W&F 2002/1

Algerien: zwei Seiten des Terrorismus

von Donata Kinzelbach

Berichte über die zielgerichtete Hinrichtung algerischer Intellektueller, über die Ermordung Hunderter Dorfbewohner durch Fundamentalisten und über die (Gegen-?)Gewalt des Staatsapparates sind aus unseren Presseorganen weit gehend verschwunden. Der Terroranschlag in den USA überlagert den »täglichen Terror« in Algerien und in vielen anderen Ländern. Donata Kinzelbach wirft einen Blick auf die Situation in Algerien und damit auf Ursachen des Terrorismus.
Durch Algeriens Geschichte ziehen sich Unterdrückung und Uneinigkeit wie ein roter Faden. Eine Vielzahl von Eroberungswellen haben ethnische Spuren hinterlassen: Römer, Vandalen, Araber verschiedener Stämme, Türken, Spanier und Franzosen. Die Geographie des Landes begünstigt den Individualismus noch: Das Land ist gekennzeichnet durch schroffe Hochgebirge mit unwegsamen Tälern, in denen Clans und Stämme sich von denen im – feindlichen – Nachbartal abgrenzen. Hinzu kommt eine Zersplitterung basierend auf vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen: Algerien wird u. a. bevölkert von islamischen Traditionalisten, arabischen Nationalisten, Muslimen unterschiedlicher Schulen und Riten, frankreich-orientierten Arabophonen, von Juden, nationalistischen Berbern, Berbern frankophoner Ausrichtung, christianisierten Berbern.

Diese Zersplitterung machte das Land von jeher anfällig für Kolonialismen, zuletzt den französischen, der auch in der unabhängigen Republik noch weiterlebt, denn trotz offizieller Arabisierung zählt ein französisches Diplom heute noch weit mehr als ein arabisches. Und es rächt sich die unüberlegte, qualitativ schlechte Arabisierungspolitik, die übereilt, mit importierten ägyptischen Lehrern dubioser Qualifizierung durchgeführt wurde, sodass die neue Generation zwar das Französische verloren, das Arabische aber noch lange nicht gewonnen hat.

Im Rahmen des neuen arabischen Nationalismus waren die Berber (eine Minderheit zwar, die aber mit weit mehr als 30% der Bevölkerung einen beachtlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmacht!) die eigentlichen Verlierer, denn ihre kulturellen Rechte wurden dem Nationalismus geopfert: Die Berbersprache wurde verboten. Erst nach langen, teils blutigen Konflikten ist Berber seit 1995 zweite offizielle Staatssprache; Beschwichtigungspolitik oder zu späte Einsicht, denn Lehrer für Berber gibt es nicht, Bücher oder Übersetzungen sind rar.

Solange der Freiheitskampf tobte, waren die Risse in der Gesellschaft zugekittet, aber mit der Unabhängigkeit brach das Konstrukt; die Vorstellungen vom neuen Algerien klafften zu weit auseinander. Die Befreiungsfront FLN kam an die Macht einer vom Militär kontrollierten Parteidiktatur. Ben Bella, erster Präsident, verlor sein Amt an General Boumediène, als er versuchte den Einfluss der Armee zu beschneiden. Boumediène war es auch, der alle wichtigen Industrie-, Finanz- und Handelszweige unter staatliche Kontrolle brachte. Die alten Seilschaften des Befreiungskrieges verstanden den Staat als ihre Pfründe – hatten sie ihn nicht mit ihrem eigenen Blut zum Leben erweckt, ja bezahlt? Die Erdölkrise 1973 arbeitete Boumediène in die Hände. Der Agrarsektor jedoch lag im Argen; 1980 wurden nur noch 30% des Nahrungsmittelbedarfs im eigenen Land erzeugt. Produkte mussten eingeführt werden, begannen zu fehlen. Schwarzmarkt und Korruption blühten als Folge auf. Das Regime, das soziale Unterschiede ausgleichen wollte, hatte das Gegenteil bewirkt: Während Funktionäre den privaten Swimmingpool voll Wasser hatten, gab der Wasserhahn in den Wohnungen der kleinen Leute oft stundenlang nichts her. Die Bevölkerung, an Eigeninitiative nicht gewöhnt, wartete ergeben, dass der Staat Lösungen böte. Der einstige Enthusiasmus verlor sich in Politikverdrossenheit, Sozialismus begann man mit Warteschlangen und Engpässen gleichzusetzen. Der tägliche Überlebenskampf tat sein Übriges: Mit durchschnittlich sieben Kindern brauchte eine Familie alle Energien um das nackte Überleben zu sichern. Im unterbezahlten Job arbeitete man halbherzig, da die Energie noch für zusätzliche Nebenjobs ausreichen musste. Allgemeine Demotivation und ein weit verbreiteter Schlendrian einerseits, hemmungslose Selbstbedienungsmentalität andererseits, vergesellschaftet mit Fehlbesetzungen in Schlüsselpositionen der Wirtschaft, führten zunehmend ins ökonomische Desaster. Fatal wirkte sich die Abhängigkeit von nur einem einzigen Produkt (Erdöl) aus, dessen Preis man nicht einmal selbst bestimmen konnte. Als 1985 der Erdölpreis drastisch fiel (von 30 auf 15 $/Barrel), galt es zu sparen, überall! Die Arbeitslosenquote stieg dramatisch.

Der Fundamentalismus gewinnt an Einfluss

1986 brachen Unruhen aus. Auf diesem Boden musste die Saat der Fundamentalisten zwangsläufig aufgehen: Mit billigen Schlagworten gewann man diejenigen, die sich sowieso ohne Zukunft sahen. 1988 kam es zum Generalstreik, in dessen Verlauf Jugendliche randalierten und plünderten. Die Ursachen lagen auf der Hand: Arbeitslosigkeit, leere Regale, Korruption, 26 Jahre verkrustetes FLN-Regime. In dieser Situation erhielt Algerien 1989 eine neue Verfassung, die für Überraschung sorgte: Mehrparteiensystem, Streikrecht, mehr demokratische Grundrechte, Wahrung der Menschenrechte, Liberalisierung der Wirtschaft. Aber die wirtschaftliche Öffnung kam unvorbereitet, es gab kaum Produkte, die im Ausland konkurrenzfähig waren. Und der Erdölpreis fiel weiter.

Gesellschaftspolitisch ungeübt, beflügelte die neue Perspektive dennoch: Vereine wurden gegründet, neue Zeitungen erschienen neben dem halbamtlichen El Moudjahid, das staatliche Fernsehen strahlte politische Debatten aus, im Radio gab es endlich Raï zu hören.

Etwa 30 neue Parteien entstanden. Neben der FLN konnten sich die Kommunisten (PAGS), die demokratisch orientierte Berberfront (FFS), die Bewegung für die Demokratie in Algerien (MDA), eine weitere Berberbewegung für Kultur und Demokratie (RCD) etablieren – und die Islamische Heilsfront (FIS). Obwohl das Gesetz ausschließlich religiös oder regional orientierte Parteien untersagte, ließ man sie zu, umso erstaunlicher, weil in den Nachbarländern Tunesien und Marokko fundamentalistische Parteien verboten waren. Verständlicherweise empörte man sich dort über die Entscheidung in Algier, gab sie doch Fundamentalisten im eigenen Land Auftrieb. Die ersten freien Wahlen 1990 waren ein Schock: Die FIS erhielt 54% der Stimmen, die FLN 28%. FIS-Chef Abassi Madani verkündete, er wolle „noch vor Ende des Jahres“ einen islamischen Staat errichten. Die FLN versuchte sich über eine Wahlrechtsänderung zu retten, die FIS reagierte mit Generalstreik, es gab Straßenschlachten, Panzer fuhren auf, es herrschte Ausnahmezustand. Dennoch gewann die FIS erneut. Zwar bemühte man sich Wahlbetrug nachzuweisen, der FIS den Sieg streitig zu machen, weil sie eine religiöse Vereinigung sei, was ihr im Ausland aber nur – unverdiente – Pluspunkte einspielte. Teils wurde ihre Gefahr unterschätzt, teils paktierte man mit dem potenziellen Machthaber von morgen. Die FIS überzog das Land mit einer Woge des Terrorismus. Besondere Zielgruppen wurden Intellektuelle und Freiberufler, die ideell und materiell das Regime unterstützten, sowie Journalisten. Immer mehr Intellektuelle sahen sich gezwungen ins Exil zu gehen oder zu schweigen, Algerien wurde intellektuell ausgeblutet. Ende 1993 wurden Ausländer Zielscheibe des Terrors. Ultimativ sollten sie bis zum 1.1.1994 Algerien verlassen. Von den wenigen, die blieben, wurden 70 »hingerichtet«. Aus Hilflosigkeit, aber auch unverhohlener Rache gingen Polizei und Armee dazu über, Terroristen direkt hinzurichten anstatt sie zu verhaften. Die Bevölkerung, ebenso hilflos, suchte sich durch private Aufrüstung zu schützen, gleichzeitig beutelte die mittlerweile galoppierende Inflation: Waren früher die Regale leer, so waren die Waren jetzt nur zu oft unbezahlbar. Die Arbeitslosenquote stieg über 25%. General Zeroual, ins höchste Amt gehievt, suchte den Dialog mit der FIS. Dieser umstrittene Weg – für die einen letzte Chance, für die anderen a priori verwerflich, weil man sich nicht mit Mördern an einen Tisch setzt und verhandelt – blieb erfolglos: Rabah Kebir, Sprecher der FIS im Ausland, stellte folgende Forderungen, die das Regime ablehnte, weil eine Beendigung des Terrorismus nicht gewährleistet schien:

  • Freilassung aller Gefangenen,
  • Wiederzulassung ihrer Partei,
  • Aufhebung der Sondergesetzgebung,
  • Aburteilung von Verantwortlichen von Staatsverbrechen,
  • ernsthafte Verhandlungen über die Zukunft Algeriens auf neutralem Boden.

Die Zunahme des Terrors

Während des traditionelles Fastenmonats Anfang 1997 häuften sich die Meldungen über grauenhafte Bluttaten. Der Westen gab sich schockiert, aber es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass wir in Deutschland es waren, die den Köpfen der Fundamentalisten großzügig Asyl gewährten, während England, Frankreich und Pakistan dies ablehnten.1 Das lässt unsere Tränen zu Krokodilstränen mutieren, zumal wir uns in Deutschland sicher wähnten nach dem Motto: „Lass die Unterentwickelten sich in Algerien doch ruhig die Köpfe einschlagen, zum Glück ist es ja weit genug weg, um uns nicht zu dérangieren.“2

Die deutschen Exportgeschäfte nach Algerien florierten besser denn je, was natürlich den zynischen Schluss nahe legte, dass man es sich mit dem potenziellen Machthaber von Morgen nicht verscherzen mochte.

Bendjedid trat zurück, das Parlament wurde aufgelöst, ein Hoher Staatsrat bestellt, die 1990 gewählten Kommunalvertreter der FIS durch Staatsbeamte ersetzt.

Auf ihr Verbot reagierte die FIS mit Heiligem Krieg. Man durchschnitt fünf Soldaten die Kehle – Fanal für einen Terrorismus, der ganz Algerien in Angst versetzte. Boudiaf, Symbol für nationale Versöhnung, wurde, kaum zum Präsidenten gekürt, bei einer Ansprache in Annaba ermordet. Sein Nachfolger Ex-General Zeroual begann einen undurchsichtigen Kurs zwischen Bekämpfung und Kooperation. Die demokratische Opposition sah auch in der neuen Regierung – mit je 7 Vertretern der islamistischen Bewegung für die Gesellschaft des Friedens (MSP) und der einstigen Einheitspartei Nationale Befreiungsfront (FLN) – eine gefährliche Allianz konservativ-islamistischer Kräfte.

Wer sind die Mörder?

Zwei Gruppen prägten den Krieg: die Bewaffnete Islamische Bewegung (MIA, ab 1994 unter dem Namen AIS) und die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA), die sich über Saudi-Arabien, Sudan und Schutzgelderpressung finanziert. Die Mitglieder dieser Gruppen rekrutieren sich aus den Reihen der ehemaligen Widerstandsgruppen, aus Angehörigen von Opfern staatlicher Gewalt, Kriminellen, jungen Arbeitslosen und Desperados, aus einem kleinen harten Kern religiöser Fanatiker, die ihre Kampferfahrungen in Afghanistan und Bosnien gesammelt haben.3 Dazu kommen in deren Windschatten kleine lokale Gruppen, die eigene Interessen unter dem gleichen Etikett verfolgen, sowie Spaltungen und Rivalitäten der als Kleinstgruppen operierenden Guerilla.

Welche Rolle spielt das Militär?

Auffällig oft fanden Massaker in unmittelbarer Nähe von Militärstandorten statt, ohne dass eingegriffen wurde, sodass gemutmaßt werden muss, dass das Militär nicht intervenieren wollte. Dieser Eindruck wird erhärtet durch die Tatsache, dass der Süden des Landes mit seiner einträglichen Erdölindustrie sehr wohl gesichert wurde. Hinweise auf eine Kollaboration zwischen Teilen des Militärs und Islamisten häuften sich. Ein nach Frankreich geflohener ehemaliger Offizier erklärte, dass die Massaker anfangs von Armee-Einheiten selbst initiiert worden seien. Die bestialische Arbeit hätten GIA-Kämpfer fortgesetzt, die zu diesem Zweck aus der Haft entlassen worden seien. Dies alles sollte einer Dialogpolitik, für die der gemäßigte Flügel der Armeeführung plädiert, den Boden entziehen und das Ausland für eine bedingungslose Unterstützung der algerischen Regierung einnehmen.4 Tatsächlich lässt manches auf einen regierungsinternen Machtkampf zwischen Versöhnungswilligen und »Hardlinern« schließen, so auch die Freilassung von Abassi Madani, dem Kopf der algerischen Fundamentalisten, die nur mit Zustimmung Zerouals geschehen konnte, und die Berufung eines Mann des Dialogs – General Tayeb Derradji – an die Spitze der sehr wichtigen Gendarmerie, statt eines »Hardliners«.

Auf eine noch engere Vernetzung von Militärs und Islamisten deuten die Aussagen des ehemaligen stellvertretenden Botschafters Algeriens in Libyen hin. Er behauptet, dass die islamistischen Gruppen in ihrer großen Mehrheit vom militärischen Sicherheitsdienst unterwandert seien: „Die über 200.000 Mann in 5.000 Gruppen rächen sich an all denen, die sie selbst für Islamisten halten (…) Der Terror soll die Islamische Heilsfront (FIS) bei der Bevölkerung in Verruf bringen, die einzige Kraft, die den Generälen hätte gefährlich werden können.“ Der vorgebliche Zeuge, der seit Jahren in London lebt, erklärt, radikale Militärs hätten die GIA ins Leben gerufen und seien mit ihr identisch.5 Dazu passt auch die Aussage des in den USA inhaftierten FIS-Sprechers Anouar Haddam, die Regierung in Algier gehe gegen die GIA vor um „lästige Zeugen“ loszuwerden, die einen „schmutzigen Job“ erledigt hätten. „Die Vorstellung eines kaltblütigen Zusammenwirkens von Militär und islamischen Terroristen scheint ungeheuerlich. Als gemeinsames Etappenziel ließe sich jedoch die weitere Destabilisierung der FIS und die Untergrabung einer politischen Lösung, die zweifelsohne den gewaltlosen islamischen Kräften eine Beteiligung an der Regierung zugestehen müsste, vermuten.“6

Aktiv gegen die Mörder

Besonders verdienstvoll waren seit Beginn der Terrorakte die algerischen Frauen im couragierten Kampf gegen den Fundamentalismus. In zahllosen Vereinen organisierten sie sich mit dem erklärten Ziel, dem Terror ein Ende zu setzen und den Frauen mehr Rechte zu erstreiten. Seit 1984 hatte sich die Anwendung des Familiengesetzbuches manifestiert, wonach z.B. im Falle einer Scheidung Unterkunft und Vormundschaft dem geschiedenen Vater zugesprochen werden, während das gleiche Gesetz die Frau für die Kinderbetreuung als zuständig erklärt. Sie »darf« betreuen, allerdings ohne jegliche Rechte, während der Mann über Bildung und Gesundheit wacht; er muss z.B. die Einschreibung in einer Schule oder einen chirurgischen Eingriff erlauben. Während die Verfassung die Frau für fähig erachtet, das Wahlrecht auszuüben und sie laut Bürgerlichem Gesetzbuch zum Abschluss von Verträgen befugt ist, spricht das Familiengesetzbuch ihr das Recht ab, ihre eigene Heirat abzuschließen. Als die Frauenvereinkommission in einen Aufruf, gerechtere Gesetze forderte, Gesetze, „die Frauen und Kinder nicht mehr auf die Straße setzen, Gesetze, die den Frauen nicht die Vormundschaft für ihre Kinder absprechen,“ reagierten die Islamisten prompt: Ihr erklärtes Ziel war die weitere Verschärfung bestehenden Gesetze. Die Unterzeichnerinnen leben seitdem in Angst vor Repressalien – und wie die aussehen, ist hingehend bekannt.

Die jüngsten Ereignisse in der Kabylei

Der Bevölkerung der Kabylei – den Maziren –, die mit an erster Stelle für Demokratie und Menschenrechte in Algerien und für die Befreiung von der französischen Kolonialmacht kämpften, wurde vom algerischen Militärregime stets ihre kulturelle und sprachlichen Identität abgesprochen. Eine gewisse Parallele zum Szenario im ehemaligen Jugoslawien oder zu den seit Jahrzehnten missachteten Rechten der Palästinenser drängt sich auf. Die Berber werden für die algerische Misere verantwortlich gemacht, sie sind Opfer staatlichen Terrors. Obwohl Algerien die Menschenrechte offiziell anerkennt, die »Convention on the Right of the Child« 1992 und die »Erklärung von Barcelona« 1995 unterzeichnete, verstößt das Regime täglich dagegen.

Seit dem 20. April 2001, dem 21. Jahrestag des »Berberfrühlings«, finden Demonstrationen in der Kabylei statt, bei denen bislang etwa 600 Menschen – meist Jugendliche – getötet wurden. Die Polizei setzt gezielt scharfe Munition ein.7 Offensichtlich gibt es die Order zum Töten.8 Auf die Frage, warum keine Munition aus Gummi eingesetzt werde, antwortet der Innenminister Yazid Zerhouni lapidar: „Weil wir keine haben!“ Und als wäre dies nicht genug, wird mittels Tränengas die Versorgung der meist Schwerverletzten vorsätzlich verhindert oder zumindest stark behindert.

Die Bevölkerung von Takrietz (Provinz Bejaia) berichtete am 20. Juli 2001, dass ein Offizier die Order gab, „ohne Rücksicht (zu) schießen“, was einen Gendarmen dazu veranlasste, gezielt den 14-jährigen Messalti Hafid zu exekutieren, der gerade auf der Treppe vor seinem Elternhaus stand. Die Bewohner erklärten, sie hätten das Gefühl von einem Fremden kolonialisiert zu sein, der lediglich das Ziel verfolge, sie zu zerstören: Telefon, Gas und Elektrizität werden willkürlich gekappt, das Fernsehen schweigt – insbesondere während der Sendezeit der Nachrichten, Zeitungen wurden seit Beginn der Unruhen nicht mehr geliefert.

Die deutsche Presse schweigt hierzu weitestgehend. Es gibt offensichtlich verschiedene Kategorien von Opfern: Die weltweite Welle der Sympathie und Anteilnahme, die Amerika zur Zeit erfährt, ist den Algeriern niemals entgegengebracht worden.

So lange Algerier Algerier bekämpfen, kann dieses Land nicht zur Ruhe kommen. Vorrangiges Ziel muss also sein, die Berber und deren Sprache ernsthaft anzuerkennen und sie als gleichberechtigte Landsleute zu akzeptieren. Im Oktober forderte deshalb die »World Amazigh Action Coalition« (Weltweite Koalition zum Schutz der Berber) in einer Petition an den Präsidenten von Algerien und die UNO die Autonomie der Kabylei. Wörtlich heißt es darin: „Um eine Wiederholung dieser Massaker zu verhindern, unsere Region unter Schutz zu stellen vor der vom Staat ausgeübten Gewalt, unserer Jugend eine Zukunft in Frieden und Wohlstand zu gerantieren, unsere Sprache, Identität und Kultur zu pflegen… verlangen (wir) für die Kabylei, (…) ein weitgefasstes Autonomiestatut mit der Perspektive eines Bundesstaates.“

Fazit

Der Weg aus der Misere ist schwierig und sicherlich lang, einige Vorraussetzungen scheinen jedoch unabdingbar. Dazu gehören: Trennung von Staat und Religion, wirtschaftliche Konsolidierung über mehr Motivation – damit weniger Schwarzmarkt und Korruption –, mehr Toleranz untereinander und ein größeres Vertrauen der Algerier in sich selbst. Letzteres kann allerdings nur dann erzielt werden, wenn die multiplen algerischen Splittergruppen sich gegenseitig mit Respekt begegnen – und wenn der Westen dies auch tut. Presse, Menschenrechtsorganisationen und NGOs sind hier gefragt. Außerdem bedarf es einer verbesserten Informationslage in den nicht-islamischen Ländern über den Islam, damit das zuweilen sehr verschwommene Bild einem detaillierteren weicht – und damit der Weg für mehr Verständnis geebnet und die weit verbreitete Xenophobie abgebaut werden kann.

Der tunesische Soziologe und Kolonialismusexperte Albert Memmi9 fordert deswegen unnachgiebig: „Europäische Demokraten sollten lauter ihre Solidarität mit den algerischen Demokraten manifestieren und offener ihre Gegner verurteilen. Der Pseudo-Respekt vor jungen Nationen darf nicht jegliche internationale Pflicht vergessen lassen. Die algerische Bevölkerung muss mit allen Mitteln gerettet werden, notfalls gegen ihren Willen.“10

Literatur:

Rachid Boudjedra: Prinzip Hass, Mainz 1993.

Christoph Burgmer: Der Islam, Frankfurt 1998.

Albert Camus: Der erste Mensch. Reinbek 1995.

Norman Daniel: Islam and the West. The Making of an Image. Edinburgh 1960.

Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz 1998.

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu Rachid Boudjedra: Prinzip Hass. Pamphlet gegen den Fundamentalismus im Maghreb, Mainz 1992.

2) Rachid Boudjedra in einem Interview am 26.6.1995. Das Interview führte Donata Kinzelbach.

3) Vgl. hierzu Verena Klemm: Algerien zwischen Militär und Islamismus. In: Donata Kinzelbach (Hrsg.): Tatort: Algerien, Mainz, 1998.

4) ARD-Tagesthemen, 7.1.1998, s.a. The Observer vom 11.1.1998.

5) Reiner Wandler : Algeriens Militärs kennen die Mörder. In: die tageszeitung, 3.2.1998, S. 3.

6) Verena Klemm, a.a.O., S. 157.

7) Vgl. hierzu : They Shoot with Real Bullets. In: Le Matin Newspaper, April 30, 2001. Siehe auch M.B.: Kabylia: Physicians‘ Testimonials Are Overwhelming: They Shoot to Kill. In: Liberté Newspaper, May 8, 2001.

8) Farid Alilat u. Nadir Benseba: Inquiry into the Events of Kabylia. In: Le Matin Newspaper, May 15, 2001.

9) Der tunesische Jude Albert Memmi (geb. 1920 in Tunis) lehrte als Soziologieprofessor an der Universität von Paris, wo er heute noch lebt und schreibt. Durch eine Vielzahl von Publikationen errang er sowohl auf soziologischem als auch auf belletristischem Gebiet internationalen Ruhm. Neben Frantz Fanon gilt er als der bedeutendste Kolonialismusforscher.

10) Albert Memmi: Für Algerien. Nationalismus und Internationalismus. In: Tatort: Algerien, a.a.O.

Donata Kinzelbach ist Verlegerin von Literatur aus dem Maghreb und freie Journalistin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/1 Terror – Krieg – Kriegsterror, Seite