Afghanistan: Militarisierung der Hilfe
von Jürgen Lieser
Als der neue Entwicklungsminister Niebel, kaum im Amt, verlauten ließ, dass Hilfsorganisationen sich andere Geldgeber suchen müssten, wenn sie nicht mit der Bundeswehr in Afghanistan zusammenarbeiten wollten, ging ein Schrei der Entrüstung durch parlamentarische Opposition, NRO-Szene und entwicklungspolitisch interessierte Öffentlichkeit. Dabei hatte Niebel nur etwas auf den Punkt gebracht – zugegebenermaßen diplomatisch nicht sehr geschickt verpackt –, was schon unter der vorherigen Regierung längst gängiges Credo war: nämlich das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« oder, wie es im NATO-Jargon heißt, des »Comprehensive Approach«.
Anlass und Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Konzeptes der »Vernetzten Sicherheit« als neues Leitbild staatlicher internationaler Sicherheitspolitik waren die Terroranschläge vom September 2001. Damals erklärte die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall, der bis heute andauert, und es folgte kurz darauf die ebenfalls bis heute andauernde Militärintervention in Afghanistan. Deutschland begründet sein militärisches Afghanistan-Engagement mit der Bündnistreue innerhalb der NATO und mit dem Struck`schen Axiom von der Sicherheit Deutschlands, die auch am Hindukusch verteidigt wird. Immerhin wird jetzt auch im politischen Sprachgebrauch von Krieg oder zumindest von »kriegsähnlichen Zuständen« gesprochen. Das ist zwar nicht ausschlaggebend für die Debatte, bringt aber ein Stück mehr Ehrlichkeit in die Diskussion. Dies ist vor allem gegenüber den Soldaten wichtig, die in Afghanistan täglich ihr Leben riskieren. Sie, die Soldaten, haben schon längst begriffen, dass sie keine »Entwicklungshelfer in Uniform« sind, die Brunnen bohren und Schulen bauen dürfen. Das Engagement ziviler Hilfsorganisationen, die ebenfalls unter hohem Risiko in Afghanistan arbeiten, tritt in der politischen Debatte um die Afghanistan-Strategie meist in den Hintergrund gegenüber dem Bundeswehreinsatz. In dieser Wahrnehmung spiegelt sich auch das Missverhältnis zwischen dem militärischen und dem zivilen Aufwand wider, den Deutschland in Afghanistan betreibt.
»Vernetzte Sicherheit«, so wie sie z.B. im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 definiert ist, meint das koordinierte Zusammenwirken politischer, militärischer und ziviler Kräfte, um sicherheitspolitische Ziele durchzusetzen. Allerdings räumt das Weißbuch ein, dass Sicherheit nicht „allein durch Streitkräfte gewährleistet werden“ kann (Kapitel 1.4). Auch Verteidigungsminister von Guttenberg weiß, dass die political correctness im Falle von Afghanistan verlangt darauf hinzuweisen, dass der Konflikt allein mit militärischen Mitteln nicht zu lösen ist, und dass der zivile Wiederaufbau Vorrang haben muss. Warum aber dann weiter mit der Dominanz des Militärischen und der Strategie, durch weitere Truppenaufstockungen in Afghanistan zum Erfolg zu kommen? Warum die zunehmende Unterordnung des zivilen Engagements unter das militärische? Das genau nämlich meint Niebel mit seinem Erpressungsversuch der Hilfsorganisationen. Das ist auch das Ziel der so genannten Provincial Reconstruction Teams, der angeblich so zivilen Wiederaufbauteams, die zu 95 Prozent aus Soldaten und nur zu fünf Prozent aus zivilen Mitarbeitern bestehen.
Das Konzept der »Vernetzten Sicherheit« und die dafür eingeforderte zivil-militärische Zusammenarbeit führt notwendigerweise zu einer Instrumentalisierung ziviler Hilfe für militärische Ziele bzw. zu einer Militarisierung der Hilfe. Es kommt zu einer unseligen Verwischung der Grenzen zwischen den Aufgaben von Streitkräften, die politischer Natur sind, und dem humanitären Mandat ziviler Hilfsorganisationen. Für die NRO ist politische Unabhängigkeit aber eine unverzichtbare Voraussetzung, um in gewaltsamen Konflikten Hilfe nach den humanitären Prinzipien leisten zu können. In Afghanistan führt diese Verwischung der Grenzen zwischen militärischem und zivilem Engagement, wie es im PRT-Konzept zum Ausdruck kommt, auch dazu, dass Hilfsorganisationen als verlängerter Arm der ISAF-Truppen angesehen und damit zur Zielscheibe gewaltsamer Übergriffe werden. Nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für den Selbstschutz der Hilfsorganisationen ist es daher angeraten, auf eine konsequente und sichtbare Arbeitsteilung zu achten und eine Zusammenarbeit mit den ISAF-Truppen zu meiden.
Jürgen Lieser ist stellvertretender Vorsitzender von VENRO (Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.). Vorher war er viele Jahre Leiter der Katastrophenhilfe bei Caritas-Intenational.