, L. R., Chemistry and Engeneering News, Washington D.C., August 1982, 32-34 Zurück
13 Stöhr, R. Mitteilungsblatt Chemische Gesellschaft DDR, April 1987, S. 80 Zurück
Dr. Werner Dosch ist Professor am Institut für Geowissenschaften der Universität Mainz.