W&F 1985/5

Amerikanismus, Antiamerikanismus – oder was sonst?

von Horst Eberhard Richter

Richter ging aus von der Erfahrung, daß viele Menschen offenbar Angst hätten, die Amerikaner bzw. ihre Regierung zu ärgern. Schon der Vorwurf des Antiamerikanismus reiche aus, um politisch Andersdenkende zu ächten. „Man könnte sich als Gegenvorwurf doch auch „blinden Amerikanismus“ vorstellen. Warum hört man diesen Gegenbegriff nie? Meine Erklärung: Weil dieser Begriff die psychische Realität trifft.. Wir sind eben zu einem großen Teil im Westen die geistigen Halbamerikaner geblieben die wir nach 1945 geworden sind. Das Risiko, zu den Amerikanern auf Distanz zu gehen, bedeutet für viele noch immer eine unerträgliche Bedrohung des Identitätsgefühls.“ Deshalb wäre das „Abkoppeln so schlimm – übrigens ein entlarvender Begriff: Abgekoppelt werden bekanntlich vor allem Anhänger, die mechanisch gezogen werden und keiner Eigenbewegung fähig sind.“ Nach Richter haben wir es mit einer Erscheinung von Hörigkeit zu tun, der er im folgenden nachspürt:

„Der Prozeß begann mit großer Selbstunsicherheit. Ich traf alte Bekannte, die mir früher als kraftvoll und selbstbewußt imponiert hatten und die jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Ihre Identifizierung mit dem System hatte sie einst in einem Maße gestützt, daß sie als volle Persönlichkeiten erschienen waren, ohne es zu sein. Sie hatten narzißtisch gezehrt von der Partizipation an dem durch die Begriffe Volk – Reich – Führer benannten Großgebilde und sich mit der Stärke verwechselt, die in Wirklichkeit auf enormer Abhängigkeit beruhte Was sie dachten, war immer schon von oben vorgedacht. Und zu dieser geistigen Steuerung war die komplette Verplanung und Durchorganisation ihres praktischen Daseins im totalitären System gekommen. Nun enthüllte sich das Maß ihrer Entpersönlichung und zugleich ihrer praktischen Orientierungslosigkeit. Typisch war das Bild der aus Gefangenschaft heimkehrenden „Helden“, die von ihren weniger deformierten Frauen wie hilflose Kinder an die Hand genommen und wieder lebensfähig gemacht werden mußten. Aber wer sagte ihnen jetzt, wer sie waren, welche Sprache sie sprechen, welchen Konzepten sie folgen sollten? All das lieferten uns im Westen umgehend die Sieger, an deren Spitze die Amerikaner. Die funktionierten wie ein neues Animationssystem, das die Identitätsleere ausfüllte. Es war durchaus keine mühsame, sondern eine ersehnte, rettende Anpassung, freilich ein eher mechanischer Prozeß; eine Flucht aus einer Hörigkeit in die nächste. Aber zum Schutz der Selbstachtung mußte man sich natürlich als eigene Überzeugung einreden, was in Wirklichkeit nur vertauschte Abhängigkeit war. Das scheinbar schlagartig funktionierende demokratische Gewissen schlug von außen. Es sprach englisch. Ein Volk von verwaisten Kindern war in neuer Vormundschaft untergekommen.

Hitler hatte in uns anscheinend nur unterdrückt, was wir immer schon gewesen waren – Anhänger der amerikanischen Bürgerideale, geistige Halb- Amerikaner. Jetzt durften wir endlich sein, was wir längst schon geworden wären, hätte man uns nur gelassen.

Es ist schwierig, als Interpret dieses Zusammenhanges den falschen Anschein zu vermeiden, als fühlte man sich selbst in einer völlig distanzierten Betrachterposition. Natürlich probierte auch ich damals alles aus, was der moralischen Selbstschonung diente. Wenn ich es vielleicht schwerer als manche andere hatte, mich auf die geschilderte Weise zu entlasten, so rührte das von meiner Vorgeschichte her, die mich vor dem Maß an innerer Anpassung bewahrt hatte, die jetzt viele zur automatischen Amerikanisierung trieb.

Seit vielen Jahren war den Leuten stereotyp eingehämmert worden: Ihr seid die edelste Rasse, die stärksten Soldaten, die Tüchtigsten, Anständigsten, Tapfersten, die Retter der Welt. Selbst in den letzten Jahren der katastrophalen militärischen Rückschläge hatten Radio, Presse und Filmwochenschauen noch in einem fort Triumphe bejubelt: Fluchtbewegungen hießen erfolgreiche Rückzugsschlachten; von Niederlagen blieben nur die schweren Verluste übrig, die man dem Gegner zugefügt hatte; die Wunderraketen V 1 und V 2 und weitere bereitgehaltene Geheimwaffen hatten dazu gedient, den Mythos vom unbezweifelbaren Endsieg zu befestigen. Schwäche, Elend, Niederlagen – das war die Geschichte, Dolchstoß, Versailles, Weimarer Verzichtspolitik. Auch moralisch war jeder Selbstzweifel gelöscht worden. Schuld war das Monopol der anderen, der Juden, der Plutokraten, der Bolschewisten. Die Propaganda hatte sich der unbewußten Tendenz bedient, die Angst vor der nahenden Katastrophe mit manischer Überkompensation zu bewältigen. Allzu vielen war es nur sehr recht gewesen, sich immerfort neue Argumente zur Verleugnung des bevorstehenden Zusammenbruchs einreden zu lassen, der ja auch zur inneren Katastrophe zu geraten drohte.

Wie konnten nun der Schock, die totale Niederlage, die absolute moralische Demütigung durch Auschwitz bequemer bewältigt werden als durch blitzschnellen Parteiwechsel? War es nicht die Rettungschance, schleunigst sich selbst und die Welt so umzudenken, daß man für die Sieger ihresgleichen wurde? Alsbald tauchten Phantasien auf: Hätten die Amerikaner doch auf Ribbentrop – später noch auf Himmler gehört, als die ihnen einen frühen einseitigen Waffenstillstand im Westen angeboten hatten! Wie leicht hätte man – Seite an Seite – das weitere Vordringen der Russen nach Zentraleuropa noch aufhalten können! Seite an Seite! Ihr und wir, wir Abendländer wir Antikommunisten, wir Hüter des Christentums! Hätten wir, hättet ihr nur früher begriffen, daß wir eigentlich zusammengehören, daß wir im Grunde eins sind! Nun, da wir Hitler und seine Verbrecherhorde los sind, wird uns nichts und niemand mehr hindern, mit euch zu marschieren. Wann rüstet ihr uns wieder auf?

A. und M. MITSCHERLICH haben später in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ vornehmlich den Mechanismus der Verleugnung beschrieben, der zur Abwehr einer unerträglichen Melancholie führte:

„Die Konfrontation mit der Einsicht, daß die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Inflation des Selbstgefühls, einem ins Groteske gesteigerten Narzißmus gedient hatten, hätte zur völligen Deflation des Selbstwertes führen, Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon in statu nascendi abgefangen worden wäre.“

„Der kollektiven Verleugnung der Vergangenheit ist es zuzuschreiben, daß wenig Anzeichen von Melancholie oder auch von Trauer in der großen Masse der Bevölkerung zu bemerken waren.“

A. und M. MITSCHERLICH maßen dem Identitätsverlust eine überragende Bedeutung bei, den die Deutschen damals erlitten hätten, als sie ihren „idealen Führer“ verloren hatten. Es könnte aber sein, daß dieser Identitätsverlust deshalb gar nicht so bedeutend war, weil das, was man Identität nennt, nur sehr mangelhaft ausgebildet worden war. Hitler war vermutlich bei weitem nicht in dem Maße als Ich-Ideal innerpsychisch integriert worden, wie es den Anschein hatte. Seine rasche Austauschbarkeit nach Kriegsende spricht dafür, daß ein Höchstmaß an regressiver Hörigkeit im Spiele war, wie es etwa HANNAH ARENDT am Beispiel von Eichmann herausgearbeitet hat. Nur der präsente äußere Hitler hatte die Macht gehabt, einem Heer von praktisch Selbstentmündigten die so inständig gehegten überkompensatorischen Größen- und Überwertigkeitsträume zu erhalten. Hitlers Präsenz, der suggestive Rapport zwischen ihm und der infantilisierten Masse hatte das System in Funktion gehalten. Nicht umsonst waren keine anderen Begriffe so himmlisch verklärt worden wie Pflicht, Gehorsam, Treue. Dabei ging Treue in Gehorsam auf und Ehre in Treue. Das SS-Motto „Unsere Ehre heißt Treue“ sollte die Verknüpfung des Ehrbegriffs mit sittlicher Selbstverantwortung löschen. Absolute Hitler-Ergebenheit war alles zugleich: Pflicht, Treue und höchste Ehre. Nur einer durfte sagen: Ich will. Für die anderen hieß es: Er will.

Es war sicherlich oft nicht einmal gelogen, wenn später viele als subjektives Bewußtsein beteuerten, sich nicht selbst für Schlimmes verantwortlich gefühlt zu haben, das unter ihrer Mitwirkung geschehen war. Aber daß diese Preisgabe des Selbst, die Externalisierung der moralischen Verantwortlichkeit eher eine noch größere Schuld war, sollte keiner weiteren Erläuterung bedürfen.

Jedenfalls war es unter diesem Aspekt eigentlich ganz natürlich, daß nun ausgerechnet diejenigen sich im Boot der Sieger am raschesten heimisch zu machen wußten, die sich zuvor konfliktlos hochgedient hatten. Als geübte, reibungslose funktionierende Gehilfen der Macht machten sie sich erneut unentbehrlich, und es fiel ihnen nicht schwer, sich mit einer übergestülpten neuen Ideologie an das Sieger-Hilfs-Ich anzukoppeln.

Viel schwerer hatten es die Trauernden, die Hitler echt geliebt hatten. Und erst recht die Scharen der im Hitler-System zermürbten Gruppen der Zweifler, der Außenseiter, der Leidenden.

Viele waren zu entmutigt, um nun noch die späte Chance wahrzunehmen, aus der Unterdrückung auszubrechen und ihre ewig frustrierten Ansprüche durchzusetzen. In diesen Kreisen wurde die Depression ausgetragen, welche jene virtuosen Stehaufmännchen vermieden.

Hier fanden sich die Sensiblen, die Schlaflosen, denen die Bilder von Auschwitz, von Treblinka, vom Volksgerichtshof nicht mehr aus dem Kopf gingen. Und die sich zugleich mit der ewig wiederkehrenden Frage quälten, wie sie vor den eigenen toten Angehörigen und Freunden dastanden.

Es mag einem die oberflächlich zynische Typeneinteilung in die „Winners“ und die „Loosers“ einfallen. Die einen sind immer oben die anderen immer unten. Die einen sind die Meister im Verdrängen, die anderen die ewigen Träger des Verdrängten, die den Schuldigen auch noch deren Schuld, deren vermiedene Trauer abnehmen und die in der Klassengesellschaft die Dauerherrschaft einer unentwegt selbstgerechten Machtelite stabilisieren.

Es etablierte sich die westdeutsche Demokratie mit einer in vieler Hinsicht vorbildlichen Verfassung. Aber dieser Prozeß vermochte nicht zu verhindern, daß nur wenige von Hitlers Gegnern, dafür in großer Zahl dessen arrivierte Gefolgschaft allmählich die gesellschaftliche Macht in der Bundesrepublik zurückgewann. Der Ersatz der Führungsinstanz Hitler durch die Amerikaner hatte es erlaubt, einen wesentlichen Teil des Nazi-Militarismus in den offiziellen amerikanischen Antikommunismus einzubringen. So waren es keine Pannen, sondern logische Folgen aus der verdeckt weiterwirkenden Mentalität, wenn Männer wie Globke, Seebohm, Oberländer, Filbinger, Kiesinger Karriere machen konnten. Die opportunistischen Amerikaner hatten diese Entwicklung kräftig gefördert. Ihr Interesse an der „Entnazifizierung“ endete dort, wo ihre Machtinteressen berührt wurden: Bedenkenlos kooperierten sie mit Ex-Gestapo-Chefs bis hinauf zu Klaus Barbie und brachten diese in Sicherheit. Genauso ungeniert nahmen sie die gesamte Elite der deutschen Raketen-Experten, ob Nazis oder nicht, in ihre Arme und ließen die V 1 und V 2 des Hitlerkrieges zu den neuen Großraketen der eigenen Rüstung weiterentwickeln. Entsprechend traditionellem Siegerbrauch hatten sie in Nürnberg gemeinsam mit ihren ehemaligen Alliierten imperialistischen Machtwahn und menschenverachtende Aggression als spezifisches Übel des Gegners abgeurteilt, die eigenen Anfälligkeiten durch Projektion verleugnend. Blind dafür, worin sie in ihrem eigenen expansionistischen Vorherrschaftsstreben dem zerschlagenen Regime verwandt waren, war es ihnen schon bald nach Nürnberg recht, die deutsche Wiederaufrüstung mit Hilfe der gleichen Wirtschaftskreise anzukurbeln, die noch kurz zuvor Hitler mitgetragen hatten. Nicht kurzes Gedächtnis, sondern imperialistisches Trachten verleitete sie zu der Remilitarisierung der Bundesrepublik. In einem seiner letzten Briefe klagte A. EINSTEIN: „Gestern Nürnberger Prozesse, heute Bewaffnung Deutschlands unter hohem Druck. Wenn ich es mir zu erklären versuche, komme ich von folgender Idee nicht los. Das letzte meiner Vaterländer hat für sich eine neue Art von Kolonialismus erfunden, … nämlich das Herrschen durch investiertes Kapital im Ausland. Dies verschafft solide Abhängigkeiten. Wer aber sich dagegen wehrt, ist ein Feind.“

Durch ihre zweideutige Deutschlandpolitik – die verbal auf politische Umerziehung, hintergründig aber auf Kollaboration mit wirtschaftlichen und geistigen Stützen Hitlers ausgerichtet war, kamen die Amerikaner jener Mehrheit der hiesigen Kriegsgeneration entgegen, die bald nicht mehr im Glauben an ihre neue amerikanisierte (Pseudo-)Identität erschüttert werden mochte. So hatte sich eine verflachte, allein der wirtschaftlichen Expansion und dem Konsum zugewandte Mentalität ausgebreitet. Über die Vergangenheit wurde mit Bedacht hinweggelebt. Die Schwenkung zu einer neuen Stärke- und Militärpolitik vertrieb die beunruhigenden Erinnenungen. Was mit dem Segen, ja auf Geheiß der Amerikaner und im Rahmen der parlamentarischen Regeln geschah, brauchte anscheinend nicht kritisch an der jüngsten Geschichte gemessen zu werden. KARL JASPERS schrieb 1966:

„Heute droht kein Hitler und kein Auschwitz und nichts Ähnliches. Aber die Deutschen scheinen durchweg noch nicht die Umkehr vollzogen zu haben aus der Denkungsart, die die Herrschaft Hitlers ermöglichte. Werden wir, wenn es uns als Produktions- und Konsumgesellschaft gut geht, so zufrieden mit dem Augenblick, so blind für die Tatsachen, so phantastisch, so verantwortungslos, so verlogen bleiben? Dann gehen wir einem Verhängnis entgegen, ganz anderer Art als dem Hitlers, und dann werden wir uns so wenig verantwortlich dafür fühlen wie seinerzeit und heute noch die Mehrzahl der Deutschen der Realität des Hitlerstaates gegenüber. Um unseren sittlich-politischen Zustand zu durchschauen, dazu bedarf es der Kenntnis der Geschichte im Tatsächlichen und im Verstehbaren. Heute scheint noch wie früher das Tollste möglich."

Im Zuge der Remilitarisierung der Bundesrepublik wurden alle Anläufe, sich mit der Vergangenheit offen auseinanderzusetzen, immer wieder abgeblockt. Aber meine Hoffnung ist, daß wir jetzt neue Ansätze vorfinden. Der Weg zu einem eigenständigen politischen Bewußtsein zwischen Amerikanismus und Antiamerikanismus kann nur über ein Aufarbeitung unserer Erinnerungen führen. Diese braucht auch und in erster Linie die junge Generation, die mehr oder weniger unbewußt damit belastet worden ist, was ihre Eltern nicht bewältigt haben. Unsere ärztliche Friedensbewegung kann der Stagnation nur entgehen, wenn wir uns bewußt bleiben, gegen welche Mentalität, gegen welche unheilvolle Tradition wir ein neues Bewußtsein in der Bevölkerung und in der Politik fördern wollen."

H. E. Richter Professor für Psyschosomatik an der Universität Gießen, Mitglied des Vorstandes der IPPNW, Sektion Bundesrepublik

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1985/5 1985-5, Seite