Ambivalenter Neubeginn
von Jürgen Nieth
Am 20.01. hat Joseph R. Biden vor einem kleinen Publikum geladener Gäste seinen Amtseid als 46. Präsident der USA abgelegt. Unter den Gästen „die früheren Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama, Kongressmitglieder, Diplomaten, Familienmitglieder. Die Bevölkerung Washingtons musste zu Hause bleiben. Die »National Mall« war gesperrt und militärisch gesichert worden.“ (Majid Sattar, FAZ, 21.01.21, S. 3) Wo sonst Zehntausende dem neuen Präsidenten zujubeln, gab es diesmal nur zehntausende US-Fahnen.
Vereidigung im Ausnahmezustand…
…schildert Hubert Wetzel in der SZ (21.01.21, S. 3): „Aus Angst davor, dass bei Bidens Vereidigung noch einmal Trump-Anhänger in der Hauptstadt aufmarschieren und dann vielleicht ihre Sturmgewehre mitbringen, wurden 20.000 Nationalgardisten nach Washington verlegt. Die Innenstadt ist ein Labyrinth von Zäunen, Gittern und Betonsperren, die Kreuzungen sind mit Militärlastern und Schneepflügen blockiert und die Straßen wurden geräumt.“
Donald Trump nahm als erster Präsident seit anderthalb Jahrhunderten nicht an der Vereidigung seines Nachfolgers teil. Er war am Morgen nach Florida abgereist.
Gespaltenes Land
Mit dem neuen Präsidenten wird „eine der chaotischsten Phasen der jüngeren amerikanischen Geschichte ein Ende finden“. Reymer Klüver hält aber gleichzeitig fest, dass Donald Trump „eine im Inneren unversöhnlich tief gespaltene Gesellschaft und im Äußeren ein international isoliertes Land“ hinterlässt (SZ, 21.01.21, S. 1).
Trump geht, aber der Trumpismus bleibt. Biden hatte 81 Millionen Wähler*innen, Trump 74 Millionen. Diese „74 Millionen sind immer noch da. Und ein großer Teil von ihnen glaubt weiter an die Lüge vom gestohlenen Wahlsieg und findet, dass der Sturm auf das Kapitol ein Akt der Selbstverteidigung gewesen sei. Nicht schön, aber notwendig.“ (Hubert Wetzel, SZ, 21.01.21, S. 3)
Politikwende
Biden hat an seinem ersten Tag im Oval Office 17 Präsidialdekrete unterzeichnet, um „eine Politikwende einzuleiten“, wie Bernd Pickert in der taz (22.01.21, S. 4) schreibt. „Die USA kehren zurück in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation, die von Trump verhängten Einreiseverbote für Bürger*innen bestimmter muslimischer Länder sind aufgehoben, die Keystone XL Pipeline von Kanada in die USA ist gestoppt, Ölbohrungen in den Nationalparks von Alaska sind vorerst wieder untersagt, für Trumps Mauerbau an der Südgrenze zu Mexiko gibt es kein Geld mehr.“
Moritz Wichmann (nd, 22.01.21, S. 1) hebt Positives aus der Rede zur Amtseinführung Bidens hervor. Er „nannte klar die vier Krisen, die die USA plagen: ‚ein Land im wütenden Virus, die Klimakrise, wachsende Ungleichheit und systemischer Rassismus‘. Und er benannte recht scharf im Ton der sonst sanft gesprochenen Rede den Rassismus und den rechten Extremismus im Land als Gegner, den es zu besiegen gelte […] Eine Schlüsselstelle der Rede ist jene, an der Biden darüber sprach, wie die USA bisher Probleme gemeistert hätten: ‚wenn genug Menschen zusammenkommen‘. Dieses ‚genug‘ läuft nicht auf Einheit mit den Republikanern, sondern auf Fortsetzung […] der pragmatischen Zusammenarbeit von Liberalen und Linken aus dem Wahlkampf hinaus.“
Aber »USA first« bleibt
Das betrifft vor allem China: „Die Vereinigten Staaten müssen China ‚aus einer Position der Stärke gegenübertreten‘, hatte der designierte Außenminister Antony Blinken […] in seiner Anhörung vor dem US-Senat erklärt […] Eine ‚aggressive‘ Antwort an China versprach auch Avril Haines, die […] an der Spitze der 17 US-Geheimdienste stehen wird.“ (Jörg Kronauer, jw, 21.01.21, S. 1) Paul Anton Krüger schreibt dazu in der SZ (21.01.21, S. 7): „Der künftige Verteidigungsminister Austin sagte, die strategische Ausrichtung des US-Militärs werde sich auf Asien und China im Besonderen fokussieren.“
»USA first« betrifft auch Russland: Krüger (s.o.) schreibt, Blinken suche einen „parteiübergreifenden Konsens in Washington und eine gemeinsame Haltung mit den Aliierten […] Moskau müsse »Kosten und Konsequenzen« seines Verhaltens tragen.“ Laut Kronauer (s.o.) befürwortet Blinken „den NATO-Beitritt Georgiens. Dieser würde den militärischen Ring […] um Russland noch ein weiteres Stück zuziehen.“ Ein Lichtblick: Laut ZDF Nachrichtenticker (21.01.21, 22:47 Uhr) will US-Präsident Biden „den letzten großen Abrüstungsvertrag mit Moskau verlängern. […] Der New Start Vertrag wäre in gut zwei Wochen ausgelaufen. Das Abkommen begrenzt die nuklearen Arsenale Russlands und der USA auf je 800 Trägersysteme und 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe.“
Fraglich bleibt die Politik gegenüber Iran: Einerseits spricht Blinken davon, dass das Atomabkommen mit dem Iran – das von Trump aufgekündigt wurde – seinen Zweck erfüllt und die iranische A-Bombe verhindert habe. Andererseits fordert er, dass der Iran die Vereinbarungen des alten Abkommens „wieder strikt und vollständig“ einhält, dann könne man über „ein stärkeres und längerfristiges [also neues, J.N.] Abkommen“ verhandeln (Krüger, s.o.).
USA – EU
Die „Europäer:innen sollten trotz der berechtigten Freude über den Politik-Wandel der neuen US-Regierung nicht nur die Hand reichen, sondern sich darauf gefasst machen, dass nicht alle Unterschiede und strittigen Punkte einfach verschwinden.“ (Andreas Schwarzkopf, FR, 21.01.21, S. 11) Nach einer Allensbach-Umfrage „unter mehr als 500 Top-Entscheidern“ der deutschen Politik und Wirtschaft erwarten mehr als zwei Drittel, „dass sich der harte Wettkampf um politische und wirtschaftliche Macht zwischen China und den Vereinigten Staaten unverändert fortsetzt, bei dem die deutsche Wirtschaft zwischen die »Fronten« geraten könnte.“ (Heike Göbel, FAZ, 21.01.21, S. 17)
Bei der Ostseepipeline Nordstream 2 ist sie das längst und es deutet im Moment nichts darauf hin, dass sich an der Embargopolitik der USA gegen die beteiligten Firmen etwas ändern wird.
USA-first – das gilt eben auch gegenüber politisch Verbündeten.
Quellen: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, nd – der tag, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, ZDF-Ticker