W&F 2007/4

Afghanistan: Frieden ist möglich!

von Matin Baraki

»Wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, dann ist der ganze Fluss verschmutzt«, lautet ein afghanisches Sprichwort. Das afghanische Wasser wurde vorsätzlich auf dem Petersberg 2001 getrübt, mit schwerwiegenden Folgen.

Die Zerstörung der staatlichen Strukturen Afghanistans nahm schon 1979 ihren Anfang. Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates schrieb in seinen Memoiren, dass die US-Geheimdienste mit der Unterstützung der afghanischen Islamisten bereits sechs Monate vor der sowjetischen Intervention Ende 1979 begonnen haben. Auch der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, bestätigte, dass dieser am 3. Juli 1979 die erste Direktive über die geheime Unterstützung für die islamistische Opposition gegen die Regierung in Kabul unterzeichnet hatte.1 Danach folgte die sowjetische Intervention und damit wurde der Afghanistan-Konflikt internationalisiert. Weder ist sein Ende absehbar, noch sind die verheerenden Folgen ansatzweise bewältigt.

Petersberg

Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Noch während des Krieges gegen Afghanistan fand unter formaler UN-Ägide Ende 2001 eine internationale Konferenz statt, auf der die Grundlage für den künftigen Status des Landes gelegt wurde.2 Nicht in Afghanistan durch Afghanen, sondern auf dem Petersberg wurden die Weichen gestellt und eine Regierung auf massiven Druck der über zwanzig anwesenden US-Vertreter unter Beteiligung dreier islamistischer und einer monarchistischen Gruppe gebildet. Hamid Karsai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges enge Verbindungen zur CIA unterhalten hatte und sich im Indischen Ozean auf einem US-Kriegsschiff befand, wurde zum Interimsministerpräsidenten ernannt. Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie von einer internationalen Schutztruppe, gebildet von Soldaten aus NATO-Staaten, nach Kabul begleitet und vor Ort weiter gesichert. Wie schon in der Vergangenheit wurde eine militärische »Lösung« des Konfliktes favorisiert. Afghanistan ist seitdem zu einem regelrechten Übungsplatz von USA und NATO geworden, wo die neuesten Waffen und die Einsatzfähigkeit der Soldaten getestet werden.

Das afghanische Volk war somit vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auf der Grundlage des Petersberger Fahrplans wurden zwischen 2002 und 2005 mehrere Wahlprozeduren durchgeführt. Im Dezember 2001 war Karsai in das Amt des Ministerpräsidenten eingeführt und dann im Juni 2002 auf einer Loya Djirga (Ratsversammlung) zum Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als Abgeordnete anwesend waren.3 An der Tür zum Wahlzelt waren Abgeordnete durch Minister und Gouverneure per Unterschrift verpflichtet worden, für Karsai zu stimmen.4 Im Vorfeld dieser Wahlen hatten die USA 10 Mio. $ ausgegeben, um für ihn Stimmen zu kaufen. Anfang Januar 2004 wurde auf einer weiteren Loya Djirga eine Verfassung verabschiedet und Afghanistan als Islamische Republik proklamiert. 2004 wurden dann Präsidentschaftswahlen und 2005 Parlamentswahlen abgehalten, wobei Drohung, Gewalt, Mord und Stimmenkauf die Regel waren. Die »New York Times« nannte die Art und Weise, wie die Wahlen zustande kamen „eine plumpe amerikanische Aktion“.5 Bei all diesen Aktionen war die internationale Gemeinschaft präsent: die Vereinten Nationen mit ihrem Beauftragten für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, die Europäische Union mit ihrem Repräsentanten, dem spanischen Diplomaten Francesc Vendrell, und die USA als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad. Alle entscheidenden Beschlüsse wurden entweder im Büro Karsais oder in der US-Botschaft gefasst. Sowohl UN- wie EU-Vertreter ließen sich von den USA instrumentalisieren und nickten die getroffenen Entscheidungen nur noch ab. Damit haben sie ihre Neutralität und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es war dann nur logisch, dass die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul am 28. Juni 2004 die Entmachtung bzw. Unterordnung der Schutztruppe »International Security Assistance Force« (ISAF) unter NATO-Kommando beschloss. Das Land wurde nach einem Operationsplan des NATO-Hauptquartiers unter den Besatzern in vier etwa gleich große Sektoren aufgeteilt.6 Dadurch sind faktisch die Aufsichtsfunktion der UNO, die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans aufgehoben worden. Diese Demütigung der Afghanen ist der Nährboden, auf dem der Widerstand wächst. Solange militärische Besetzung und Fremdbestimmung andauern, wird in Afghanistan keine Ruhe, kein Wiederaufbau und keine zivile Lösung des Konfliktes möglich sein. Da USA und NATO beabsichtigen, für sehr lange Zeit im Lande zu bleiben, haben sie dafür entsprechende politische und militärische Voraussetzungen geschaffen. Noch vor den Parlamentswahlen hatte Karsai eine sog. »Nationale Konferenz« einberufen, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammen kamen. Sie bevollmächtigten ihn, mit den USA einen Vertrag zu schließen, auf dessen Grundlage die Militäreinheiten der Vereinigten Staaten auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben dürfen.

Afghanistan als Protektorat

Hat Afghanistan eine souveräne und unabhängige Regierung? Das jetzige Kabuler Kabinett besteht zu über 50% aus American Afghans, den Rest stellen Euro-Afghanen und einige willfährige Warlords. Hinzu kommen noch die US-Berater, die in allen Ämtern präsent sind und die Entscheidungskompetenz haben.

Der 11. September 2001 wurde zum Anlass des Krieges gegen Afghanistan, obwohl dieser schon lange vorher geplant war, denn bereits im Juni 2001 hatte die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan darüber informiert, wie der ehemalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte.7 Ende September 2006 brüstete sich auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton damit, einen solchen Krieg gegen Afghanistan geplant zu haben.8 Unter dem formalen Dach der UNO wurde das Land zu einem Protektorat der internationalen Gemeinschaft degradiert. Seit Beginn der 1990er Jahre werden die »Treuhandschaft«9 und das »liberale Protektorat«, das auch als »liberaler Imperialismus« bezeichnet wird, als eine Chance zu »nation building« und zur Demokratisierung von außen propagiert. Die »failing states« sollen für geraume Zeit unter internationale Verwaltung gestellt werden, und es wird einem »neuen Interventionismus« der westlichen Mächte mit »robustem« militärischem Mandat das Wort geredet.10 In Afghanistan wurde diese »Theorie« umgesetzt. Da die internationale Gemeinschaft zum größten Teil aus NATO-Ländern unter US-Führung besteht, ist sie selber voreingenommen und Partei. Sie kann die Probleme des Landes nicht lösen – im Gegenteil, sie ist Teil des Problems geworden. Da die UNO zur Schaffung der Protektorate wesentlich mitbeigetragen und sich damit diskreditiert hat, kann sie keine angemessene und glaubwürdige Führungsfunktion mehr übernehmen. Weil Protektorate faktisch Kolonien sind, können im günstigsten Fall Probleme nur verschoben, im ungünstigsten Fall verschlimmert werden. Zu einer Lösung kommt es, wie an Afghanistan ersichtlich, nicht.

Gerade durch den Status als Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans zerstört worden. Wie der Kabuler Wirtschaftsminister Mohammad Amin Farhang hervorhob, bestehen 99% aller Waren auf dem afghanischen Markt aus Importen. Der einheimischen Wirtschaft wird jegliche Chance genommen sich zu entwickeln. Da die Heroinbarone im Staatsapparat integriert sind, nutzen sie den »Wirtschaftsboom« zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment, wie Hotels, Häuser und Lebensmittel für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer. Ein Wiederaufbau für breite Schichten der Bevölkerung findet kaum statt. Die Arbeitslosigkeit beträgt mancherorts ca. 70%11, vor allem in Osten und Süden sogar 90%. Dort sympathisieren bereits 80% der Menschen mit den Taliban.12 Den Afghanen wurden blühende Landschaften versprochen; nun müssen wir seit fünf Jahren erleben, dass der Westen „eine Menge Lügen erzählt und falsche Versprechungen macht13 wie Dorfbewohner im Süden des Landes äußerten. „Die Taliban haben die Kontrolle über die südliche Hälfte Afghanistans wiedererlangt“14, konstatierte »Senlis Council«, ein internationaler Think Tank. Das von der UN in Millionenhöhe unterstützte Rückkehrprogramm für afghanische Flüchtlinge muss deswegen scheitern, weil sie weder Arbeit noch Unterkunft finden. Die im Rahmen der Demobilisierung freigesetzten 50.000 Kämpfer der Warlords mehren nicht nur zusätzlich das Heer der Arbeitslosen, sondern sind zu einem Faktor von Destabilität, Kriminalität und Unruhe geworden. Da sie keine bezahlte Beschäftigung finden können, gehen sie entweder zurück zu ihrem Warlord oder schließen sich den Taliban bzw. Al Qaeda an. Die Sicherheitslage ist so schlecht wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes nicht mehr. Ende Mai konnten die Taliban sogar gut ausgerüstete Polizei-Einheiten in die Flucht schlagen.15 Attentate und Angriffe nehmen zu. Bis Juni 2006 wurden schon so viele Anschläge verübt, wie im letzten Jahr insgesamt. Allein seit Mitte Mai 2006 kamen mehr als 600 Menschen ums Leben.16 Andere Quellen berichten von 1.100 bzw. 1.300 Opfern.17

Der Bevölkerung geht es dabei immer schlechter. Selbst in Kabul funktionieren weder Wasser- noch Stromversorgung. Wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse kommt es in den heißen Sommermonaten wiederholt zu Cholera-Epidemien. Die Mietpreise in der Stadt sind selbst für die Menschen, die Arbeit haben, unerschwinglich geworden. Eine weltweit einmalige Korruption führt zu weiteren Belastungen.

Eine Friedensalternative

Zu diesen schon auf dem Petersberg falsch gestellten Weichen gab es eine Alternative, die jedoch nie diskutiert wurde. Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer repräsentativen Regierung in Afghanistan gewesen und eben nicht irgendwo weit weg im Ausland. Unter strengster Kontrolle nicht der »internationalen Gemeinschaft«, sondern der Blockfreien Staaten, der Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens- und Frauenorganisationen hätten Wahlen für eine Loya Djirga durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden müssen. Ich bin davon überzeugt, dass ein solches Verfahren ganz andere Ergebnisse gehabt hätte als die heutigen vom Petersberg. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Im schlimmsten Fall hätte man, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt worden wäre, ihn von den Staaten in Anspruch nehmen können, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Afghanistan gehört bekanntlich zu deren Gründungsmitgliedern.18 Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von »ungläubigen Christen« und dem »großen Satan« besetzt. Diese Alternative war jedoch von Anfang an unerwünscht. Selbst heute ist es noch nicht zu spät, diesen Weg einzuschlagen und die Petersberger Fehler zu korrigieren. Aber wer könnte diese Forderungen schon durchsetzen, selbst wenn es in Afghanistan am nationalen Interesse orientierte patriotische Kräfte gäbe?

Ein nachhaltiger Wiederaufbau, der ein »Krieg gegen den Hunger« wäre, wie es »Senlis Council« formuliert, einer, der allen Afghanen zugute kommt, muss die erste Priorität sein. Die Milliarden Dollars, auf diversen internationalen Geberkonferenzen dem Land versprochen und auf einem Sonderkonto bei der Weltbank geparkt, fließen über die 2.500 in Kabul stationierten und mit allen Vollmachten ausgestatteten »Non Governmental Organizations« (NGO), die „oft gegeneinander statt miteinander“19 arbeiten, in die Geberländer zurück. Sie fungieren faktisch als Ersatzregierung und zerstören die afghanische Wirtschaft noch weiter. Einheimische Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge. Der naive und energische Franco-Afghane Ramazan Bachardoust wurde auf Wunsch der Pariser Regierung nach Kabul delegiert und von Karsai zum Planungsminister ernannt. Als er die Machenschaften der NGOs, die er „als die neue Al Qaida in Afghanistan bezeichnet“20, aufdecken wollte, wurde er von Karsai entlassen.21

Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen wirtschaftlichen Strukturen und der Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan sowie in einer Süd-Süd-Kooperation.

Als NATO-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft. Außerdem: die von der NATO favorisierte »militärische Lösung« kann es nicht geben. Selbst wenn es sie gäbe, wäre sie ein gigantischer »Ressourcenschlucker« und stünde in einem eklatanten Missverhältnis zu einer politischen Lösung. Seit 2002 wurden in Afghanistan 82,5 Mrd. $ für den Krieg ausgegeben, jedoch nur 7,3 Mrd. für den Wiederaufbau. „Damit übersteigen die Militärausgaben die Hilfsmittel um 900 Prozent.“22 Es ist längst überfällig, dass der Westen seine Strategie überdenkt, um Afghanistan vor der Spirale der unkontrollierten Gewalt zu bewahren.

Der Anfang von Ende des Protektorats am Hindukusch wäre zum Beispiel, dass die Bundeswehr sofort aus Afghanistan abgezogen wird. Sie besitzt keine wichtige Funktion für die Sicherheit des Landes. Wenn die politischen Rahmenbedingungen geschaffen sind, können dann alle weiteren Besatzer ihre Armee abziehen.

Anmerkungen

1) Vgl. Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes…“, in: Le Nouvel Observateur, 15-21.1.1998, S.76.

2) Baraki, Matin: Afghanistan nach »Petersberg«: in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 47, 2002, H. 2, S.147-150.

3) Vgl. Karsei fordert Einigkeit und Opferbereitschaft, in: FR, 14.6.2002, S.2.

4) Vgl. Pohly, Michael: Am Anfang war der Wahlbetrug, in: Bedrohte Völker-Pogrom, Göttingen, Nr. 218 (2/2003), S.8 http://www.gfbv.de/dokus/dossiers/afghanistan/pohly_pog218.htm.

5) Zitiert nach: Paasch, Rolf: Stunde der Strippenzieher, in: FR, 19.6.2002, S.3.

6) Vgl. Nato hofft auf baldige Ausweitung von Isaf, in: FAZ, 29.10.2004, S.7.

7) Vgl. Hahn, Dorothea: Vergebliche Suche nach der »goldenen Brücke«, in: TAZ, 3./4.11.2001.

8) Vgl. Leyendecker, Hans: „Ich habe es versucht“, in: SZ, 25.9.2006, S.2.

9) Ulrich Menzel von der Universität Braunschweig ist ein maßgeblicher Vertreter dieser »Theorie«.

10) Diese »Theorie« wird von Prof. Menzel und Prof. Franz Nuscheler von der Universität Duisburg favorisiert.

11) Lüders, Michael: Nur die Milliarden aus dem Ausland halten Karsai an der Macht, in: FR, 24.4.2006, S.6.

12) Vgl. Möllhoff, Christine: „Westen hat in Afghanistan versagt“, in: FR, 14.9.2006, S.6.

13) Ebenda.

14) Ebenda.

15) Vgl. Spiegel online, 31.5.2006.

16) Vgl. Petersen, Britta u.a.: Bundeswehr will präventiv zuschlagen, in: Financial Times Deutschland, 12.7.2006, S.15.

17) Vgl. Spiegel online, 28.6.2006; Deutschlandfunk, 10.7.2006.

18) Weitere Gründungsmitglieder der Blockfreien Staaten waren Ägypten, Indien, Indonesien und die Bundesrepublik Jugoslawien.

19) Fischer, Karen: Afghanistan kommt nicht zur Ruhe, in: Hintergrund Politik, Deutschlandfunk, 26.6.2006, 18:40 Uhr.

20) Busse, Nikolas: Böse Blicke, in: FAZ, 4.6.2005, S.3.

21) Vgl. Koelbl, Susanne: Versickernde Milliarden, in: Der Spiegel, Nr. 13, 26.3.2005, S.117.

22) vgl. Anmerkung 12

Dr. Matin Baraki ist Lehrbeauftragter an den Universitäten in Marburg, Giessen und Kassel

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2007/4 Europäische Sicherheitspolitik, Seite