W&F 2016/3

Abschreckung
oder Offensive?

von Jürgen Nieth

Kommentierte Presseschau zum Warschauer NATO-Gipfel

„Vor knapp 20 Jahren wollten Russland und die Nato den Kalten Krieg endgültig hinter sich lassen. Feierlich unterzeichneten beide Seiten im Mai 1997 in Paris die Nato-Russland-Grundakte. »Die Nato und Russland betrachten einander nicht als Gegner«, hielten sie darin fest […] Von diesem Geist ist heute nichts mehr zu spüren […] die Gräben zwischen Russland und der Nato so tief wie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr“, schreibt Johanna Metz im Parlament (11.7.16, S. 1). Und mit den Beschlüssen des Warschauer NATO-Gipfels vom 8./9. Juli 2016 scheinen sich diese Gräben weiter zu vertiefen.

NATO-Truppen an russischer Grenze

„Als wichtigster Beschluss wurde die Entsendung von vier Nato-Bataillonen nach Polen und in die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gepriesen. 4.000 Soldaten sind faktisch nicht viel […], dennoch jubelte sogar die linksliberale polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza in ihrer Gipfelbilanz: »Zum ersten Mal seit Jahren hat sich das Bündnis wieder ernsthaft einer Politik der Abschreckung verpflichtet.«“ (Ulrich Krökel in Badische Zeitung, 11.7.16, S. 5)

Und Paul Flückiger schreibt: „Es ist diese Art von Sicherheitsgarantie […], von der alle ehemals sowjetisch dominierten Länder Osteuropas seit Jahren träumen. Abschreckung ist für sie wichtiger als Dialog.“ (NZZ, 12.07.16, S. 5)

„Aus Sicht Russlands ist die geplante Stationierung der Nato-Soldaten allerdings ein Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte. Darin betont das Bündnis, es wolle zu seiner Verteidigung nicht dadurch beitragen, dass es »zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft stationiert«. Die Nato argumentiert dagegen, es sei keine dauerhafte, sondern eine rotierende Stationierung von Truppen in Osteuropa beabsichtigt, und es handele sich nicht um ein substanzielles Truppenkontingent.“ (Paul Flückiger/Claudia von Salzen in Tagespiegel, 9.7.16, S. 4)

Die vier Bataillone sind allerdings nur ein Teil der weiteren NATO-Truppenverlegung Richtung Osten. „Polen wird von 2017 an auch Hauptstützpunkt einer 4.000 Mann starken, durch Ost- und Südosteuropa rotierenden US-Brigade sein. Dazu kommen US-Piloten auf dem Flughafen Lask oder als Marines auf der im Bau befindlichen Radar- und Raketenbasis Redzikowo an der Ostsee. Weitere US-Basen sollen in Polen schweres Militärgerät beherbergen.“ (Florian Hassel in SZ, 11.7.16, S. 6) Der polnische Außenminister Waszcykowski landet in seiner Rechnung sogar „stolz bei »mehr als 10.000 Nato-Soldaten«, die künftig auf polnischem Boden stationiert seien“ (Johannes Leithäuser/Michael Stabenow in FAZ, 9.7.16, S. 4).

Hinzu kommt, dass die NATO auch im Südosten „ihre multinationale »Voraus-Präsens« […] »maßgeschneidert« entwickeln“ will. „Dies gilt für die rumänische Initiative für eine multinationale Brigade, nicht zuletzt unter bulgarischer Beteiligung. Außerdem sollen für die Region, zu der die Nato auch das Schwarze Meer zählt, Optionen für eine verstärkte Präsenz in der Luft und zur See geprüft werden.“ (Michael Stabenow in FAZ, 11.7.16, S. 5)

In dieses Bild passt, dass am NATO-Gipfel nicht nur 28 Staats- und Regierungschefs der Bündnisstaaten teilnahmen, sondern auch Vertreter des Balkanstaates Montenegro, „der 2017 Nato-Mitglied werden soll. Außerdem gab es intensive Gespräche mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine.“ (Ulrich Krökel in Badische Zeitung, 11.7.16, S. 5)

Hubert Thielicke stellt im ND (13.7.16, S. 3) dazu fest: „Die Warschauer Nato-Beschlüsse lassen erkennen, dass sich jene Kräfte durchsetzten, welche die Ukrainekrise zum Vorwand nehmen, um die Militärorganisation kräftig auszubauen und ihr Potenzial bis an die Grenzen Russlands vorzuschieben.“ Für ihn handelt es sich um „das größte Aufrüstungsprogramm der Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges“.

Säbelrasseln

Und es mehren sich die Stimmen, die immer noch mehr wollen. „Derzeit geben die Scharfmacher den Ton an. Russland sei eine »existenzielle Bedrohung«, tönte vor wenigen Wochen der Nato-Oberbefehlshaber Philip Breedlove […]. Russland sei für Europa eine größere Gefahr als der IS, trommelte kürzlich auch Polens Außenminister Witold Waszcykowski. Und Anfang Juni forderte der dänische Nato-Offizier Jakob Larsen gar öffentlich: »Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen. « Larsen kommandiert den neuen Nato-Vorposten in Litauen und weiß offenbar nicht, dass in Deutschland ein Aufruf zum totalen Krieg zuletzt 1943 in der Sportpalast-Rede von Propagandaminister Joseph Göbbels zu vernehmen war.“ (Klaus Wiegräfe in DER SPIEGEL, 9.7.16, S. 36)

Auch Deutschland mischt da mit. Zwar hat der deutsche Außenminister, Frank Walter Steinmeier, vor dem NATO-Gipfel Dialog angemahnt und vor einem Säbbelrasseln gewarnt, die konkrete Regierungspolitik sendet allerdings andere Signale. Von einem „neuen sicherheitspolitischen Selbstverständnis“ spricht Johannes Leithäuser in der FAZ (8.7.16, S. 2). „In der Regierungserklärung, die Merkel vor ihrem Aufbruch nach Warschau im Bundestag abgab, machte sie den Wandel deutlich: Deutschland unterstütze »nachdrücklich« das Ziel der Nato, dass alle Mitglieder der Allianz zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben zur Verfügung stellen“, das wäre für Deutschland „ein Volumen von mehr als 50 Milliarden Euro […] und mithin mit weitem Abstand der größte europäische Wehretat“.

Wie aus einer Grafik der FAZ (9.7.16, S. 4) hervorgeht, waren die Rüstungsausgaben der NATO 2015 aber bereits 13 Mal größer als die Russlands: 861Mrd. Dollar zu 66 Mrd. Dollar.

Reaktionen

DIE WELT (11.7.16, S. 1) zitiert Stimmen zum NATO-Gipfel und kommt zu dem Schluss: „Die schärfste Reaktion kam von Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow: »Die Nato hat angefangen, sich auf den Übergang vom Kalten Krieg zu einem heißen Krieg vorzubereiten. Sie reden nur über Verteidigung und bereiten sich faktisch auf die Offensive vor«.“

Zitierte Zeitschriften:

Badische Zeitung, FAZ – Frankfurter Allgemeine, ND – neues deutschland, NZZ – Neue Zürcher Zeitung, Das Parlament, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung, Der Tagespiegel, DIE WELT

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/3 Politischer Islam, Seite 4