W&F 1989/4

Altes und neues Giftgas in der Bundesrepublik

von Wolfgang Bartels

Hinter Stacheldraht und beschützt von bewaffneten Patrouillen lagern im Pfälzer Wald, zwischen Ludwigswinkel und Petersbächel, rund 4000 Tonnen Giftgas-Munition der US-Streitkräfte – so behaupten immer wieder Friedensforscher und Presseberichte aus aller Welt.

Die Amerikaner und auch die Bundesregierung haben jedoch die Lagerung von Giftgas im »Fischbach Army Depot« nie offiziell zugegeben. Für beide gilt die Devise, die Existenz von Giftgas-Lagern weder zu bestätigen, noch zu dementieren. Anfang der achtziger Jahre wurden jedoch Fotos aus dem Fischbacher Depot veröffentlicht, auf denen Spezialgebäude für den Umgang mit chemischen Kampfstoffen und die Dekontamination (Entgiftung) zweier Soldaten, die das Gebäude verlassen, zu erkennen sind. Die Munitionsiglus sind zudem mit eigenartigen Luftschleusen versehen, was bei konventionellen oder nuklearen Munitionsbunkern völlig ungewöhnlich wäre. Selbst die US-Soldatenzeitung »Stars and Stripes« räumte mittlerweile ein, daß das Fischbach Army Depot „nach Berichten das größte Chemiewaffenlager in Europa ist“.1

Die Geheimhaltung, die die Amerikaner in der Bundesrepublik betreiben, widerspricht völlig der Praxis, die sie im eigenen Land pflegen. In öffentlich zugänglichen Unterlagen des Pentagon werden nicht nur die Namen der acht C-Waffen-Depots in den USA genannt, sondern es werden auch noch genaue Skizzen mit den einzelnen Lagergebäuden und Angaben zur Art der gelagerten Giftgase publiziert. Für C-Waffen-Lager außerhalb der USA gelten jedoch andere Regeln; diese sind geheimzuhalten. In einer Army-Anweisung heißt es dazu: „Der alleinige Fakt, daß die Vereinigten Staaten Vorräte von tödlichen C-Waffen in Deutschland unterhalten, ist offen. Die Geheimhaltung betrifft die genaue Örtlichkeit.“ 2

Altes Giftgas ist militärisch unbrauchbar

Der Zustand der sowohl in den USA wie auch in der Bundesrepublik gelagerten Giftgas-Munition bereitet der US Army zunehmend Sorge. Schon vor über fünf Jahren kam eine Expertengruppe des Pentagon zu der Feststellung, daß zwar „die Munitionskomponenten noch in relativ guter Verfassung sind“, jedoch die chemischen Wirkstoffe „einer katastrophalen Zersetzung unterliegen könnten, so daß die Munition ab 1990 völlig unbrauchbar wird“.3 Einige Jahre später, im Frühjahr 1988, berichtete der demokratische Senator John Glenn bereits, daß bei den in den USA gelagerten Vorräten pro Jahr bis zu tausend undichter Stellen entdeckt würden. Der Zustand der C-Waffen sei „ein ernstes Problem“, das sich mit zunehmendem Alter der Waffen nicht verbessere.4

Demgegenüber behauptet die Bundesregierung in einem Brief an den Dahner Verbandsgemeinderat: „Von der in der Bundesrepublik derzeit noch gelagerten chemischen Munition der USA geht keine Gefährdung für die Bevölkerung aus.“ 5 Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, warum der Zustand des hiesigen Giftgases wesentlich besser sein soll als in den USA. Immerhin herrscht an den amerikanischen Lagerorten durchgängig ein trockenes Wüstenklima, während die Munition hier einem feuchten, korrosionsverstärkenden Wetter ausgesetzt ist.

Seit einigen Jahren ist die US Army der Auffassung, daß die eingelagerte Giftgas-Munition gar nicht mehr militärisch eingesetzt werden kann, weil jeder Versuch einer Handhabung oder eines Transport in einer Katastrophe enden könnte, die die eigenen Mannschaften gefährden würde. Seit längerer Zeit ist auf dem Boden der USA daher jeder Giftgas-Transport untersagt. Die Streitkräfte drängen darauf, daß möglichst schnell eine neue Generation chemischer Waffen produziert wird, deren Handhabung ein geringeres Risiko bieten soll – die »binäre Munition«.

Der geplante Abzug der amerikanischen Altbestände chemischer Kampfstoffe hat also nichts mit Abrüstung zu tun, sondern es geht darum, militärisch nicht mehr einsetzbare C-Munition durch eine neue Generation zu ersetzen.

Zur Vernichtung der Altbestände

Die Bestände an altem Giftgas sollen vernichtet werden. Die in der Bundesrepublik lagernden C-Waffen-Vorräte sollen abgezogen werden, wie Präsident Reagan und Bundeskanzler Kohl im Mai 1986 am Rande des Tokioter Wirtschaftsgipfels mündlich vereinbarten. Damals wurde als Abzugstermin noch „spätestens bis Ende 1992“ genannt.6 In einer Regierungserklärung am 27. April 1989 verkündete Kohl, Präsident Bush habe nunmehr zugesagt, alle chemischen Waffen „bis Ende 1990“ abzuziehen.7

Später berichtete die »Washington Post«, diese Ankündigung habe bei den Verantwortlichen in der US-Regierung Überraschung ausgelöst. Kohls Bemerkung sei durch keinerlei Vereinbarung abgedeckt. Da der Kanzler jedoch einer bedrohlichen Wahl im nächsten Jahr entgegensehe, habe Außenminister Baker erklärt, eine Beschleunigung des Abzugs werde geprüft. Zuständige Beamte im Pentagon hätten jedoch darauf aufmerksam gemacht, daß nunmehr die Untersuchungen über Umweltgefahren beim Abtransport innerhalb von 30 Tagen abgeschlossen sein müßten; normalerweise seien dazu 18 Monate erforderlich.8

Die C-Waffenbestände aus der Bundesrepublik sollen auf das Johnston Atoll im Pazifischen Ozean verbracht und dort vernichtet werden.9 Einzelheiten des Abzugs werden jedoch von der Bundesregierung geheimgehalten. Völlig anders ist die entsprechende Praxis in den USA. Im Januar 1988 hat die US Army eine umfangreiche Umweltverträglichkeitsstudie zur Beseitigung der C-Waffen-Altbestände vorgelegt.10

Die wichtigsten Ergebnisse der Pentagon-Studie sind:

  • Für die USA selbst wurde jeder Transport als so gefährlich eingestuft, daß sich die Army für eine Verbrennung „an Ort und Stelle“ entschieden hat.
  • Mit der betroffenen Öffentlichkeit hat eine umfassende Diskussion stattgefunden, der die Army bei ihren weiteren Planungen Rechnung tragen muß.
  • Die betroffenen Behörden der unteren Ebenen wurden in die Planung umfassend einbezogen, besonders hinsichtlich des Gesundheitsschutzes und des Umweltschutzes.
  • Gemeinsam mit den betroffenen Behörden der unteren Ebenen wurden und werden umfassende Katastrophenpläne entwickelt.

Gegenüber der bundesdeutschen Öffentlichkeit begnügt sich dagegen die Bundesregierung mit dem Hinweis, die chemische Munition in der Bundesrepublik sei sicher gelagert und könne sicher transportiert werden.11

Auch über mögliche Transportwege für den Abzug des Giftgases werden keinerlei Aussagen gemacht. Dazu ist festzuhalten: Das Fischbach Army Depot verfügt über keinen Eisenbahnanschluß. Die Eisenbahnlinie endet in Wieslautern-Bundenthal, rund 12 Kilometer vom Depot entfernt. In den USA wurde der Eisenbahntransport – falls überhaupt transportiert werden sollte – als sicherste Variante bezeichnet.

Wie soll das Giftgas nun abtransportiert werden?12

  • Per Lkw zu einem Verladebahnhof und dann per Eisenbahn zu einem Seehafen und dann weiter per Schiff?
  • Per Lkw oder Hubschrauber zu einem US-Flugplatz (Ramstein) und von dort per Lufttransport nach Johnston Atoll?

In den USA wurde der Seetransport von der Army ausdrücklich abgelehnt, weil die erforderlichen langwierigen Risikountersuchungen den Zeitplan des Kongresses verletzt hätten. Die meisten anderen untersuchten Transport-Routen führten durch oder über dünnbesiedelte Gebiete. Wo ist in der dichtbesiedelten Bundesrepublik ein solcher Transportweg möglich?

Bei der Untersuchung der Verladung der Transportcontainer von einem Verkehrsmittel auf ein anderes sind in den USA umfangreiche Sicherheitsvorrichtungen vorgeschlagen worden, u.a. der Bau völlig neuer Umschlageinrichtungen an Verladebahnhöfen oder Flugplätzen (das gleiche würde für den Umschlag auf Seeschiffe gelten). Wie soll sich auf dem Boden der Bundesrepublik ein solcher Umschlag gestalten? Welche Sicherheitsvorkehrungen werden hier getroffen?

Werden von den bundesdeutschen Behörden Katastrophenpläne zum Abtransport des Giftgases vorbereitet? Wie soll die Zusammenarbeit mit den unteren Behörden, die ja gerade beim Katastrophenschutz verantwortlich sind, funktionieren, wenn alle Fragen der Lagerung und des Transports von Giftgas einer strengen Geheimhaltung unterliegen? Unter diesen Umständen ist es unmöglich, daß angemessene Vorbereitungen für einen Unglücksfall getroffen werden. Jedenfalls wurde im Pentagon-Gutachten bei der Untersuchung der Transport-Alternativen jeweils ein „größter anzunehmender Unfall“ mit der Freisetzung von Kampfstoffen in die Betrachtung einbezogen.

Angesichts dieser zahlreichen offenen Fragen hat eine Versammlung betroffenener Bürgerinnen und Bürger einen »Pfälzer Bürger-Appell gegen den Giftgastod« verabschiedet, in dem „die gleichen Mitsprache- und Mitwirkungsrechte, wie sie sich Bürgerinitiativen bei den acht inneramerikanischen Giftgaslagerorten erstritten haben“ gefordert werden.13 U.a. müsse eine vergleichende Risikostudie erstellt werden, um die gefahrenärmste Vernichtungsmethode zu ermitteln. Zu Fragen der Lagersicherheit, des Abtransports und der Vernichtung müsse eine öffentliche Erörterung stattfinden. Oberstes Ziel aller Maßnahmen müsse „die Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung und der Schutz der Umwelt sein“.

Chemische Aufrüstung durch Binär-Waffen

Die Vernichtung der Altbestände an C-Waffen geht einher mit der Produktion einer neuen C-Waffen-Generation, der »Binär-Waffen«. Beim Einsatz ist die binäre Munition genauso giftig oder sogar noch giftiger als die herkömmliche chemische Munition. Der Unterschied liegt in der Konstruktion der Waffe: In der Bombe oder Granate befinden sich zwei Kammern, die mit relativ ungefährlichen Komponenten gefüllt sind. Beim Abschuß wird die Trennscheibe zerstört, die beiden Komponenten werden vermischt und reagieren miteinander zu einem hochwirksamem Kampfstoff.

Der »Vorteil« für die Militärs liegt auf der Hand: Binäre Munition ist leichter zu handhaben; die Gefährdung der eigenen Mannschaften ist wesentlich geringer; die Munition bedarf keiner hochgesicherten Spezialdepots, sondern kann praktisch überall gelagert werden. Und: Binäre Munition könnte von einem C-Waffen-Verbot kaum erfaßt werden, weil die beiden getrennten Komponenten für sich nicht als Kampfstoff gelten und im übrigen kaum von handelsüblichen Chemikalien zu unterscheiden sind.

Am 4. Dezember 1987 unterschrieb Präsident Reagan das Gesetz für den Verteidigungshaushalt 1988 und 1989. Der Abschnitt über chemische Waffen koppelt den Abzug der Alt-C-Waffen aus der Bundesrepublik mit der Stationierung der neuen binären Munition. In Kapitel 126 des Gesetzes heißt es nämlich: „Chemische Munition der Vereinigten Staaten, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes in Europa gelagert wird, darf nicht abgezogen werden, bevor diese Munition zeitgleich durch binäre Munition auf dem Boden wenigstens eines einzigen europäischen NATO-Mitglieds ersetzt wird.“ 14 Nach Lage der Dinge kann dieses „einzige europäische NATO-Mitglied“ nur die Bundesrepublik Deutschland sein. Wenige Tage nach Inkrafttretens dieses Gesetzes begann im Depot Pine Bluff/Arkansas die Produktion binärer Munition.15

Mitte Januar 1989 berichtete die »Washington Post«, daß die USA in den nächsten zehn Jahren eine Million Stück binärer Munition herstellen werden. Die Pläne sähen vor, daß zunächst Artilleriegranaten, dann BIGEYE-Bomben für den Abwurf von Flugzeugen und schließlich binäre Raketenmunition gebaut werden sollen. Die Kosten beliefen sich auf 3 Milliarden Dollar. Daraufhin erklärte der Direktor der Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung, General William Burns, die Zahl sei „ziemlich übertrieben“, bestätigte aber, daß die USA an der Produktion binärer Waffen festhielten.16 Im Oktober 1989 erklärte die US-Regierung, sie werde auch nach dem möglichen Abschluß eines Abkommens zum Verbot chemischer Waffen die Produktion binärer Waffen noch bis zu zehn Jahren fortsetzen.17

Die Verantwortlichen der US-Streitkräfte haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie die binäre Munition am liebsten dort sehen würden, wo sie gebraucht wird, nämlich dort, „wo auch die Truppen stehen“.18 Und tatsächlich: Am Rande des Tokioter Gipfels wurde nicht etwa der „ersatzlose Abzug“ der Altbestände an Giftgas vereinbart, wie die Bundesregierung seither behauptet, sondern Bundeskanzler Kohl stimmte in bezug auf die neuen binären Kampfstoffe einer „zeitweiligen Verbringung im Eventualfall“ auf den Boden der Bundesrepublik zu.19 Am 22. Mai 1986 billigten die Verteidigungsminister der NATO im »Streitkräfteziel« für die Jahre 1987 bis 1992 die Produktion binärer Waffen.20

Mit anderen Worten: Im »Eventualfall« oder im Fall von »Krise oder Krieg« (Begriffe, die völlig unscharf sind; das Grundgesetz kennt demgegenüber nur den Spannungs- und den Verteidigungsfall) könnten innerhalb weniger Stunden binäre Waffen in die Bundesrepublik eingeflogen und auch eingesetzt werden, wenn die entsprechende Infrastruktur und vor allem die Waffensysteme (Haubitzen, Raketenwerfer, Flugzeuge) vorhanden sind. Denkbar wäre auch die Vorausstationierung der schwereren Komponente einschließlich der Munitionsteile. Die zweite Komponente könnte im Bedarfsfall mit wenigen Transportflügen nach Europa verbracht werden. Die nächste Runde der chemischen Aufrüstung einschließlich der Stationierungsvorbereitungen für binäre Kampfstoffe in der Bundesrepublik hat also bereits begonnen.

Anmerkungen

1) Stars and Stripes, July 17, 1989, p. 9. Zurück

2) Army Regulation 380-86, Classification of Chemical Warfare and Chemical and Biological Defense Information, Headquarters Department of the Army, Washington, DC, 15 February 1984. Zurück

3) Wehrtechnik, Mai 1984, S. 11. Zurück

4) Frankfurter Rundschau und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. April 1988. Zurück

5) Pirmasenser Zeitung, 22. August 1988. Zurück

6) Bundestags-Drucksache 10/5464. Zurück

7) Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 140. Sitzung, 27. April 1989, Protokoll S. 10303. Zurück

8) International Herald Tribune, October 16, 1989. Zurück

9) Amerika-Dienst, Nr. 35, 20. September 1989. Zurück

10) Chemical Stockpile Disposal Program - Final Programmatic Environmental Impact Statement, Program Executive Officer - Program Manager for Chemical Demilitarization, Aberdeen Proving Ground, Md. 21010-5401, January 1988. Eine von Wolfgang Bartels übersetzte Kurzfassung dieses dreibändigen Gutachtens hat die Fraktion der GRÜNEN im rheinland-pfälzischen Landtag im Mai 1989 unter dem Titel „Giftgas-Gefahren“ herausgegeben. Zurück

11) Stellungnahme an den Dahner Verbandsgemeinderat, Pirmasenser Zeitung, 22. August 1988. Zurück

12) Der Verfasser möchte sich bewußt nicht an den aufgetauchten Spekulationen über mögliche Routen und Verladehäfen beteiligen, sondern vielmehr Fragen aufwerfen, an deren Beantwortung durch die Bundesregierung die betroffene Öffentlichkeit ein Recht hat. Zurück

13) Pfälzer Bürger-Appell gegen den Giftgastod, verabschiedet am 4. November 1989 in Pirmasens, veröffentlicht u.a. in der Frankfurter Rundschau, 9. November 1989. Zurück

14) U.S. Congress, National Defense Authorization Act for Fiscal Years 1988 and 1989, Report 100-446, p. 27 f. Zurück

15) Time, January 11, 1988. Zurück

16) Frankfurter Rundschau und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Januar 1989; Süddeutsche Zeitung, 20. Januar 1989. Zurück

17) International Herald Tribune, October 10, 1989. Zurück

18) So der Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa und zugleich NATO-Oberbefehlshaber Europa, General John Galvin, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, 13. Februar 1988. Zurück

19) So auch eine Entschließung des Deutschen Bundestages, die auf Antrag der CDU/CSU und der FDP am 15. Mai 1986 beschlossen wurde (Bundestagsdrucksache 10/5464). Mit diesem Beschluß sieht der US-Kongreß eine wesentliche Vorbedingung für die Freigabe der Produktion binärer Waffen erfüllt. Zurück

20) Frankfurter Rundschau, 23. Mai 1986. Zurück

Wolfgang Bartels, Publizist und Friedensforscher, lebt in Igel bei Trier.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite