W&F 1998/2

Afghanistan

Die Entwicklung seit dem Najibullah-Regime

von Jürgen Burggraf

Als 1988 die Truppen der ehemaligen Sowjetunion Afghanistan verließen, hofften viele auf einen schnellen Frieden. Eine trügerische Hoffnung, wie sich zeigte. Ein riesiges Waffenlager hatten die Großmächte hinterlassen und gleich ein halbes Dutzend Staaten verfolgte in dem Vielvölkerstaat eigene strategische Interessen. In immer wieder wechselnden Koalitionen ging das grausame Morden bis heute weiter. Ein Ende des Bürgerkrieges ist trotz internationaler Bemühungen wenig wahrscheinlich.

Die afghanische Gesellschaft ist bis heute eine vorindustrielle, stark segmentierte Agrargesellschaft mit einer schwachen Zentralgewalt und weitgehender Autonomie der auf Familien-, Sippen- und Stammesverbänden basierenden Dorfgemeinschaften geblieben.

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit folgender Bevölkerungsaufteilung: Paschtunen (etwa 45%), die den Anspruch auf die politische Führung Afghanistans erheben; 28% Tadschiken; Hazara 8-10%; Uzbeken ca. 9%; Turkmenen 3%; ferner weitere 30 kleinere lokale Ethnien. Etwa 80% der Afghanen sind Sunniten; ca. 18% Schiiten (Zwölferschia). Der Rest der Bevölkerung verteilt sich auf islamische Sekten (Ismailiten, Sufi-Orden).

Die Struktur des Afghanistan-Konfliktes

Seit dem Ende der 70er Jahre war der Widerstand gegen den afghanischen Staat und dessen kommunistische Führung weitgehend tribal organisiert und deshalb entlang ethnischer Linien fragmentiert. Der Aufruf zum Jihad und externe Druckausübung schufen bis 1992 einen gewissen Grad der Einigkeit.

Der Abzug der Sowjets (gemäß Genfer Abkommen 1988) und die spätere Einstellung ihrer materiellen Unterstützung schufen ein politisches und militärisches Vakuum. Dieses konnte angesichts der Fragmentierung des Widerstandes nicht von einer Führung mit nationalem Machtanspruch ausgefüllt werden, zumal der Widerstand nicht in Afghanistan, sondern auf fremdem Territorium (Pakistan, Iran) organisiert worden war. Der Übernahme einer nationalen Führungs- und Integrationsrolle durch den exilierten König verweigerten sich Pakistan (bis 1995) und die Mujahidin-Führer. Vor 1979 existieren keine national-säkularen Parteien, von der kommunistischen abgesehen, in Afghanistan, und diese wurden auch später nicht aufgebaut. Nach 1979 erhielten dann ausschließlich religiös-fundamentalistische Organisationen ausländische Unterstützung in ihrem Kampf gegen das Kabuler Regime. Ein weiterer Versuch der nationalen Integration ist in dem Bemühen um die Wiederbelebung der »Loya Jirga« (afghanische Stämmeversammlung) zu sehen. Diese kann für sich den Anspruch erheben auf Übereinstimmung mit eigenständigen politischen Traditionen Afghanistans und somit auf politische Legitimität. Ihre Konstituierung scheiterte aber an ethnischen Zerklüftungen, dem Widerstand der Mujahidin und Pakistans.

Pakistan organisierte weitgehend die internationale Hilfe an die sunnitischen Widerstandsgruppen, ohne damit aber die Herausbildung einer einheitlichen afghanischen Widerstandsfront, die seine Kontrolle unterminiert hätte, fördern zu wollen. Selbst nicht-islamistisch orientierte Gruppen mußten sich zum Erhalt von militärischer Unterstützung islamistisch gebärden. Diese Umstände bewirkten eine immer stärker um sich greifende Islamisierung der afghanischen Gesellschaft und Politik. Die Langzeitfolge war: Auf der Basis der militärischen Stärke und Anziehungskraft der Mujahidin-Organisationen setzte ein Prozeß der Herauslösung und Autonomisierung von Herrschaftsverbänden und -territorien aus dem afghanischen Staatsverband ein.

Die Interessen externer Akteure

Pakistan geht es darum, eine ihm freundlich gesinnte Staatsführung in Kabul zu fördern, um sich die Möglichkeit zu eröffnen, einen profitablen Handel mit seinem Nachbarland und dessen nördlichen Anrainerstaaten, die besonders aufgrund ihrer immensen Rohstoffvorkommen interessant sind, zu führen. Ferner benötigt Pakistan eine kooperative Kabuler Führung zur Lösung des afghanischen Flüchtlingsproblems. Jedoch fördert eine starke Kabuler Zentralregierung nicht die Absicht Pakistans, wirkungsvollen Einfluß auf das politische Geschehen in Afghanistan zu nehmen. Deshalb verhinderte Pakistan, daß die afghanische »Loya Jirga« oder der exilierte König Zahir Shah nationale Führungs- und Integrationsrollen übernehmen konnten. Vielmehr stärkte Pakistan – unter besonderen Förderung der paschtunischen Gruppen – die Mujahidin-Fraktionen. Diese Politik diente auch dem Zweck, die Einflußnahme des regionalen Kontrahenten Indien, der besonders die turkmenischen Mujahidin fördert, einzudämmen. Die Pakistan-orientierten Mujahidin sollen nicht zuletzt auch einen Schutz gegen die Ausweitung des iranisch-schiitischen Revolutionsmodell auf Afghanistan bieten. Es muß Pakistan aufgrund seiner eigenen ethnischen Zusammensetzung auch daran gelegen sein, groß-paschtunische Aspirationen in Afghanistan unter Kontrolle zu halten.

Saudi-Arabien und der Iran führen mittels der Unterstützung ihrer jeweiligen Klientel in Afghanistan einen religiös (Gegensatz Sunna-Schia) und machtpolitisch fundierten Stellvertreterkonflikt um die Führung der islamischen Welt. Saudi-Arabien unterstützt im wesentlichen die von Pakistan anerkannten Mujahidin-Gruppen; Iran neben den afghanischen Schiiten auch uzbekisch-tadschikische Kräfte.

Turkmenistan, Uzbekistan und Tadschikistan stehen hinter den ihnen ethnisch nahestehenden Konfliktparteien mit dem Ziel, das Ausgreifen des islamischen Fundamentalismus über Nordafghanistans hinaus zu verhindern.

Rußland geht es darum, unter Eindämmung des islamischen Fundamentalismus die Stabilität und die russischen Einflußmöglichkeiten im südlichen »nahen Ausland«, zu dem auch die GUS-Mitglieder Turkmenistan, Uzbekistan und Tadschikistan gehören, zu gewährleisten. Deshalb protegiert Rußland General Dostum und seine Verbündeten. Diese Stabilität ist für Rußland deshalb wichtig, weil es an der Ausbeutung der transkaukasischen Rohstoffvorkommen teilhaben will. Afghanistan ist geostrategisch von Bedeutung, weil es territorial die Möglichkeit bietet, einen von russischer (oder iranischer) Kontrolle unabhängigen Landweg für den Abtransport transkaukasischer Rohstoffe – besonders Erdöl und Erdgas – zu bieten. Von gleicher zentraler Bedeutung ist das Land mit Bezug auf zentralasiatische Handelswege. Diese Transportmöglichkeiten zu verhindern, liegt im Interesse Rußlands (und des Irans).

China verfolgt neben ökonomischen auch sicherheitspolitische Interessen im afghanischen Konflikt. Es befürchtet die Beeinflussung seiner turkstämmigen Bevölkerungsminderheiten durch die Lage in Afghanistan (Unruhen unter den chinesischen Uiguren 1997!).

Die USA und ihre Verbündeten streben letztlich ein Regime in Kabul an, das ein Mindestmaß an inner-afghanischer und regionaler Stabilität gewährleisten, den freien Zugang zu wichtigen Rohstoffen und Absatzmärkten der Region fördern und den Export von Drogen, der »islamischen Ideologie« und Terrorismus eindämmen kann. Dieses Ziel verfolgend haben die USA prinzipiell die pakistanische Afghanistan-Politik mitgetragen.

Diverse externe Parteien nutzen den afghanischen Bürgerkrieg zum profitablen Absatz ihrer Rüstungsgüter (u.a. Ukraine, Ägypten, Türkei, Israel, Libyen, Sudan).

Die Entwicklung in Afghanistan von 1992 bis 1997

Die Sowjetunion erklärte sich Ende 1991 bereit, eine islamische Übergangsregierung in Afghanistan zu akzeptieren, sofern das Najibullah-Regime an deren Zustandekommen beteiligt würde. Mit den USA einigte sich die Sowjetunion auf die Einstellung der jeweiligen Militärhilfe für 1992. Die Mujahidin lehnten jedoch die sowjetischen Forderungen ab. Nach militärischen Siegen der Mujahidin und General Dostums (21.3. Bündnis Dostum-Masud) Anfang 1992 gab Präsident Najibullah im März bekannt, er sei zur Abgabe der Macht bereit. Am 16.4. übergab er die Regierungsgeschäfte an einen Viererrat seiner Watan-Partei. Am 25.4.1992 marschierte Masud, unterstützt durch die Truppen Dostums und die schiitische Hizb-e Wahdat, in Kabul ein, um einer »paschtunischen Lösung« für das afghanische Machtvakuum zuvorzukommen. Daraufhin gaben die von Pakistan unterstützten Mujahidin-Gruppen ihre Vorstellungen zur Gestaltung der Übergangszeit in Afghanistan bekannt (Peshawar Accords: Bildung eines Übergangsrats aus allen zehn Mujahidin-Fraktionen, Präsident dieses Rats für zwei Monate Mujaddadi, danach Rabbani für vier Monate, Hikmatyar, Masud und Sayyaf erhalten Schlüsselministerien). Eine nationale »Shura« solle eine Interimsregierung für die nächsten 18 Monate benennen und freie Wahlen vorbereiten. Die Hizb-i Wahdat und Dostums (Jonbush-i Milli-i Islami) lehnten diese Regelungen ab. Bald verwarf auch Hikmatyar die Einigung, da diese der Anerkennung der nicht-paschtunischen Dominanz in Kabul gleichgekommen wäre. Abkommen zwischen ihm und Rabbani zur Aufteilung der Macht scheiterten mehrfach. Ende 1992 wurde Rabbani von der »Shura« für weitere 18 Monate im Präsidentenamt bestätigt. Ein Zerwürfnis zwischen der Hizb-i Wahdat, der Jamiat-i Islami und der Jonbush nutzte Hikmatyar zum Bündnis mit der Hizb-i Wahdat (Januar 1993). Ferner hielt er eine taktisch begründete Waffenruhe mit den Kräften Dostums ein.

Ende Januar 1993 einigten sich sechs Mujahidin-Gruppen unter saudi-arabischer Vermittlung auf eine Friedensformel (Abkommen von Jalalabad). Danach sollten die Kriegshandlungen eingestellt, der Führungsrat der Mujahidin wiederbelebt und binnen eines Jahres Wahlen abgehalten werden. Hikmatyar unterstützte das Abkommen; Rabbani lehnte es ab und ernannte vielmehr Dostum zum stellvertretenden Verteidigungsminister Afghanistans, um sich seiner Loyalität gegen Hikmatyar zu versichern. Im März 1993 vermittelten Pakistan, Saudi-Arabien und Iran das Abkommen von Islamabad. Danach sollte Rabbanis Amtszeit als Präsident auf 18 Monate begrenzt werden, während Hikmatyar den Posten des Premierministers besetzen sollte. Innerhalb von acht Monaten sollten nationale Wahlen vorbereitet werden. Ein gemeinsamer Mujahidin-Rat sollte das Verteidigungsministerium kontrollieren, für die Einsammlung der Waffen in Afghanistan und die Durchsetzung eines landesweiten Waffenstillstandes sorgen. U.a. unterschrieben Rabbani und Hikmatyar den Vertrag. Dostum war aus den Vereinbarungen ausgeschlossen. Hintergrund des Abkommens war das Bemühen Pakistans, die Gefahren für die eigene staatliche Stabilität durch die Einwirkungen des afghanischen Bürgerkriegs einzudämmen. Es mußte ferner erkennen, daß die in Hikmatyar gesetzten militärischen Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten. Aufgrund des fortwährenden Krieges blieb das Abkommen wirkungslos.

Zu Beginn des Jahres 1994 brach der seit langem schwelende Konflikt zwischen Rabbani (und Masud) und General Dostum offen aus. Der Grund dafür war Dostums Fernhalten von der Machtteilhabe in den Abkommen des Vorjahres, gegen das er jetzt opponierte. Ebenso hielten sich Gerüchte, die Jamiat-i Islami plane mit Tadschikistan ein Bündnis hinter seinem Rücken. Nach der Forderung Hikmatyars, den Präsidenten und seine Regierung abzusetzen, signalisierte Rabbani die Bereitschaft zu Verhandlungen mit Hikmatyar, nicht jedoch mit Dostum. Hikmatyar verweigerte sich der Initiative, eine »Loya Jirga« einzuberufen, die einen Präsidenten bestimmen sollte mit Blick auf das Ende der Amtszeit Rabbanis gemäß dem Islamabad-Abkommen von 1993. Wie zu erwarten, lehnte Rabbani seinen Rücktritt zum vereinbarten Zeitpunkt ab. Parallel dazu gelang es Rabbanis Truppen, die vereinten Kräfte Hikmatyars und Dostums aus Kabul herauszudrängen. Im November tauchten die Taliban als neue Partei im afghanischen Konflikt auf, als sie die Stadt Kandahar eroberten und bald weite Teile des Südostens Afghanistans unter ihre Kontrolle brachten.

Anfang Februar 1995 überließ Hikmatyar den Taliban kampflos sein Hauptquartier, um ihnen zu ermöglichen, ihre Kampfkraft gegen Rabbanis Truppen zu konzentrieren. Rabbani widersetzte sich ihnen erfolgreich. Erst im Spätsommer gelangen den Taliban in taktischer Koordination mit Dostum und Hikmatyar wieder militärische Erfolge gegen die Regierungstruppen. Sie nahmen die wichtige Luftwaffenbasis Shindand ein, überrannten Herat, schlugen den mit Rabbani verbündeten Ismail Khan in die Flucht und brachten Teile des strategisch wichtigen Hazarajat (Zentralafghanistan) unter ihre Kontrolle. Sie erklärten sich bereit, mit einem Islamischen Koordinierungsrat unter Ausschluß Rabbanis zu kooperieren. Dieser knüpfte seinen Rücktritt nun an die Vorbedingung, daß die ausländische Einmischung (Pakistan, Taliban) in die inneren Angelegenheiten Afghanistans eingestellt würde.

Im April 1996 unternahmen die Regierungstruppen vergeblich den Versuch, Herat aus der Kontrolle der Taliban zu befreien, um so die Beschaffungswege für die Militärhilfe aus Iran abzusichern. Iran war verstärkt zur Unterstützung der Regierungstruppen übergegangen, um die Ausweitung des Einflusses der sunnitischen Taliban einzudämmen. Unter dem militärischen Druck der »Koranschüler« gingen Rabbani und Hikmatyar am 24.5.1996 ein militärisch-politisches Bündnis ein. Seitdem erhielt Hikmatyar mit iranischer Hilfe Waffen und Material aus Masuds Arsenalen. Weiterhin unterstützten Rußland und Indien diese Allianz. Rußland organisierte eine Luftbrücke und Landverbindungen zwischen Tadschikistan und den von Rabbani gehaltenen Gebieten. Im Gegenzug verbürgten sich die Regierungskräfte, die Unterstützung islamistischer Akteure in Tadschikistan zu unterbinden. Die USA gingen immer offener dazu über, die Taliban materiell zu unterstützen und politische Kontakte mit ihnen aufzunehmen.

Am 27.9.1996 nahmen die Taliban Kabul ein. Sie erklärten Afghanistan zu einem islamischen Staat und begannen sogleich mit der Umsetzung ihrer radikal-islamischen Ordnungsvorstellungen. In der Folge richteten sie ihre Kräfte auf die Verfolgung Rabbanis/Masuds und Hikmatyars. Anfang Oktober schlossen Dostum, Rabbani und andere Mujahidin-Führer einen Verteidigungspakt gegen die Taliban und drängten die Frontlinie wieder zurück nach Kabul.

Noch im September 1996 einigten sich die afghanischen Kriegsparteien auf ein Abkommen zur Sicherheit der Pipelinetrassen durch Afganistan vor dem Hintergrund des Planes eines von den USA und Saudi-Arabien angeführten multinationalen Konsortiums zum Bau einer Erdgaspipeline von Turkmenistan nach Pakistan.

Die aktuelle Lage in Afghanistan

Anfang 1997 stießen die Taliban über pakistanisches Territorium in den Norden Afghanistans vor. Ferner konzentrierten sie ihre Kräfte auf die Einnahme der schiitischen Gebiete Ghowrband und Bamiyan, mit dem Ziel, eine westlich des Salang-Tunnels gelegene Paßstraße zu überqueren.

In Absprache mit den Taliban revoltierten im Mai des Jahres einerseits General Abdul Malik, der Außenminister der von Dostum kontrollierten Gebiete (Dostum setzte sich in die Türkei ab), andererseits General Bashir Salangi, der im Auftrag Masuds den Salang-Tunnel kontrollierte. Die Taliban nutzten dies zum Durchbruch in den Norden und zur Besetzung weiter Teile dieses Landesteils. Nachdem sie mit der Entwaffnung ihrer Gegner begannen, stießen sie auf heftigen Widerstand, der sie zum Rückzug zwang. Im Juni bestätigte Abdul Malik den Verteidigungspakt mit Rabbani, Masud u.a. Einen Monat später rückte diese Allianz wieder auf Kabul vor, entriß den Taliban Charykar, die Luftwaffenbasis Bagram und erneut die Kontrolle über den Salang-Paß. Im September des Jahres kehrte General Dostum aus seinem türkischen Exil zurück. Sofort brachen schwere interfraktionelle Kämpfe in und um Mazar-i Sharif aus.

Am 25. Oktober benannten die Taliban ihren Staatsteil in »Islamisches Emirat von Afghanistan« um. Dieser Akt läßt mehrere Annahmen zu: 1. der Anführer (Emir) der Taliban, Mullah Muhammad ‘Umar, will so seine(n) Herrschaft(-sanspruch) institutionalisieren und absichern; 2. es scheint sich anzudeuten, daß die Taliban unter Hinnahme der reellen Kräfteverhältnisse zwischen den Kriegsparteien bereit sind, eine Teilung des Landes zu akzeptieren und damit ihren gesamtafghanischen Herrschaftsanspruch zu relativieren; 3. eine politische Lösung für ganz Afghanistan wird weiter erschwert.

Im Oktober 1997 gab das bereits erwähnte Konsortium den Baubeginn seiner Erdgas-Pipeline bekannt; zusätzlich will Unocal (USA) eine Erdol-Pipeline bauen. Neben russischem und iranischem Widerstand ist zu erwarten, daß auch die Taliban sich – zumindest vorübergehend – diesem Projekt widersetzen werden, um so ihre Bauzusage an die Unterstützung ihrer Bemühungen um internationale Anerkennung zu binden (sie wurden bisher nur von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan diplomatisch anerkannt).

Auch 1998 war die militärische Lage an den afghanischen Frontlinien weitgehend unverändert. Die politische Lage im Land erfuhr insofern eine neue Nuance, als daß Spannungen innerhalb der Taliban-Koalition deutlicher wurden. Diese haben verschiedene Ursachen: Einerseits erzeugen das harsche islamische Regime und die Zwangsrekrutierungen der Taliban Widerstand. Andererseits artikulieren Befürworter einer wie auch immer gearteten politischen Lösung für Afghanistan unter den Taliban ihre Positionen zunehmend deutlicher gegenüber den Hardlinern. Ferner gibt es Friktionen zwischen den Anführern der paschtunischen Flüchtlinge in Pakistan und der Taliban-Führung in Afghanistan.

Die Lage der Kinder im afghanischen Bürgerkrieg

Afghanistan verzeichnet eine Kindersterblichkeitsrate von 25%. Jährlich sterben im Land über 250.000 Kinder an Unterernährung, an vermeidbaren oder relativ leicht heilbaren Krankheiten. Jedes Jahr werden ca. 8.000 Menschen Opfer explodierender Anti-Personen-Minen, rund 4.000 erliegen ihren Verletzungen. Ein Drittel aller Minenopfer sind Kinder. Eine große Anzahl von afghanischen Kindern ist aufgrund der Kriegseinwirkungen hochgradig traumatisiert. Internationale humanitäre Bemühungen zum Schutz und zur Versorgung von Kindern werden durch die Bürgerkriegssituation behindert bzw. unmöglich gemacht. Dieser Mißstand hat sich in weiten Teilen Afghanistans nach der Machtübernahme der Taliban noch verschärft. Besonders Programme der allgemeinen Gesundheitsaufklärung für Frauen und Mädchen werden von den Taliban verhindert. Auf der Grundlage ihres strikten Sittenkodex beschränken sie massiv die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen. Es ist zu berücksichtigen, daß 25% aller Frauen in Afghanistan Kriegswitwen und aufgrund dieser Lebenssituation Haupternährerinnen ihrer Familien sind. Dieser Rolle können sie aber nicht oder nur unter größten Schwierigkeiten unter dem Regime der Taliban gerecht werden – mit der Folge, daß dieser Umstand zusätzlich zur Unterversorgung und -entwicklung vieler Kinder in Afghanistan beiträgt.

Frauen und Mädchen werden Opfer sexuellen Mißbrauchs. Die Taliban verweigern Mädchen in einem Alter ab neun Jahren in weiten Teilen ihres Herrschaftsbereiches jegliche schulische oder sonstige Ausbildung (sofern sie in öffentlichen Einrichtungen durchgeführt wird). Jungen werden zum Kriegsdienst zwangsrekrutiert.

Internationale Bemühungen um die Beilegung des Konfliktes

Sowohl die Liga der Islamischen Welt als auch die Islamische Konferenzorganisation schalteten sich in internationale Vermittlungsbemühungen ein. In beide Organisationen entsenden die am Afghanistan-Konflikt interessierten arabischen und islamischen Parteien Gesandte. Während die Liga der Islamischen Welt die Aufgabe hat, pan-islamische Ideen (saudischer Prägung) zu verbreiten, stellt sich die Islamische Konferenzorganisation (IKO) als eine Ansammlung von verschiedensten zwischenstaatlichen Konferenzen auf diversen Ebenen ihrer Mitgliedsstaaten dar, die aufgrund großer Spannungen zwischen ihren »progressiven« und »konservativen« Mitgliedern politisch gespalten und folglich in ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit begrenzt sind. Dennoch hat die IKO wiederholt ihre Hilfe für die Schaffung und Einhaltung eines stabilen Waffenstillstandes in Afghanistan angeboten. Aus diesem Angebot wurde ihre Bereitschaft abgeleitet, eine internationale Friedenstruppe für Afghanistan aufzustellen.

Bisher besaßen beide Organisationen nicht die politischen Kapazitäten, um im Afghanistan-Konflikt als Vermittler erfolgreich zu agieren bzw. sie konnten nicht von allen Bürgerkriegsparteien als unparteiisch anerkannt werden. Auch wurden ihre Aktivitäten durch Handlungen (etwa Waffenlieferungen) ihrer Mitglieder konterkariert. Als einziger Akteur mit echten Vermittlungsressourcen blieben nur die Vereinten Nationen übrig.

Die Rolle der Vereinten Nationen

Die UNO war seit 1979 mit dem Afghanistan-Konflikt befaßt. Jedoch war ihr Sicherheitsrat lange durch die sowjetische Veto-Position paralysiert. Deshalb konzentrierten sich die UN-Bemühungen auf die Generalversammlung und den UN-Generalsekretär. Sein Sonderbeauftragter, Diego Cordovaz, erreichte 1988 den Abschluß des Genfer Abkommens. Da die Mujahidin das Abkommen ablehnten, konnte es keine Grundlage für Frieden in Afghanistan werden. Die Bemühungen des UN-Sondergesandten Benon Sevan scheiterten bis 1991/92 daran, daß sich die Mujahidin weigerten, mit der Regierung Najibullah eine politische Lösung für Afghanistan auszuhandeln.

Nach der Eskalation der Kämpfe zwischen den Mujahidin-Fraktionen 1992/93 unternahm ein neuer UN-Sondergesandter, Mahmud Mestiri, abermals den Versuch der Vermittlung. Er sah 1994/95 seine Aufgabe darin, die Mujahidin, aber besonders Präsident Rabbani, auf einen Mechanismus zur Übergabe der Macht an ein Gremium mit breiter politischer Basis zu verpflichten. Dabei unterstützten ihn Pakistan, die USA und König Zahir Shah. Mestiri behauptete, die afghanische Regierung sei tadschikisch dominiert und damit keine repräsentative Vertretung des afghanischen Volkes. Dabei übersah er aber den demographischen Kräfteausgleich zwischen Paschtunen und Tadschiken und die Tatsache, daß die Rabbani-Regierung auch von paschtunischen Kräften getragen wurde. Die Vernachlässigung dieser Aspekte ließ Mestiris Mission scheitern. Er hielt an seinem Plan auch noch fest, als die Regierungstruppen 1994 gegen die Kräfte Hikmatyars und Dostums und 1995 gegen die Taliban militärische Siege erlangten. Mestiri ging 1995 soweit, die Legitimität Rabbanis öffentlich in Frage zu stellen. Damit verließ er die Position des neutralen Vermittlers. Nach seiner Demission wurde im Juli 1996 der deutsche Diplomat Norbert Holl zum Leiter der UN-Mission in Afghanistan ernannt. Seine Pendeldiplomatie zwischen allen am Konflikt beteiligten Parteien für die Entwicklung eines Friedenskonzeptes wurde jedoch durch die Einnahme Kabuls durch die Taliban, die Fortdauer des Krieges, intrafraktionelle Spannungen auf allen Seiten und nicht zuletzt durch die Ausrufung des afghanischen Emirats 1997 maßgeblich erschwert. Deshalb konzentrierte er sich 1996/97 umso mehr darauf, die Modalitäten eines stabilen Waffenstillstandes, der Entmilitarisierung Kabuls und der Übernahme polizeilicher Befugnisse in der Stadt durch eine neutrale Kraft auszuhandeln. Seit Juli 1997 ist Lakdhar Ibrahimi neuer UN-Sondergesandter für Afghanistan. In mehreren Anläufen versuchten er und der Generalsekretär seitdem, ein umfassendes Waffenembargo gegen Afghanistan sowie dessen effektive Umsetzung zu erreichen. Diese Bemühungen erhielten wie bereits 1996 die Unterstützung der USA. Im März 1998 kündigten die UNO und die IKO eine gemeinsame Initiative zu Friedensverhandlungen aller afghanischen Kriegsparteien an. Deren Ergebnis lag zum Redaktionsschluß noch nicht vor.

Fazit

Die Vermittlungsfähigkeit der Vereinten Nationen im afghanischen Konflikt hat Grenzen. Diese sind einerseits durch die Intransigenz und Kooperationsunwilligkeit der Konfliktparteien gezogen. Andererseits durch den Rahmen, der dem Handeln der UNO durch den politischen Willen ihrer Mitglieder vorgegeben ist. Wenn diese durch militärische Unterstützung verschiedener afghanischer Konfliktparteien und durch das Austragen diverser Stellvertreterkriege um regionale Machtstellungen oder geostrategische und -ökonomische Einflußsphären die Friedensbemühungen der UNO unterlaufen, muß diese machtlos bleiben.

Versuch einer Prognose zukünftiger Entwicklungen

Ein Ende des Bürgerkriegs in Afghanistan scheint nicht absehbar. Die militärische Stärke und politische Kohäsion der Kriegsparteien und -allianzen ist kaum präzise einzuschätzen. Die Intensität der ausländischen Unterstützung für die jeweilgen Kriegsparteien bleibt ebenso unkalkulierbar. Gegenwärtig erscheinen folgende – auch komplementär denkbare – Szenarien möglich:

  • Das militärische »Hin und Her« des afghanischen Bürgerkriegs wird fortgesetzt, da keine Kriegspartei die Ressourcen hat, militärisch die Oberhand zu erlangen und ihre Ordnungsvorstellungen dem ganzen Land aufzuzwingen. Dies berücksichtigt die Tatsache, daß die Kriegsparteien und -allianzen keine homogenen politisch-militärischen Kräfte darstellen, sondern entlang ethnischer Linien fragmentiert sind und ebenso den Umstand fortwährender externer Intervention.
  • Die Herauslösung und Autonomisierung von Herrschaftsverbänden und -territorien aus dem afghanischen Staatsverband schreitet in Richtung auf die Errichtung quasi-souveräner Teilstaaten auf dem Gebiet Afghanistans fort. Vorstellbar ist die Zweiteilung des Landes in ein südafghanisch-paschtunisches Emirat unter Taliban-Herrschaft und einen nördlichen »Turk«-Staat. Offen bliebe in einer solchen Spekulation etwa die Zukunft der Hizb-i Islami Hikmatyars oder der schiitischen Hizb-i Wahdat. Diese Variente würde konföderale Strukturen zwischen beiden Landesteilen nicht grundsätzlich ausschließen, zumal dann nicht, wenn entspechender externer Druck ausgeübt würde. Angesichts der ökonomischen, logistischen und damit forwährend sicherheitspolitischen Interessen diverser Staaten an Afghanistan und der Interessen der Konfliktparteien selbst scheint dies nicht illusorisch.
  • Die internationale Staatengemeinschaft verständigt sich auf ein umfassendes Waffenembargo gegen Afghanistan, das von der UNO effektiv umgesetzt und überwacht wird, und erhöht damit den Druck auf die afghanischen Konfliktparteien, eine politische Konfliktlösung unter Vermittlung der Vereinten Nationen anzuvisieren.

Jürgen Burggraf arbeitet als Wissenschaftlicher Assistent eines Europaabgeordneten in Brüssel.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/2 Kinder und Krieg, Seite