Achsenpolitik
Regionalisierung des Krieges und Konfliktakteure im Libanon und in Westasien
von Hanna Pfeifer
Ende September tötete Israel in einem massiven Schlag gegen einen Wohnblock in einem südlichen Vorort Beiruts, der Dahiyeh, Sayyed Hassan Nasrallah. Über 30 Jahre war er der Generalsekretär der libanesischen Hezbollah gewesen und hatte ein Leben im Untergrund geführt. Er war das wohl bekannteste Gesicht der selbsternannten »Achse des Widerstandes«. Diese spielt im laufenden israelischen Krieg in Gaza und dessen regionaler Eskalation eine entscheidende Rolle, hat aber eine schwierige Aufgabe zu lösen: Glaubhaft an der Seite ihres Verbündeten Hamas zu stehen, ohne dabei den Konflikt regional zu eskalieren. Dieser Versuch muss nun als misslungen gelten.
In Reaktion auf die Anschläge von Hamas sowie weiteren militanten palästinensischen Gruppen aus dem Gazastreifen vom 7. Oktober 2023 gegen Militärs und Zivilist:innen auf israelischem Boden begann die israelische Regierung ab dem 9. Oktober 2023 einen Krieg ungekannten Gewaltausmaßes im Gazastreifen, dem bis heute eine ungewöhnlich hohe Zahl von Zivilist:innen zum Opfer fällt (vgl. Pfeifer, Weipert-Fenner und Williams 2024). Der laufende Gewaltkonflikt hatte jedoch von Beginn an eine regionale Dimension. Zwischen dem israelischen Militär und der libanesischen Hezbollah etwa. So wurde durch UNIFIL zwischen Oktober 2023 und Februar 2024 der Abschuss von 8.918 Geschossen durch Artillerie und Mörser über die »blaue Grenze« registriert, davon zwischen 80 und 90 % von Israel aus in den Libanon (UNSC 2024). Darüber hinaus flog Israel von Beginn des Konfliktes bis August 2024 rund 7.400 Luftangriffe über libanesischem Staatsgebiet; Hezbollah hatte Israel mit 1.200 Drohnen und Luftschlägen attackiert.1
Israelische Eskalation mit der »Achse des Widerstandes«
Im September 2024 erreichte die Eskalation der Gewalt zwischen Israel und diversen regionalen Akteuren, die sich selbst als Mitglieder der »Achse des Widerstandes« bezeichnen, einen vorläufigen Höhepunkt.2 Die Entwicklungen der vorhergehenden Wochen können nur als dramatisch bezeichnet werden. Bereits im Juli hatte der Konflikt eine neues Eskalationsstufe erreicht: In der libanesischen Hauptstadt Beirut tötete die israelische Luftwaffe gezielt Fuad Shukr, Kommandeur, Waffenexperte und Gründungsmitglied des bewaffneten Armes von Hezbollah sowie enger Vertrauter ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah. Nur wenige Stunden nach der Tötung Shukrs gelang Israel durch die Detonation einer versteckten Explosionsladung die Tötung des politischen Führers von Hamas, Ismail Haniyeh, in einem durch die islamischen Revolutionsgarden streng bewachten Gästehaus in Teheran (Bergman, Mazzetti und Fassihi 2024). Haniyeh war Chefunterhändler von Hamas in den laufenden, von Katar vermittelten Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Gaza gewesen.
Hezbollah hatte mit einer ersten Runde von Gegenschlägen reagiert, Nordisrael unter Raketen- und Drohnenbeschuss gestellt und dabei einen israelischen Offizier getötet; eine zweite Runde wurde angekündigt. Iranische Gegenschläge waren bis dahin ausgeblieben. Noch bevor heftigere Reaktionen beider Akteure erfolgen konnten, unternahm Israel zwei weitere Eskalationsschritte im Libanon. In einer lang geplanten Aktion des Mossad explodierten an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Pagern und Walkie-Talkies versteckte Sprengladungen. Die Kommunikationsmittel wurden von Kämpfern und zivilen Angehörigen von Hezbollah genutzt. Die Anschläge töteten über 30 Menschen, darunter mehrere Kinder, und verletzten über 3.000 Menschen.
Es folgten massive israelische Luftschläge im späten September 2024, die zu den tödlichsten in Jahrzehnten gehören. In ihnen kamen an einem Tag bis zu 600 Menschen ums Leben. Sie zwangen eine Million Menschen im Libanon zur Flucht. 100.000 Menschen flohen über die Grenze in das seit über einem Jahrzehnt vom Bürgerkrieg gebeutelte Syrien. Am letzten Septemberwochenende schließlich wurde der Tod des Hezbollah-Generalsekretärs Nasrallah sowie einer weiteren Person aus dem Hezbollah-Führungskreis, Ali Karaki, und des Hamas-Führers im Libanon, Fatah Sherif al-Amin, bekannt gegeben. Zudem begann Israel mit Bombardierungen des Hafens von Hodeidah im Jemen, erklärtermaßen in Reaktion auf Raketenbeschuss durch die Houthis.
Ursprünge der »Achse des Widerstandes«
Israel setzt auf die Eskalation eines regionalen Krieges gegen eine Reihe von Akteuren. Neben der Hamas gehören die libanesische Hezbollah, die jemenitischen Houthis, irakische und syrische Milizen sowie Iran und Syrien zur sogenannten »Achse des Widerstandes«, der für den laufenden Gewaltkonflikt und seine regionale Dimension eine entscheidende Bedeutung zukommt.
Die Achse findet ihren Ursprung im von George W. Bush ausgerufenen »Global War on Terror«. In einer Rede an die Nation nach den Anschlägen des 11. September behauptete er die Existenz einer »Achse des Bösen«, die eine unwahrscheinliche Konstellation von Staaten (zunächst den Irak, Iran und Nordkorea später noch Kuba, Libyen und Syrien) zusammenbrachte. Iran hatte 2001 noch Unterstützung für die US-geführten Militärschläge gegen die Taliban in Afghanistan zur Verfügung gestellt. Angesichts von US-Phantasien über Achsenmächte, Terrorismusunterstützung und Massenvernichtungswaffen sowie des 2003 beginnenden Krieges gegen den Irak befürchtete Iran nun jedoch, dass es zum nächsten Ziel im »Global War on Terror« werden könnte. Es begann, seine regionalen Allianzen mit Syrien und nicht-staatlichen Gruppierungen im Libanon, dem Irak und in Palästina zu stärken, darunter Hezbollah und Hamas. Regionale Medien schufen in Anspielung auf die »Achse des Bösen« die Bezeichnung der »Achse des Widerstandes« (Matthiesen 2024).
Von Beginn an war die Achse als loses, flexibles Netzwerk angelegt, bei dem alle Teile auch eine jeweils eigene Agenda verfolgen, jedoch ihre Deutung von Bedrohungslagen und entsprechend regionale Ziele teilen. Im Kern handelt es sich um ein selbsterklärt antihegemoniales Projekt, das sich gegen postkoloniale Machtambitionen in der Region richtet und insbesondere US-Pläne für einen »Neo Middle East« zu verhindern sucht. Israel wird aufgrund der illegalen Besatzung palästinensischer Gebiete sowie Teilen des Libanons und Syriens als zentrales Feindbild konstruiert. Dabei reichen die Kampfansagen der politischen Führungen der Achsenmitglieder von Ankündigungen einer Vernichtung, insbesondere durch den iranischen Präsident Ahmadinejad von 2005 bis 2013 (Roomi 2023), bis zu Vorschlägen einer Ein- oder Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina (Pfeifer 2024, S. 148f.).
Die Achse sieht die Staatsgründung Israels in einer Linie mit dem westlichen Kolonialismus in der Region, der sich zunächst in einen Imperialismus verwandelte und gegen den sich der »Widerstand« richtet. Zum Höhepunkt amerikanischer Macht nach dem Kalten Krieg standen indirekte Formen der Einflussnahme und Hegemoniebestrebungen mit und durch Israel sowie willfährige arabische Staatsführer neben direkten Interventionen. Der Afghanistan- und Irakkrieg stellten demnach Versuche einer regionalen Neuordnung dar, die vom amerikanischen »proxy« Israel durch den Juli-Krieg im Libanon und den Gazakrieg 2008-9 unterstützt worden seien. Ziel sei es, so etwa Nasrallahs Deutung, die arabische Bevölkerung US-Interessen unterwürfig zu machen, sie in „singers and dancers“ (Hezbollah 2011) zu verwandeln, wohlgesonnene Regime einzusetzen und unliebsame zu stürzen sowie die »Achse des Widerstandes« zu brechen und das Anliegen der Palästinenser:innen ein für alle Mal zugunsten von Israel zu begraben (Pfeifer 2024, S. 226-234).
Krisenjahre der »Achse« ab 2011
In der Deutung der Achse veränderte der Sturz mehrerer Langzeitdiktatoren im Zuge der Arabischen Aufstände aber die westlichen Kalküle: Die Wünsche der arabischen Bevölkerung nach Selbstbestimmung wären dem Westen ein Dorn im Auge. Hezbollah dagegen gerierte sich als Unterstützerin der Massenproteste in Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrein und dem Jemen (Pfeifer 2024, S. 180-187).
Ein Problem für die Rechtfertigungslogik von Hezbollah stellten jedoch die Aufstände der Syrer:innen gegen das Assad-Regime dar. Letzteres galt als Kernmitglied der »Achse des Widerstandes« – bekämpfte nun aber die eigene, protestierende Bevölkerung. Ab 2013 intervenierte Hezbollah offiziell aufseiten des Regimes; auch Iran unterstützte den syrischen Machthaber militärisch (Pfeifer 2024, S. 120-129). Dies führte nicht nur zu Widersprüchen in der Achsen-Agenda, sondern auch zu einem temporären Bruch mit der palästinensischen Hamas, dem einzigen sunnitischen Mitglied der Achse.
Deren Mitgliedschaft in der selbsternannten Widerstandsgruppe hatte bis dahin eine besondere Bedeutung für die Rechtfertigung des Projektes gespielt: Es handelte sich nicht etwa um ein Bündnis, das schiitische Ordnungs- und Machtpolitik in der Region betreiben wollte, sondern vielmehr um eine Allianz mit dem Ziel der Befreiung palästinensischer, libanesischer und syrischer Gebiete von israelischer Besatzung.
Die brutale Bekämpfung der vornehmlich sunnitischen, aufständischen syrischen Bevölkerung durch das Assad-Regime und seine Achsenverbündeten ließ die Selbstlegitimation der Achse als Widerstandsprojekt zunehmend unplausibel erscheinen und die Unterstützung durch die regionale Bevölkerung schwinden. Erst der Aufstieg des sogenannten »Islamischen Staates« und die Kampfhandlungen einer saudisch geführten Allianz im Jemen verhalfen der Achse zu neuen Begründungen für ihre Beteiligung an diversen Kriegen in der Region (Pfeifer 2024, S. 187-197).
Dennoch hatte sich die sunnitische Hamas in diesen Jahren anderen Gruppen angenähert, nämlich solchen, die ihrem eigenen ideologischen Ursprung nahestanden: Ablegern der Muslimbruderschaft in Ägypten und Tunesien sowie in der syrischen Opposition. Doch schon 2013 erlebte dieses alternative Unterstützungsnetzwerk einen Bruch, als der Muslimbruder und gewählte ägyptische Präsident Mohammed Mursi durch einen Militärcoup gestürzt wurde. Der Gazakrieg 2014 und das Scheitern der syrischen Revolution trieben eine Wiederannäherung von Hamas an die Achse voran. Denn Iran war inzwischen die einzige Regionalmacht, die Hamas mit Waffen versorgen konnte. Auch mit dem syrischen Regime erfolgte schließlich eine Aussöhnung und Hamas gesellte sich zurück in die Reihe der festen Achsenmitglieder (siehe auch Karahamad und Schwab in dieser Ausgabe, S. 22).
Neue Mitglieder, geteilte und eigene Agenda
Auch wenn Hezbollah eine derartige Deutung stets ablehnte, so drängte sich in Bezug auf die Achsenpolitik der Eindruck auf, sie befördere vor allem schiitische »Widerstandsprojekte«. In Syrien und im Irak kämpften Hezbollah und Iran an der Seite des Assad-Regimes und schiitischer Milizen, die von ihnen ausgebildet und ausgestattet worden waren. Auch die Houthis im Jemen durchliefen ab 2015 ein Trainingsprogramm und erhielten allerlei Formen indirekter, militärischer Unterstützung (Bajoghli und Nasr 2024).
Die Achse weitete sich über die 2010er Jahre also aus, gewann neue Mitglieder und realisierte zunehmend das, was Nasrallah als die „goldene Gleichung“ oder „Armee-Volk-Widerstands-Formel“ bezeichnete (Pfeifer 2024, S. 146f.). Widerstandsprojekte würden demnach nur dann erfolgreich sein, wenn der bewaffnete Widerstand, also Milizen nach dem Vorbild von Hezbollah, die offiziellen Streitkräfte eines Staates und der breite Volkswiderstand Seite an Seite gegen den Feind kämpften. Als Modellfall dafür hatte er den Libanon im Kampf gegen Israel vor Augen.
In der Tat gibt dies einigen Aufschluss über die Funktionsweise der Achse, die keineswegs als einfaches proxy-Netzwerk Irans gedeutet werden sollte. Zwar ist Iran vor allem im Hinblick auf Waffen der wichtigste Unterstützer der anderen Achsenmitglieder. Aber diese sind mittlerweile nicht nur in der Lage zu eigener Rüstungsproduktion. Sie verfolgen neben der geteilten regionalen Vision auch jeweils eigene, mehr oder weniger lokale Ziele und Agenden (Bajoghli and Nasr 2024).
Hezbollah etwa hat dem Ziel der Umsetzung islamischer Staatlichkeit nach dem iranischen Modell entsagt, weil sie im multikonfessionellen Libanon dafür nicht die richtigen Voraussetzungen als gegeben sieht und der Überzeugung ist, dass politische Systeme kontextspezifisch passend für die Bevölkerung gestaltet werden müssen (Pfeifer 2024, S. 180-187). Auch bekennen sich Achsenmitglieder wie die Houthis und die Assad-Familie zu anderen Versionen des schiitischen Islams als Hezbollah und Iran; Hamas ist eine sunnitische islamistische Bewegung.
Schließlich liegen die militär-strategischen Prioritäten der Achsenmitglieder jeweils unterschiedlich: Hezbollah agiert primär gegen die israelische Präsenz im Südlibanon und unterstellte Expansionsbestrebungen in der Region; schiitische Milizen im Irak richten sich vor allem gegen die verbleibende amerikanische Präsenz und die sunnitischen Kräfte im Land, während die Houthis Kontrolle über den gesamten Jemen erlangen und die Einmischung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) beenden möchten (Bajoghli and Nasr 2024).
Neue strategische Tiefe – ab 2018
Grundsätzlich ist deswegen durchaus vorstellbar, dass die divergierenden Prioritäten der Achsenkräfte miteinander in Spannung geraten können. Über die Jahre unter US-Präsident Donald Trump gewann die Achse jedoch tiefere strategische Bedeutung durch einige Schlüsselereignisse:
- So zeigte die US-Administration sich zunehmend feindlich gegenüber Iran, kündigte 2018 das Atomabkommen auf und befahl 2020 die gezielte Tötung von Qassem Soleimani, dem Architekten der Achse (Bajoghli and Nasr 2024).
- Im selben Jahr verhandelte Trump ohne Beteiligung der Palästinenser:innen mit Benjamin Netanjahu einen als „Jahrhundertdeal“ angekündigten Friedensplan, der nicht nur weitgehende Einschränkungen in der Souveränität eines zu etablierenden palästinensischen Staates, sondern auch einen Freibrief für die völkerrechtswidrige Annexion besetzter palästinensischer Gebiete durch Israel beinhaltete (Baumgart-Ochse 2020).
- Ebenfalls 2020 wurden unter Führung Trumps schließlich die »Abraham Accords« geschlossen. In diesen Abkommen ist eine Normalisierung der Beziehungen Israels mit Bahrain und den VAE, aber auch mit Marokko und dem Sudan vorgesehen – ohne dass die Anerkennung Israels länger an eine Zweistaatenlösung gekoppelt gewesen wäre (Valbjørn, Bank und Darwich 2024, S. 6f.).
Diese Annäherungen zwischen Israel und weiteren arabischen Staaten, die wachsende Feindlichkeit der USA gegenüber Iran und die Rückkehr von Hamas in die Mitte der Achsenmächte, während gleichzeitig die Interessen der Palästinenser:innen systematisch durch Trumps Deals unterminiert wurden, ließen den strategischen Wert der »Achse des Widerstands« wieder steigen.
Jedoch brachte das Jahr 2023 zwei Veränderungen für die Palästinafrage und die Rolle der Achse. Zum einen bahnte sich im Fahrwasser der »Abraham Accords« eine aussichtsreiche Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel an. Nur wenige Wochen vor den Angriffen des 7. Oktobers hieß es aus dem saudischen Königshaus, dass man einer Einigung täglich näherkäme (Gause III 2023). Eine Normalisierung der saudisch-israelischen Beziehungen hätte weitere Verhandlungsnachteile für die Palästinenser:innen mit sich gebracht: Einer der mächtigsten Staaten der Region hätte Israel anerkannt, ohne dass klar gewesen wäre, wie dabei palästinensische Interessen berücksichtigt worden wären. Dieser Prozess wurde durch die Anschläge von Hamas und anderen militanten Gruppen zumindest zeitweise suspendiert.
Zum anderen war auch grundsätzlicher eine regionale Phase der Entspannung angebrochen, die insbesondere eine Deeskalation sektaristischer Konflikte beinhaltete. Iran und Saudi-Arabien begannen einen von China vermittelten Annäherungsprozess; Syrien wurde nach 12 Jahren der Suspendierung wieder in die Arabische Liga aufgenommen (Valbjørn, Bank und Darwich 2024, S. 8; vgl. auch Karahamad und Schwab in dieser Ausgabe, S. 22). All dies geschah jedoch, ohne dass die Palästinafrage für die verhandelnden Staatsmänner zu einem vordringlichen Thema gemacht worden wäre. Es ergibt sich ein Gesamtbild einer zunehmend auf Annäherung und Entspannung setzenden Regionalpolitik, in der die Lösung der Palästinafrage von niemandem mehr zur Bedingung von Zugeständnissen gemacht wird.
Die Gratwanderung der »Achse«
In diesem Sinne kann der von Hamas koordinierte Überfall auf Israel als Versuch gewertet werden, Palästina mit Gewalt zurück auf die regionale und globale Politikagenda zu setzen – und zwar als in vielen Hinsichten »gelungener« Versuch (Valbjørn, Bank und Darwich 2024). War bis vor kurzem umstritten, ob und wie viel Iran und Hezbollah von den Anschlagsplänen wussten, so bringen interne Dokumente der Hamas nun Klarheit: Die Achsenmitglieder setzten auf eine Art Hinhaltetaktik bei grundsätzlicher Zusicherung von Unterstützung für die Hamas, die nicht mehr länger mit ihren Anschlägen warten wollte (Bergman, Rasgon und Kingsley 2024). Zu dieser Erkenntnis passt die Beobachtung des Verhaltens von Hezbollah und Iran über die letzten Monate, die zeigen, dass die zentralen Achsenmächte kein Interesse an einer weiteren Eskalation der Gewalt haben.
Trotz der begrenzten militärischen Reaktionen sind die Unterstützungswerte der Achsenmitglieder, die über die 2010er Jahre stark abgesunken waren, seit Beginn des Gazakrieges deutlich gestiegen (Robbins et al. 2023). Sie gelten als die einzigen, die Israel in der Auseinandersetzung tatsächlich etwas entgegenhalten. Auch in anderer Hinsicht wurde die Achse gestärkt, konnte sie doch ein hohes Level an Koordination und militärischer Effektivität unter Beweis stellen. Ein Beispiel sind die konzertierten Aktionen in Reaktion auf die Tötung hochrangiger Hamas-Führer im Januar 2024 in Beirut, nach denen Hezbollah-Chef Nasrallah die »Achse des Widerstandes« zum Handeln aufgefordert hatte: Houthis attackierten Handelsschiffe im Roten Meer, Hezbollah feuerte 62 Raketen auf eine israelische Militärbasis, im Irak und Syrien wurden US-Basen von Drohnen schiitischer Milizen aus dem Irak angegriffen und Iran kaperte einen Öltanker im Golf von Oman (Bajoghli und Nasr 2024).
Obwohl der rhetorischen Erklärung voller Solidarität mit Hamas also durchaus Taten folgten, waren die Schläge der Achsenmitglieder bisher von großer Zurückhaltung gekennzeichnet. Bis zur aktuellen israelischen Eskalationsspitze war die deutlichste, aber klar kalkulierte Reaktion Irans auf den israelischen Angriff auf seinen Botschaftskomplex in Damaskus im April 2024 erfolgt. Iran schoss 300 Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen in Richtung Israel ab. Die überwiegende Mehrheit wurde durch israelische Verteidigungssysteme oder bereits über irakischem und jordanischem Luftraum von den USA oder Jordanien abgefangen. Es kam zu geringen Schäden und einer Verletzung, aber keinen Toten. Iran hatte Israel und seinen Verbündeten ausreichend Zeit für die Vorbereitung auf den Schlag gegeben; hinter geschlossenen Türen gab es wohl auch Koordination zwischen Teheran und Washington (ICG 2024). Der iranische Gegenschlag wurde als Versuch interpretiert, Israel von einer weiteren Eskalation im Libanon und Syrien, vielleicht sogar in Iran selbst abzuschrecken (Nasr 2024). Auch Hezbollah schwenkte nach den Vergeltungsschlägen im August auf eine Rhetorik der Eindämmung ein. Selbst auf die Tötung Nasrallahs und damit den bisher schwersten Schlag Israels auf den wichtigsten Achsenpartner Irans reagierte dieses mit begrenzten Schlägen. Zwar überstiegen diese den Vergeltungsschlag aus dem Frühjahr, aber die physischen Auswirkungen beschränkten sich dank der israelischen Raketenabwehr, aber vor allem wegen des begrenzten Umfangs der Attacke, auf Sachschäden und geringfügige Verletzungen. Ein Palästinenser wurde von einem herabfallenden Raketenteil in der Westbank getötet.
Es geht noch schlimmer: Krieg mit Iran verhindern
Dass weder Abschreckung noch Eindämmung Israels gelangen, darauf deuteten bereits die gezielten Tötungen von Fuad Shukr in Beirut und von Ismail Haniyeh in Teheran hin. Unzweifelhaft als gescheitert gelten muss die Gratwanderung der Achse seit den massiven israelischen Angriffen auf Hezbollahstellungen und andere Ziele im Libanon. Israel hat mit den Tötungen mehrerer Führungspersonen sowohl der Hezbollah als auch der Hamas empfindliche Schläge versetzt, Iran durch die erfolgreichen Angriffe gegen Mitglieder der Achse strategische Nachteile und durch die gelungene Tötung Haniyehs unter dem Schutz der Revolutionsgarden einen Gesichtsverlust zugefügt. Nicht überschätzt werden kann der Tod des charismatischen und strategisch wie politisch versierten Führers Nasrallah, der bei Hezbollah auf absehbare Zeit für Orientierungslosigkeit sorgen dürfte. Zuletzt wurde nun mit Yahya Sinwar auch der Führer der Hamas und zentraler Drahtzieher des Überfalls vom 7. Oktober getötet.
Am Eskalationswillen der israelischen Regierung scheinen diese militärischen »Erfolge« jedoch nichts zu ändern. Netanjahu verfolgt wohl das Kalkül, statt als Verantwortlicher für das militärische Versagen bei den Angriffen des 7. Oktober als Held in die Geschichte einzugehen, dem das „Ausmerzen“ zweier Todfeinde Israels, Hamas und Hezbollah, gelang.
Dem liegt mindestens eine Fehleinschätzung zu Grunde: Nicht-staatliche Gewaltakteure wie Hamas und Hezbollah lassen sich nicht militärisch besiegen (Pfeifer, Geis und Clément 2022). Das Handlungsrepertoire beider reicht nämlich weit über die Anwendung unterschiedlicher Gewaltformen hinaus. Sie stellen seit Jahren Governance inklusive sozialer Leistungen zur Verfügung und organisieren ziviles Leben im von ihnen kontrollierten Territorium. Sie agieren als Partei, im Falle Hezbollahs sogar als langjähriges Mitglied in Regierungskoalitionen im Libanon. Sie verfügen über transnationale Unterstützungsnetzwerke und – nicht zuletzt durch die israelischen Kriegsverbrechen und tödliche Massengewalt gegen Zivilist:innen im Gazastreifen – inzwischen auch wieder über breiten Rückhalt in der lokalen wie regionalen Bevölkerung. So sehr die jüngsten Militärschläge und Tötungen der israelischen Führung als taktischer Erfolg gelten mögen, so wenig Wert dürften sie in strategischer Hinsicht haben.
Desaströs sind schon jetzt die Folgen vor allem für palästinensische und libanesische, aber auch israelische, syrische und jemenitische Zivilist:innen – und die Lage für sie wird zunächst weiter schlechter. Sind bereits jetzt weit über 2 % der Bevölkerung des Gazastreifens durch israelische Militärhandlungen getötet worden, so gehen konservative Hochrechnungen davon aus, dass noch mindestens viermal so viele Menschen an indirekten Kriegsfolgen sterben werden (Khatib, McKee und Yusuf 2024). Die israelische Regierung hat im Gazastreifen menschliche Lebensgrundlagen systematisch vernichtet; immer mehr Expert:innen sprechen von genozidalen Akten. Im Libanon stehen ebenfalls hohe zivile Opferzahlen zu befürchten, schon jetzt deuten einige Handlungen des israelischen Militärs – wie die Angriffe auf UNIFIL und die Sprengung eines ganzen Dorfes im Südlibanon – auf schwere Kriegsverbrechen hin. Einige Kräfte im Libanon mögen den Tod Nasrallahs darüber hinaus als Chance wahrnehmen, Hezbollah im innerlibanesischen Machtkampf entscheidende Schläge zuzufügen. Das worst case-Szenario wäre das erneute Ausbrechen eines Bürgerkrieges.
Schließlich ist die Eskalation mit Iran noch lange nicht beendet. Die israelische Regierung hat nicht zuletzt erwogen, iranische Nuklearanlagen anzugreifen, scheint davon aber vorerst durch das Markieren einer Roten Linie seitens der Biden-Administration abgekommen zu sein. Die USA haben zudem einen Stopp von Waffenlieferungen in Aussicht gestellt, sollte Israel im Gazastreifen weiterhin den Zugang zu humanitärer Hilfe blockieren. Und dennoch können diese zaghaften amerikanischen Versuche, Einfluss auf Netanjahu zu nehmen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA im Zweifelsfall an der israelischen Seite gegen Iran stehen. Dabei wäre jetzt, nach dem Tod Sinwars, ein Gelegenheitsfenster dafür gekommen, die Eskalationswut der israelischen Regierung zu stoppen, wie im Frühjahr einen begrenzten Gegenschlag gegen Iran zu erwirken und Netanjahu zu einem Waffenstillstand in Gaza zu drängen, ja ihn unter Ausschöpfung aller Mittel von Waffenembargos über Sanktionen dazu zu zwingen. Endet der Krieg in Gaza, dann wird auch die »Achse des Widerstandes« ihre direkten Aktivitäten gegen Israel und seine Verbündeten wieder einstellen. Und eine langsame Befriedung der Region würde wieder am Möglichkeitshorizont erscheinen.
Anmerkungen
1) Diese Informationen sind den Daten von ACLED entnommen (URL: acleddata.com/explorer), Stand: 30.8.2024.
2) Die im Beitrag diskutierten Ereignisse und Aktualisierungen der genannten Zahlen sind bis einschließlich 22.10.2024 ausgewertet. Auf Grund der Dynamik des Gewaltgeschehens ist damit zu rechnen, dass sich bereits kurz nach diesem Stichtag wichtige neue Entwicklungen bzw. signifikante Änderungen ergeben.
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Hanna Pfeifer ist Leiterin des Forschungsbereichs »Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg