Angeklagt wegen »Geheimnisverrats«
Russischer Chemiker nach internationalen Protesten aus der Haft entlassen
von Reiner Braun
Am 23.2.1994 wurde Vil Mirzajanov aus der Haft entlassen. Der Bericht soll einen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen geben, u.a. über den Prozeß, an dem ich eine Woche als Prozeßbeobachter teilnahm. Dabei hatte ich die Gelegenheit zu vielfältigen Gesprächen mit Journalisten, Wissenschaftlern, »Bürgerbewegten« und den Angehörigen der Familie Mirzajanov.
Mit der aufsehenerregenden Enthüllung, daß die russische Militärführung und in der Militärforschung tätige Wissenschaftler auch nach der Unterzeichnung des weltweiten Abkommens über den Abbau bzw. Vernichtung der chemischen Waffen weiterhin an der Entwicklung verheerender C-Waffen bzw. Elemente dafür forschen, wandte sich V. Mirzajanov am 20.9.1992 an die Öffentlichkeit.
V. Mirzajanov arbeitete zusammen mit seinen Kollegen Wladimir Uglew und Wladimir Petrenko am Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungszentrum für Organische Chemie und Technologie (GSNIIOHT). Sie verloren sofort nach der Enthüllung ihre Arbeitsplätze. Die drei Wissenschaftler informierten, daß in dem Moskauer Teil des Instituts GSNIOHT neue Nervengase entwickelt werden. Diese sind chemisch zwar mit dem auch von den Amerikanern gelagerten Nervenkampfstoff VX verwandt, besitzen aber eine andere Struktur. Dies macht sie einerseits im Feldtest etwa noch acht- bis zehnmal stärker als das bisher giftigste Kampfgas VX. Es führt andererseits aber auch dazu, daß diese Chemikalien oder deren chemische Vorstufen im Gegensatz zu allen anderen bekannten Kampfstoffen nicht in den Listen verbotener chemischer Verbindungen enthalten sind, die einem Ausfuhrverbot aus Rußland unterliegen. Auf der Basis dieser Kampfstoffe sind außerdem Binärwaffensysteme bis zur Einsatzreife entwickelt und getestet worden. Bisher war von offizieller russischer und vorher sowjetischer Seite bestritten worden, daß in Rußland auch nur an der Entwicklung binärer C-Waffen gearbeitet werde. (Binäre C-Waffen bestehen aus zwei Komponenten, die sich beim Einsatz mischen und erst dann ihre tödliche Wirkung entfalten.)
Im Moskauer Zentrum wurden nach Angaben von Mirzajanov Mengen dieses supertoxisch tödlichen Kampfstoffes gelagert, die theoretisch ausreichen, um die gesamte Bevölkerung dieser Acht-Millionen-Stadt zu töten. Mirzajanov wurde am 22.10.92 wegen des Artikels in den Moskau-News verhaftet und seine Wohnung durchsucht. Er blieb zunächst bis zum 1.11.92 in Haft. Ende Januar 1993 wurde er aus der Haft entlassen.
Die von dem Kollegen Mirzajanov gemachten inhaltlichen Aussagen über die neu entwickelten Nervengase wurden am 5.2. dieses Jahres von Wladimir Uglew bestätigt, der selbst Miterfinder dieser Kampfstoffe ist und mehr als 15 Jahre an deren Entwicklung mitgearbeitet hat. Da er als Volksanwalt Immunität besaß, hat er bislang nicht verhaftet werden können. Ihm ist allerdings bereits untersagt worden, seine Arbeitsstätte zu betreten. Auch gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats.
Der dritte bedrohte Wissenschaftler ist Wladimir Petrenko, seit vielen Jahren Chemiker in dem Zentralen Forschungsinstitut für Tests der Chemiewaffen-Einheiten des Verteidigungsministeriums in Wolsk-17 (hier eher bekannt als Schikanij-19). Petrenko leidet seit 1982, dem Jahr, in dem er als Versuchsperson selber Proben neuer Giftstoffe einatmen mußte, an einer Vielzahl von Krankheiten. Die Geschichte des an ihm durchgeführten Menschenversuchs ist im Januar diesen Jahres von dem Journalisten Sergej Michailow in der Wochenzeitung Business News in Sartow beschrieben worden. Michailow wurde daraufhin des Geheimnisverrats angeklagt. Petrenko hat aufgrund des Artikels seinen Arbeitsplatz verloren. Vor gerichtlicher Verfolgung schützt ihn (wie Uglew) zur Zeit noch sein Status.
Die Naturwissenschaftler-Initiative hat die russischen Kollegen seit Anfang 1993 materiell, individuell und politisch unterstützt. Uns ist es im Laufe der Jahre durchaus geglückt, eine breitere Medienöffentlichkeit für die Kollegen herzustellen; dies führte auch zu interessanten Reaktionen aus der Politik (s.u.) Motiv für unser Engagement war, daß die Aktivitäten an dem russischen Institut – die sicher nicht ohne Wissen der Regierung stattfinden – zumindest gegen den Geist des weltweiten Abkommens zur Vernichtung chemischer Waffen verstoßen, für dessen Zustandekommen sich die Naturwissenschaftler-Initiative seit 10 Jahren eingesetzt hat. Engagement und Mut der Kollegen lassen sich als Beispiele für verantwortungsbewußte Zivilcourage bezeichnen und bedürfen unserer Meinung nach einer großen Unterstützung, zeigen sie doch, wie sich Kollegen aus Verantwortung für die Folgen ihres Tuns engagieren.
Der Prozeß
Seit dem 6.1.94 stand V. Mirzajanov vor dem Moskauer Bezirksgericht, am 27.1.94 wurde er erneut inhaftiert. Nachdem alle seine Anträge auf Befangenheit der Richter, die dem KGB angehört haben sollen – dieselbe Organisation, die maßgeblich den Prozeß vorbereitete, abgewiesen wurden, nachdem der Antrag seines Anwalts auf Einsetzung eines unabhängigen Wissenschaftlergremiums verworfen wurde, weigerte sich Dr. Mirzajanov, an den Verhandlungen teilzunehmen (siehe nebenstehende Erklärung).
Der Gerichtsprozeß entscheid, daß V. Mirzajanov auch weiterhin in Haft bleibt!
Der Verteidiger Mirzajanovs, der russische Menschenrechtsanwalt Alexander Asnijs, wertete dies als »Bestrafung ohne Urteil«. Er verwies darauf, daß alle Gründe für die Verhaftung Mirzajanovs, v.a. seine Ankündigung, wegen Verzichts auf eine umfassende Beweisaufnahme nicht vor Gericht zu erscheinen, entfallen waren. Mirzajanov teilte dem Gericht mit, daß er – da durch die Beweisaufnahme und durch die Expertenanhörung russischer Offiziere und in der Rüstungsforschung tätiger Wissenschaftler seine Behauptungen der Fortsetzung binärer russischer Waffenforschung bestätigt wurden – vor Gericht erscheinen werde.
In einem dramatischen Appell verwies er auf die skandalösen Haftbedingungen im Lubjanov-Gefängnis: „Den Fraß kann man nicht als Essen bezeichnen. Zucker habe ich schon seit 10 Tagen nicht mehr bekommen.“ Er sagte, daß er sich an das Rote Kreuz wenden will, um eine Überprüfung der Haftbedingungen zu erreichen, die nicht dem internationalen Standard entsprächen.
Dieser Schritt trug mit zu seiner Haftentlassung bei, sollte doch nicht die ungleichmäßige Behandlung von politischen Häftlingen (»Putschisten« gegen Gorbatschow, »Verteidiger« des Weißen Hauses) und Mirzajanov sowie »normalen« Häftlingen zu deutlich werden.
Öffentlichkeit ja, aber noch nicht genug
Der Prozeß fand unter dem erheblichen Druck der russischen Öffentlichkeit statt, die nach monatelangem Schweigen der offiziösen Presse und des Fernsehens letztendlich doch über den Vorgang informiert wurde und sich zunehmend kritisch – zumindest zu dem formalen Vorgehen des Gerichts, u.a. Anklage auf Grundlage von Gesetzen, die vorher nicht öffentlich bekanntgegeben waren – äußerte. Angemerkt sei hier aber auch, daß es keine konkrete Unterstützung von Mirzajanov durch die russische Scientific Community gab, weil sein Vorgehen durchaus als »Landesverrat« oder als »gegen nationale Interessen der Großmacht Rußland« gerichtet angesehen wird.
Statement of Vil Mirzajanov
Judges of the Court! Today the Moscow City Court has refused me and my lawyer Aleksandr Asnis the consideration of our most elemantary petitions regarding the violation of my right of defense under Statute 20 of the Criminal Code of the Russian Federation – to have a thorough, full and objective investigation of all circumstances of the case. You rejected even our request to attach to the case the five normative acts, which serve as the basis on which our accusation is made, and which therefore cannot serve as the basis for an arraignment of a person for criminal responsibility, since they have never been published in the official form as required by Article 15 par. 3 of the Constitution of the Russian Federation.
And so you commit a criminal act by your cynical violation of the constitution of the Russian Federation. My efforts to prevent the mockery and dersion of comon sense and human rights in a civilized world are defeated by us and I must come to the conclusion that the only possible option for me is not to participate in this event. Therefore I am informing you that from this point on I will not appear in the court proceedings nor will I be a willing accomplice to a criminal act that violates the basic laws of the Constitution of the Russian Federation.24.1.1994, Signature of Vil Mirzajanov (Translation)
Schon längere Zeit hat es, ausgehend v.a. von der Naturwissenschaftler-Initiative in Deutschland und der Federation of American Scientists in den USA – politischen Druck und Aktivitäten gegeben. So schaltete sich das Auswärtige Amt mehrfach ein und wandte sich an das Auswärtige Amt Rußlands und an das Präsidentenbüro Jelzins. US-Präsident Clinton sprach die Inhaftierung bei seinem Staatsbesuch bei Jelzin an und das EG-Parlament verabschiedete eine sehr kritische Erklärung. Die Liste auf der Ebene der Politik läßt sich fortsetzen. Im Prinzip wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, in welche Richtung sich eigentlich das »neue Rußland« entwickele. Unterstützung fand Mirzajanov auch in der Wissenschaft. Schreiben an Jelzin liegen u.a. von der Gesellschaft Deutscher Chemiker, American Chemical Society, American Physical Society, American Association for the Advancement of Science und der International Science Foundation vor.
Ins Rollen gebracht – wenn auch sehr langsam – wurde die Unterstützung durch die kritischen Wissenschaftlerorganisationen. Weitere Hilfe und Unterstützung ist notwendig, wenn wir Dr. Mirzajanov auf dem Kongreß »Wissenschaft und Verantwortung« begrüßen wollen.
Völlig ungeklärt ist die politische und wissenschaftliche Frage. Wird in Rußland immer noch an der Entwicklung chemischer Waffen geprobt oder sogar getestet? Die Auseinandersetzung ist noch lange nicht beendet.
Geldspenden auf das Hilfsfond-Konto Stichwort »Dr. Mirzajanov«, Prof. Hirschwald, Kto.-Nr. 4633270700, BLZ 100 200 00 bei der Beliner Bank.
Reiner Braun ist Geschäftsführer der Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden«.