W&F 2003/2

Alternative Europa?

Wer oder was stoppt den US-Unilateralismus?

von Johannes M. Becker

Ein seltsames Gespenst geistert durch Talk-Shows, ja auch durch die Überlegungen vieler nüchterner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen: Eine stark gerüstete Europäische Union sei notwendig, um dem Aufmarsch der USA (und der Briten) gegen den Irak, um der unverhohlenen Kriegstreiberei der dominierenden Kraft der »neuen Weltordnung« und ihrer Politik der »permanenten Intervention« Einhalt zu gebieten. Unter Verweis auf die Situation der Zeit vor der Auflösung der Warschauer-Vertrags-Organisation (WVO) wird in der krisenreichen Lage des Frühjahrs 2003 das Fehlen eines starken sicherheitspolitischen Faktors Westeuropa/Europäische Union beklagt.
In der Tat ist die Europäische Union (EU) in einer seltsamen Lage. Einerseits ist sie gerade dabei, durch ihre Erweiterung auf 25, später gar 28, Staaten zum größten politischen und wirtschaftlichen Bündnis der Erde zu werden – weitaus größer als die unmittelbaren Konkurrenten USA und Japan. Über 500 Millionen ProduzentInnen und KonsumentInnen werden in wenigen Jahren in einem gemeinsamen Markt leben, werden eine wachsende Reihe von Politikbereichen aufeinander abstimmen, werden sich weitgehend der Politik der Europäischen Zentralbank verpflichtet fühlen, werden die bereits heute erhebliche Einflusszone des EURO fortwährend ausweiten.

Andererseits tut sich diese EU schwer, eine gemeinsame Sprache in der Außen- und Sicherheitspolitik zu finden:

  • Der zu Beginn der 90er Jahre entfachte jugoslawische Bürgerkrieg machte zum ersten Mal diese Lage deutlich. Seinerzeit wurde in erster Linie von einem Manko an militärischen und sicherheitspolitischen Mitteln auf Seiten der EU gesprochen, in Wirklichkeit waren aber die unterschiedlichen Interessen der EU-Kernländer verantwortlich für die Nicht-Präsenz Brüssels auf dem Balkan: Frankreich und Großbritannien (wie im übrigen auch die USA und die UNO) widersetzten sich anfänglich vehement der Anerkennungs- und damit Separationspolitik der Kohl-Genscher-Regierung in Jugoslawien.
  • Beim NATO-Bombardement auf Jugoslawien 19991 war die EU dann in einer anderen Lage: Die EU-Staaten waren mehr oder weniger euphorisch auf der Seite der USA, die ihrerseits die neue Unilateralität in der Sicherheitspolitik erstmals in größerem Rahmen ausspielte. Im Verlauf dieses völkerrechtswidrigen Krieges mussten die europäischen Staaten jedoch spezifische Abhängigkeiten von den USA schmerzlich zur Kenntnis nehmen, die über die oben angesprochenen differierenden politischen Interessen hinausgingen. Diese Abhängigkeiten betrafen vor allem Truppentransport- und Informationskapazitäten. Der französische Verteidigungsminister Védrine bezichtigte die USA nach dem Ende des Krieges gegen Jugoslawien in selten gehörter Schärfe vor der französischen Nationalversammlung, einen Krieg „über weite Strecken an den Interessen ihrer Verbündeten vorbei“ geführt zu haben.

Ein Blick zurück in die Geschichte nach 1945

Die westeuropäischen Kernstaaten taten sich nach 1945 schwer, sich auf eine abgestimmte Sicherheitspolitik zu einigen. Nachdem Frankreich 1954/55 die bittere Pille der deutschen Wiederbewaffnung2 geschluckt hatte, begann ein Ringen um die Ausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik.

  • Paris versuchte fortwährend, die 1948 gegründete WEU (Westeuropäische Union, seinerzeit gegen einen potentiell wiedererstarkten deutschen Militarismus gegründet!) als Instrumentarium einer von Frankreich geführten europäischen sicherheitspolitischen Identität aufzubauen. Die WEU hatte und hat den Vorteil, dass sie ohne US-Einfluss agieren kann.
  • Bonn favorisierte dagegen eindeutig eine US-Orientierung und legte den deutlichen Schwerpunkt der Sicherheitspolitik auf die US-geführte NATO. Deutlichster Ausdruck der bundesdeutschen Haltung waren die Verhandlungen um den »Deutsch-französischen Vertrag über Zusammenarbeit« (Elysée-Vertrag) von 1963. Das Frankreich de Gaulles hatte vergeblich versucht, die EWG zu einer politischen Union, freilich unter französischer Führung, zu entwickeln (u.a. Fouchet-Pläne). Die Bundesrepublik wollte unbedingt die USA- und NATO-Orientierung betonen, andere Staaten wollten nur wenig von ihrer Souveränität aufgeben; andere wiederum wollten Großbritannien in die EWG integrieren, um einer möglichen französisch-deutschen Hegemonie zu begegnen. Der in diesem Jahr 2003 so hochgelobte Elysée-Vertrag dokumentiert die Niederlage de Gaulles und der »Europäer«: Es wurde nämlich dem Vertrag eine Präambel hinzugefügt, in der die Priorität der US- und der NATO-Orientierung der BRD sowie die Einbeziehung Großbritanniens in den weiteren europäischen Einigungsweg bekräftigt wurden. Auch die USA hatten auf diese Präambel gedrängt.

Diese Interessendifferenz sollte bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes andauern. Selbst Versuchsballons wie die Gründung der deutsch-französischen Brigade oder des Euro-Korps, beide nicht von großer militärischer Relevanz, unterstanden der Frage:

  • Wie weit ist Frankreich bereit, sich (nach dem Austritt aus der militärischen Integration der NATO, 1966) wieder dem US-dominierten Bündnis anzunähern? Versus:
  • Wie weit ist die Bundesrepublik bereit, von den USA und von der NATO unabhängige europäische Wege zu gehen?

Neue Konstellationen nach 1990

Der Zusammenbruch von UdSSR und WVO sowie die deutsche Einigung brachten Bewegung in das westeuropäische sicherheitspolitische Kräftespiel. In den politischen Klassen Frankreichs, Großbritanniens und der USA herrschte eine Zeitlang Ungewissheit über den weiteren, vor allem europapolitischen Kurs der nun – mit 82 Millionen Menschen – größten und wirtschaftlich leistungsfähigsten Nation der EU. »Großdeutschland« wurde für eine kurze Zeit zum geflügelten Wort in Pariser und Londoner Medien.

Wesentlich Frankreichs Staatspräsident Mitterrand ergriff die Initiative und band die Bundesrepublik über den

  • Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 (»Maastricht II«) mit einer »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« (GASP) als eigenständige Säule beim Bau des europäischen Hauses sowie
  • über die Pläne zur Einführung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik (»EURO«)

stärker und endgültig an die EU. Vorausgegangen waren Fehlschläge Frankreichs und der übrigen Staaten der EU, via Treuhand stärker vom Integrationsprozess der DDR in die BRD zu profitieren.

Der Jugoslawienkrieg als Einschnitt

Der Jugoslawienkrieg des Jahres 1999 leitete eine qualitative Wende ein bei der sicherheitspolitischen Einigung und bei der Bewaffnung der Europäischen Union:3

  • Einige Länder (oder auch nur politische Fraktionen innerhalb einz. Länder) fühlten sich von den USA gegen ihren Willen in diesen Krieg hineingezogen.
  • Einige Länder (so u.a. Deutschland, Frankreich) beklagten die Informationspolitik der NATO-Führungsmacht USA während des Bombardements.
  • Einige Länder bezichtigten die USA gar eines „über weite Strecken an den Interessen ihrer Verbündeten vorbei“ geführten Krieges, so Frankreich.
  • Schließlich wurde in Jugoslawien wie im Golfkrieg gegen den Irak 1991 wieder die objektive Abhängigkeit der Europäischen Staaten von den USA deutlich – vor allem in der Informationsbeschaffung und im Transportwesen.

Als längerfristiges Konfliktpotential musste die US-Planung einer National Missile Defense (NMD), das wieder aufgreifen der alten Pläne zur Weltraummilitarisierung, angesehen werden.

Die EU zog auf ihrem Gipfel von Helsinki 1999 vielfältige Konsequenzen, u.a.:

  • Es wurde der Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe beschlossen. Diese soll (ab Mitte des Jahrzehnts) 60.000 Soldaten umfassen und innerhalb weniger Wochen einsatzbereit sein. Der Aktionsradius soll 4.000 km um Brüssel herum betragen.
  • Die Forcierung des Baus des weltraumgestützten Helios-Systems soll die EU-Defizite in der Informationsbeschaffung beseitigen.
  • Das westeuropäische Konsortium AIRBUS wird nun einen militärischen Transporter, den A 400M, herstellen.
  • Das Prinzip der Einstimmigkeit innerhalb der EU in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wird aufgeweicht. Insbesondere den neutralen Ländern wird dadurch die Möglichkeit der Nicht-Teilnahme an einzelnen Konflikten offengehalten.
  • Die EU sollte, so die Idee von Helsinki, ursprünglich weitgehend eigenständige Führungs-Strukturen neben denen der NATO aufbauen mit einen Militärstab, einen Militärausschuss mit den Generalstabschefs der EU-Länder und einem politischen Ausschuss.

Auch sicherheitspolitisch wurde damit der Wettbewerb mit den USA eröffnet. Wenn man z.B. berücksichtigt, dass die Planungen der GASP bis 1999 noch den Kauf US-amerikanischer Transportflugzeuge durch die EU-Staaten vorgesehen hatten, wird der Einschnitt Jugoslawienkrieg, die neue Konkurrenz auch in rüstungspolitischer Hinsicht, noch deutlicher.

USA drängt NATO ins EU-Konstrukt

In der zweiten Hälfte des Jahres 2002 überraschten die USA die EU-Staaten mit ihrer Forderung nach dem Aufbau einer »Schnellen Eingreiftruppe« der NATO. Auf „Abwehr des internationalen Terrors“ lautete die Begründung.

Die europäischen NATO-Partner stimmten zu. Das Problem für das Gros der beteiligten Staaten war und ist, dass ihre Truppen nicht ausreichen, um sich zum einen an den verschiedenen laufenden »Friedensmissionen«, zum anderen an der »Schnellen Eingreiftruppe« der EU (GASP) und nun auch noch der »Task force« der NATO gleichzeitig zu beteiligen.

Hinzu kamen Probleme im Verhältnis der NATO- ( aber nicht EU-)Partner Griechenland und Türkei. Die Türkei hatte verlangt, dass Zypern, demnächst EU-Mitglied, von der Kooperation in der EU-Truppe ausgeschlossen werden sollte.

Derzeitiger Stand (März 2003) ist, dass die Eingreiftruppe der NATO früher gebildet wird als die der EU und dass gleichzeitig die EU-Truppe, dies nicht ohne Druck von Seiten der USA, auf den Aufbau eigener Führungsstrukturen verzichtet. Die EU hat nun Zugriff auf die Führungsstrukturen der NATO bspw. im belgischen Mons, auf Aufklärungsmittel, die Mittelmeerflotte und die Treibstoffpipelines der NATO.

Im Zuge des EU-Reformkonvents wurden von EU-Kommissar Michel Barnier weitreichende Ziele für die GASP, neuerdings auch als ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) bezeichnet, genannt: Barnier schlug eine militärische Beistandspflicht vor, die aber neben den neutralen EU-Mitgliedern (Finnland, Irland, Österreich und Schweden) auch von der NATO abgelehnt wurde;4 letztere pochte auf die in ihrem Statut bereits fixierte Beistandspflicht. Geeinigt hat sich die Arbeitsgruppe »Verteidigung« des EU-Reformkonvents unter Giscard d´Estaing auf eine »Solidaritätsklausel«, „…durch den Einsatz des gesamten notwendigen – militärischen und zivilen – Instrumentariums insbesondere den terroristischen Bedrohungen innerhalb der Union zuvorzukommen und auf sie zu reagieren.“ Und weiter heißt es in dem Entwurf der Kommission, diese Klausel wäre keine kollektive Verteidigungsklausel, die zum militärischen Beistand verpflichte.Die Vorstellungen Frankreichs und Deutschlands bei der Reform der EU gingen freilich weiter: Die Außenminister de Villepin und Fischer formulierten in einem gemeinsamen Beitrag für den Konvent5 ihren Vorschlag einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Union«, die „die Sicherheit ihres Gebiets und ihrer Bevölkerungen gewährleisten und zur Stabilität ihres strategischen Umfelds beitragen“ solle. Unmittelbares Resultat der Vorschläge der beiden Außenminister ist die Aufnahme der Planung einer »Europäischen Agentur für Rüstung und strategische Forschung« in den Abschlussbericht der AG Verteidigung des EU-Reformkonvents.

Hier wird erneut eine Konkurrenzstellung der führenden EU-Länder gegenüber den USA sichtbar: Die EU-Staaten können mit einem Synergieeffekt in Höhe von jährlich 100 Mrd. Euro (FAZ vom 13.2.2003) bei einer koordinierten Rüstung rechnen – das Vierfache des jährlichen Rüstungshaushaltes der Bundesrepublik Deutschland. Derzeit kaufen viele EU-Staaten noch große Mengen Rüstung in den USA.

Noch in einem weiteren Punkt mischten sich die USA in EU-Geschicke ein: Sie animierten im Januar 2003 im Zusammenhang mit dem US-Kriegs-Aufmarsch gegen den Irak acht Länder zu einer interventionsfreudigen Erklärung, die den beiden kriegskritischen Kernstaaten der EU, Frankreich und Deutschland politisch in den Rücken fiel. Paris und Berlin fanden ihrerseits mit der russischen und chinesischen Regierung zwei US-kritische Partner. Michel Barnier kritisierte die Kriegsbefürworter unter den EU-Beitrittsländern mit dem Hinweis, diese könnten nicht Milliardenhilfen aus Brüssel beanspruchen, wenn sie gleichzeitig Rüstungsgüter in den USA kauften (FAZ v. 26.2.2003) und bestärkte damit die heftige Kritik von Seiten des französischen Staatspräsidenten Chirac. Die US-Regierung Bush ihrerseits unternahm große Anstrengungen, die nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates mit finanziellen Versprechungen für eine Kriegsresolution zu gewinnen.

Die Bundeswehr wird interventionsfähig

Auch wenn sich insbesondere die französische Seite fortwährend beklagt über Verzögerungen bei deutschen und bei deutsch-französischen Rüstungsvorhaben6, auch wenn der Rüstungshaushalt der Bundesrepublik nicht den Ansprüchen der Bundeswehrführung entspricht, so darf doch nicht übersehen werden, dass die für die Militarisierung der EU notwendige Umrüstung des deutschen Militärs in vollem Gange ist. Verteidigungsminister Struck sprach Mitte Februar (FAZ v. 24.2.2003) zum wiederholten Male von der „Wahrnehmung deutscher Interessen am Hindukusch“.

Die Bundeswehr wird zielstrebig umgebaut. Da eine hochmobile, interventionsfähige high-tech-Armee keine Truppen- und Panzermassen mehr braucht, werden Hunderte von Leopard-Kampfpanzern zur Zeit »verscherbelt«, u.a. an die Türkei und in Entwicklungsländer. Nicht mehr die Erwartung eines Massenangriffs aus dem Osten bestimmt das Selbstverständnis der quantitativ verkleinerten Bundeswehr (und der im Entstehen begriffenen Schnellen Eingreiftruppe der EU). Rasche Einsätze mit wenigen tausend Soldaten zur Sicherung bspw. »unserer« Öl- oder Erdgasquellen werden die Militärpolitik der Zukunft ausmachen.

Die Reduktion der deutschen Truppenstärke wird noch weitergehen, in wenigen Jahren wird die Bundeswehr eine professionelle Armee sein. Die Wehrpflicht wird derzeit einzig aufrecht erhalten, um für die dringend benötigten Zeit- und Berufssoldaten ein besseres Rekrutierungsfeld zu haben.

Vielleicht die wichtigste Aufgabe ist der politischen wie der militärischen Führung der Bundesrepublik, gleichwohl ob konservativ oder sozialdemokratisch dominiert, in den vergangenen 15 Jahren nahezu lautlos gelungen: Die Herstellung einer neuen Legitimationsbasis für die Bundeswehr nach dem Fortfall des Feindbildes »Sowjetunion/Sozialismus/Kommunismus«. Der Übergang von der weitgehend einer Zivillogik verpflichteten Sicherheitspolitik zur Interventionsfähigkeit, also zur Militärlogik, ist im Massenbewusstsein, unabhängig von der derzeitigen Opposition gegen den US-Krieg gegen den Irak, verankert. Der Gedanke der Verteidigung ist passé, die Wahrnehmung von Deutschlands Interessen, so scheint es, beginnt am Hindukusch.

Die neue Konkurrenz zweier »imperialer« Mächte

Ein Vergleich mit der Zeit des Kalten Kriegs und des atomaren Patts der 70er und 80er Jahre hinkt an einer entscheidenden Stelle: Die USA und EU sitzen politisch und ökonomisch in einem, dem kapitalistischen Boot. Beide Mächte verfolgen Hegemonieabsichten und unterstehen dem starken Druck gigantischer, heute supranational organisierter, privater Konzerne, die bspw. ein Interesse an der Erschließung von Öl- oder Gas-Feldern haben, ein Interesse an Rüstungsexporten, ein Interesse an der Abschottung ihrer Märkte gegen Importe aus den Entwicklungsländer u.v.m. In Paris bspw. heißt es in der politischen Klasse unverhohlen: Was haben die USA im Irak verloren? Wenn der Irak schon nicht russisches Einflussgebiet ist, dann doch bitte französisches!

Es bestünde also bei einer weiteren Militarisierung der EU die Gefahr einer ökonomischen und politischen Neuaufteilung der Erde unter den Führungsmächten der Welt des »freien« Handels. Wobei sehr in Frage zu stellen ist, ob eine derartige Neuaufteilung die Erde friedlicher machen würde.

Die möglichen Alternativen

Eine militärische »Gleichberechtigung« der EU mit den USA kann nicht das Ziel einer auf allseitigen Interessenausgleich angelegten europäischen Sicherheitspolitik sein. Die immer mächtiger werdende EU muss sich zügig von der Politikanlage der USA mit der »permanenten Intervention« und mit ihrem (oben nur an einem Beispiel aufgezeigten) Prinzip des »divide et impera« abgrenzen und eine neue Entwicklungs- und Handelspolitik (Entwicklungshilfe, fairer Handel, Entschuldung etc.), eine andere Logik in den internationalen Beziehungen vorgeben. Dies entspricht den Erfordernissen einer Erde, auf der täglich 60.000 Menschen verhungern und weitere 25.000 Menschen allein infolge verunreinigten Wassers ihr Augenlicht verlieren, eher als Hochrüstung und Hegemonialpolitik. Und die EU-Staaten sind mit ihren traditionellen Verbindungen zu einer Vielzahl von Entwicklungsländern hierzu geradezu prädestiniert.

Die EU-Staaten müssen die UNO oder besser noch: die OSZE animieren, eine Nah-Ost-Konferenz einzuberufen mit den drei Themen Irak, Kurdistan (d.h. das Irakisch-Türkische Problem) und Palästina-Israel. Einschließlich des Irak und mit Teilnehmern aus den Staaten des Nahen Ostens und der EU oder einem neutralen Staat (Finnland, wg. Helsinki 1973 ff.) als Mittler. Die aggressive Politik Israels gegen Palästina stabilisiert nämlich nicht unwesentlich die häufig autoritären Regime in den arabischen Staaten.

Mögliche anzustrebende Ergebnisse für den Irak wären:7

  • Eine Föderation des Irak in einen kurdischen, sunnitischen und schiitischen Staat (mit langen Übergangsfristen).
  • Ein dauerhaftes UN-Inspektionsregime für Massenvernichtungswaffen, das sich auch auf Israel erstreckt.
  • Aufhebung der Sanktionen, Nothilfemaßnahmen gegen den Hunger, gegen die Strahlenschäden infolge der DU-Munition etc.8

Eigenartig in diesem Zusammenhang: Die OSZE scheint nach ihrer wichtigen Rolle (damals als KSZE) im Kalten Krieg an Bedeutung verloren zu haben. Sie passt offenbar nicht in das interventionsbereite Denken der neuen westeuropäischen sicherheitspolitischen Identität hinein. Dabei wäre ihr Vorteil: Alle europäischen Staaten gehören ihr an, inklusive Russland sowie auch die USA. Die OSZE hat allerdings keine militärische Komponente.9

Statt militärisch innerhalb der EU aufzurüsten, sollten Deutschland und Frankreich die Initiative zur Initiierung einer internationalen Ölkonferenz ergreifen. „In ihr könnten Vorschläge für ein weltweit gerechtes Ölregime unterbreitet werden, das keiner anderen Gewalt als der UNO unterstünde.“ (»Freitag« vom 31.1.2003)

Die EU-Staaten sollten rasch ihre wirtschaftliche und diplomatische Präsenz im Irak steigern. Jeder Abrüstungsschritt des Irak, jeder Schritt zu einer Verbesserung der Achtung der Menschenrechte sollte mit Investitionen beantwortet, gleichsam »belohnt«, werden. Das Handelsembargo muss rasch abgebaut werden.10 Hingegen müssen die EU-Staaten alle Unternehmen strengstens verfolgen, die fortwährend Rüstungs- oder rüstungsrelevante Güter in Krisengebiete exportieren. Die Beendigung des Rüstungsexports und der Proliferation sind Schlüsselforderungen für eine neue, nicht-interventionistische Weltordnung!

In Europa muss schließlich nachgedacht werden über einen massiven Boykott von US-Produkten. Man sei erinnert an die Boykotte gegen das rassistische Regime in Südafrika, gegen die »Shell« in der Nordsee, gegen Frankreich bei den A-Waffenversuchen von 1995 etc. Der Boykott sollte Großbritannien mit einschließen. Anders als beim Irak-Embargo verhungerten hier keine Kinder.

Fazit

Es wäre zu wünschen, dass die Europäische Union, und in ihrem Kern Frankreich und Deutschland, ihr in einem langen Prozess entstandenes und fortwährend weiter wachsendes politisch und wirtschaftliches Gewicht einsetzen, um Konflikte mit nicht-militärischen Mitteln zu lösen. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund, dass mehr als vier Fünftel der Konflikte aus der unterschiedlichen Verteilung des Reichtums auf der Erde entstehen. Die gerade erst gewonnene (und bislang tragende) deutsch-französische Einigkeit in der Frage des Irak-Krieges könnte genutzt werden zu einer grundsätzlichen Wende in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Leider ist diese Aussicht jedoch nicht sehr wahrscheinlich, denn zu den aufgezeigten ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Konkurrenzmacht EU kommen zwei Faktoren erschwerend hinzu: Zum einen ist die französische Außen- und Sicherheitspolitik11 seit Jahrzehnten prinzipiell interventionistisch angelegt und ob bei der „Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch“ nur an gewaltfreie Mittel gedacht wird, daran lässt sich auch sehr zweifeln.

Anmerkungen

1) Siehe hierzu: Becker, J. M. / Brücher, G. (Hrsg.): Der Jugoslawienkrieg. Eine Zwischenbilanz, Münster, LIT-Verlag, 2. Aufl., 2001.

2) Siehe hierzu: Becker, J. M.: Die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und das deutsch-französische Verhältnis, Marburg, Hitzeroth, Restex. beim Verf., 1987.

3) Siehe auch IMI-Analyse 2003/006 von Dirk Eckert: Europäische Kriegs-Union, www.imi-online.de

4) IMI-Analyse 2003/006 , s.o.

5) Zit. nach: IMI-Analyse von D. Eckert, s.o.

6) Ich empfehle hierzu den Informationsbrief und home-page der Französischen Botschaft: www.Frankreich-Botschaft.de. Siehe auch das Interview mit Verteidigungsministerin Alliot-Marie in FAZ v. 8.2.2003.

7) Siehe Johan Galtung in: ND vom 8./9.02.2003.

8) (steht oben im Text).

9) Der vielfach erklärte Wille, diese Organisation zu stärken, steht jedoch zunächst nur auf dem Papier. Zuletzt wurde dies deutlich im Jugoslawien-Krieg 1999. Hier sahen sich die Mitgliedsländer nicht in der Lage, 2.000 OSZE-MitarbeiterInnen nach Jugoslawien zu entsenden, dann jedoch war in Kürze eine große Armee zum Bombardement gegen die Republik Jugoslawien zusammengestellt…

10) Siehe auch Jan Oberg in junge Welt vom 4.12.2002.

11) Siehe hierzu aktuell: Becker, J. M. / Dubellé, P. u.a. (Hrsg.): Jugend, Streitkräfte und europäische Sicherheit. Arbeitstexte des Office Franco-Allemand pour la Jeunesse, Paris 2003, www.ofaj.org

PD Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, er ist Mitglied im Vorstand von W&F

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/2 Machtfragen, Seite