W&F 2013/3

Antisemitismus und Israelkritik

Mythos und Wirklichkeit eines spannungsreichen Verhältnisses

von Wilhelm Kempf

Israelkritik wird (nicht nur) in Deutschland mit großer Regelmäßigkeit über einen Kamm geschert und als antisemitisch gebrandmarkt. Die Bundestagsdebatte über den angeblichen Antisemitismus der Linken (vgl. Melzer 2011), der Medienaufruhr über das (zweifellos recht naive) Gedicht von Günther Grass (vgl. Krell & Müller 2012) und die Auseinandersetzung um Jakob Augstein, den Herausgeber der linken Wochenzeitung »Der Freitag«, sind dramatische Beispiele dafür. Glaubt man dem Kulturredakteur beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, Matthias Matussek (2013, S.15), dann droht die Gefahr „nicht von ewiggestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu“. Aber kann man ihm glauben? Worauf gründet sich der Antisemitismusvorwurf gegen die Kritiker Israels denn überhaupt? Ist das rechte Spektrum tatsächlich vernachlässigbar? Und ist es wirklich das linke Spektrum, von dem die Gefahr einer Renaissance des Antisemitismus droht?

Dass zwischen Antisemitismus und Israelkritik eine empirische Korrelation besteht, ist noch lange kein Beleg für den antisemitischen Charakter der Israelkritik. Wer die israelische Politik bedingungslos unterstützt, wird wohl kaum antisemitisch vorbelastet sein, und ausgewachsene Antisemiten werden der israelischen Politik kaum wohlwollend gegenüberstehen. Diese beiden Extremgruppen bewirken zwar eine moderate Korrelation zwischen Israelkritik und Antisemitismus, die jedoch nichts darüber aussagt, ob und in welchem Maße Israelkritik antisemitisch motiviert ist.

Die »Projektgruppe Friedensforschung Konstanz« hat in den Jahren 2009-2012 daher ein DFG-unterstütztes Forschungsprojekt über »Israelkritik, Umgang mit der deutschen Geschichte und Ausdifferenzierung des modernen Antisemitismus« in Angriff genommen und u.a. eine Feldstudie durchgeführt, deren Hauptergebnisse im Folgenden skizziert werden.

Theorie und Methodologie

Ausgangspunkt der Studie war die in der Antisemitismusforschung verbreitete Auffassung, dass der Antisemitismus trotz Diskreditierung offen antisemitischer Einstellungen nach Ende des Dritten. Reichs nicht gänzlich verschwunden ist, sondern subtilere Formen angenommen hat. Entsprechend unterscheidet man zwischen verschiedenen Facetten des Antisemitismus (vgl. Frindte 2006).

  • Als »manifesten« Antisemitismus bezeichnet man die auf traditionelle Vorurteile zurückgreifende Diffamierungen von Juden als Juden.
  • Der Begriff des »sekundären« Antisemitismus bezieht sich auf den Umgang der Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit, dem Holocaust und der Schuld- und Verantwortungsfrage und bezeichnet die Relativierung, Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust ebenso wie die Forderung, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.
  • Als »latenten« Antisemitismus bezeichnet man den Versuch, das Thema Antisemitismus und Juden öffentlich zu meiden.

Es gibt weitere Facetten, deren Subsummierung unter das Konzept des Antisemitismus nicht so offensichtlich ist:

  • Der »Antizionismus« lehnt die zionistische Staatsideologie Israels ab und macht die Juden schlechthin dafür verantwortlich (generalisierende Israelkritik).
  • Auf Bergmann & Erb (1991) zurück geht das Konzept der »antisemitischen Israelkritik«, welche die Kritik an der israelischen Palästinapolitik – im Sinne einer Ersatzkommunikation – dazu benutzt, das Kommunikationstabu für antisemitische Einstellungen zu umgehen.

Mit seinem Eingang in den öffentlichen Diskurs hat das Konzept der antisemitischen Israelkritik jedoch einen Bedeutungswandel durchgemacht, und spätestens seit der Konferenz von Durban1 macht sich unter Politikern und Publizisten eine Tendenz bemerkbar, jegliche Israelkritik als antisemitisch zu brandmarken (z.B. Cotler 2006). Viele (nicht-jüdische und jüdische) Kritiker der israelischen Politik befürchten daher, dass sie mittels des Antisemitismusvorwurfes mundtot gemacht werden sollen. Umgekehrt befürchten aber auch viele Israelis, Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen (aber auch nicht-jüdische Deutsche, welche die Lehren aus der Geschichte gezogen haben), dass die zunehmende Israelkritik Anzeichen für ein Wiederaufleben des Antisemitismus sein könnte.

Beide Befürchtungen sind berechtigt, und ein Ausweg aus dieser vertrackten Situation lässt sich nur dann finden, wenn man beide Möglichkeiten in Rechnung stellt und Israelkritik weder pauschal verurteilt noch pauschal rechtfertigt. Dass Israelkritik antisemitisch motiviert sein kann, steht außer Zweifel. Aber es kann auch nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass sich die Kritik aus anderen Motiven speisen kann – etwa aus Pazifismus und/oder aus dem Engagement für die Menschenrechte der Palästinenser. Auch die Lehre von Auschwitz, „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, ist ja keineswegs eindeutig und kann bezüglich der Menschenrechtsfrage in zweierlei Weise interpretiert werden: 1. als Eintreten für die unmittelbaren Opfer des Nationalsozialismus, was eine Tendenz zu unbedingter Solidarität mit Israel nahelegt, oder 2. als Eintreten für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, was eine Tendenz zur Distanzierung von zumindest einigen Aspekten der israelischen Politik und ein gewisses Maß an Empathie für die palästinensische Seite impliziert.

Zugleich muss man auch in Rechnung stellen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht nur einer zwischen Juden und Nicht-Juden ist, sondern eben ein Konflikt, der als solcher denselben sozialpsychologischen Mechanismen folgt wie andere Konflikte auch. Und man muss zwischen pauschal israel- oder palästinenser-feindlichen Einstellungen und der Art und Weise unterscheiden, wie sich Menschen den Konflikt erklären – oder anders ausgedrückt: mittels welcher mentaler Modelle sie ihn zu verstehen versuchen.

Bereits Morton Deutsch (1973) hat nachgewiesen, dass die Eskalation von Konflikten mit spezifischen Wahrnehmungsverzerrungen einhergeht, und Daniel Bar-Tal (1998) hat gezeigt, dass sich diese Wahrnehmungsverzerrungen in lang andauernden Konflikten zu gesellschaftlichen Grundüberzeugungen verdichten, die Bestandteil der psychischen Infrastruktur sind, welche die Mitglieder einer Gesellschaft befähigt, solche Konflikte aushalten zu können.

Diese Grundüberzeugungen beinhalten u.a. den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Sache und die eigene Opferrolle, die Delegitimierung des Feindes und den Glauben an die Aufrechterhaltung von persönlicher und nationaler Sicherheit durch eine Politik der Stärke. Wenn man eine Friedenslösung anstrebt, muss man diese Wahrnehmungsverzerrungen überwinden und die o.g. Grundüberzeugungen (die gleichsam einen »War-Frame« bilden) durch einen anderen Interpretationsrahmen ersetzen: durch einen »Peace-Frame«. Der Peace-Frame gesteht der Gegenseite die Berechtigung der (oder zumindest einiger ihrer) Anliegen zu, anerkennt die beidseitige Opferrolle, hebt die Delegitimierung des Gegners auf und sucht persönliche und nationale Sicherheit durch eine Friedenslösung zu erreichen.

Auch Dritte, die den Konflikt verstehen wollen, stehen vor der Wahl, ihn entweder im Sinne eines War-Frame oder im Sinne eines Peace-Frame zu interpretieren. Dabei sind beide Frames durchaus ambivalent, denn beide versprechen Sicherheit und schaffen zugleich Unsicherheit. Der War-Frame bietet Sicherheit, weil an bewährten Verhaltensmustern festgehalten werden kann, und er schafft Unsicherheit, weil die Fortsetzung der Gewalt droht. Der Peace-Frame bietet Sicherheit, weil er ein Ende der Gewalt verspricht, und er schafft Unsicherheit, weil neue Verhaltensmuster erprobt werden müssen, deren Effektivität noch ungewiss ist.

Entsprechend haben die mentalen Modelle, mittels derer man einen Konflikt zu verstehen sucht, sowohl eine kognitive als auch eine affektive Komponente. Die kognitive Komponente besteht in der Art und Weise, wie man sich zu dem Konflikt positioniert (in welchem Frame und zugunsten welcher Partei?). Die affektive Komponente besteht in der emotionalen Nähe zu dem Konflikt und in der Sensibilität für die Ambivalenz der beiden Frames (vgl. Kempf 2011).

Methodik und Ergebnisse

Der Fragebogen, den wir in unserer Feldstudie verwendet haben, umfasste daher nicht nur eine Reihe von Skalen zur Messung von manifestem, sekundärem und latentem Antisemitismus, Antizionismus, antiisraelischen und antipalästinensischen Einstellungen, sondern auch ein Israelquiz, mittels dessen wir das Wissen über den israelisch-palästinensischen Konflikt erhoben, Skalen zur Erfassung der kognitiven und affektiven Komponenten der mentalen Modelle, mittels derer die Befragten den Konflikt interpretierten, sowie Skalen zur Messung von Pazifismus, Menschenrechtsorientierung und moralischer Ablösung.

Die Datenerhebung fand in der Zeit zwischen Juni und November 2010 statt. Die Stichprobe setzte sich aus einer nach Alter, Geschlecht und Schulbildung für Deutschland repräsentativen Stichprobe von je 499 Befragten aus einem alten (Baden-Württemberg) und einem neuen Bundesland (Thüringen) zusammen sowie aus 464 Teilnehmern einer Online-Befragung, mittels derer es uns nach dem Schneeballprinzip gelang, an aktive Israelkritiker heranzukommen. 86% dieser Teilstichprobe, in der ältere Personen (ab einem Alter von 55) überrepräsentiert waren, verfügten über Abitur oder einen vergleichbaren Schulabschluss, weitere 10% immerhin über einen Realschulabschluss.2

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten – insbesondere in den alten Bundesländern – ein besorgniserregend hohes Potenzial für Antisemitismus in Deutschland:

  • 8% aller Deutschen meinen, dass man mit Juden besser nichts zu tun haben sollte;
  • 14% der Westdeutschen und 11% der Ostdeutschen halten es für eine vertretbare Meinung, dass die Juden selber schuld sind, dass man sie nicht mag;
  • 22% (West) bzw. 17% (Ost) meinen, dass man ja nicht sagen darf, was man über die Juden wirklich denkt;
  • 24% (West) bzw. 14% (Ost) meinen, dass die Juden zu viel Einfluss auf der Welt haben;
  • 26% (West) bzw. 20% (Ost) meinen, dass so mancher Jude aus dem Holocaust heute seinen Vorteil zieht;
  • 47% (West) bzw. 39% (Ost) meinen, dass man mit dem Gerede (!) über unsere Schuld gegenüber den Juden Schluss machen sollte;
  • und wenn man die Frage etwas gemäßigter formuliert sind sogar 53% (West) bzw. 42% (Ost) dafür, dass man einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen sollte.

Auch eine generalisierende Israelkritik, die

  • »den Juden« unterstellt, dass ihnen der Holocaust eine willkommene Rechtfertigung sei, um die Politik Israels zu rechtfertigen (West: 31%; Ost: 21%),
  • davon ausgeht, dass sich Israel ohne die »weltweite Macht des Judentums« nicht so einfach über internationales Recht hinwegsetzen könnte (West: 33%; Ost: 25%) und/oder
  • fordert, dass wir uns von »den Juden« nicht weiterhin unter Druck setzen lassen sollten, die Palästina-Politik Israels unwidersprochen hinzunehmen (West 36%, Ost: 29%), ist in den alten Bundesländern weiter verbreitet als in den neuen.

Hier zeigen sich die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR, die (auch wenn man dies gerne verleugnet) bei der Bekämpfung des Antisemitismus offensichtlich etwas erfolgreicher war als die BRD. Gleichzeitig zeigen sich die Nachwehen des Kalten Krieges aber auch darin, dass die Menschen in den neuen Bundesländern bis heute etwas stärker dazu neigen, Israel die Alleinschuld an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Konflikte im Nahen Osten zu geben (West: 13%; Ost: 19%).

Die Art und Weise, wie sich die Menschen in Deutschland zum israelisch-palästinensischen Konflikt positionieren, fällt deutlich zugunsten der Palästinenser aus. Zwar gibt es eine relativ große Gruppe von Befragten (15% der Quotenstichprobe), die überhaupt keine Position beziehen. Die überwiegende Mehrheit (45%) interpretiert den Konflikt jedoch in einem Peace-Frame mit teilweise pro-israelischer (12%), weit häufiger jedoch mit pro-palästinensischer Tendenz (33%), und eine große Gruppe (21%) interpretiert den Konflikt in einem pro-palästinensischen Frame, der schon sehr deutlich polarisiert und gleichsam an der Schwelle zu einem War-Frame steht. Pro-israelische und pro-palästinensische Hardliner, die den Konflikt in einem War-Frame interpretieren, sind mit 10% bzw. 9% etwa gleich große Minderheiten.

Mit Ausnahme der pro-israelischen Hardliner teilen alle diese Gruppen (selbst jene, die mit Israel sympathisieren) die Auffassung, dass das Ziel der israelischen Politik in der fortgesetzten Unterdrückung und Entrechtung der Palästinenser besteht. Trotzdem werden die palästinensischen Terroranschläge (fast) durchgehend schärfer verurteilt als die israelischen Militäroperationen. Einzige Ausnahme sind die pro-palästinensischen Hardliner, aber auch diese rechtfertigen die Terroranschläge nicht.

Wie wir mittels Latent-Class-Analyse nachweisen konnten, gibt es jedoch zwei verschiedene Formen der Israelkritik, denen völlig entgegengesetzte Motivationssysteme zugrunde liegen (vgl. Kempf, im Druck). Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung (69%) positioniert sich relativ bis sehr stark zugunsten der Palästinenser und kann in zwei Gruppen eingeteilt werden: antisemitische Israelkritiker (zusammen 26%), die starke bis sehr starke antisemitische Vorurteile teilen, sowie Israelkritiker (zusammen 44%), die sich zwar zugunsten der Palästinenser positionieren, antisemitischen Vorurteilen jedoch (fast) durchgehend ablehnend gegenüberstehen. Lediglich eine kleine Teilgruppe der radikalsten unter diesen Kritikern (2%) zeigt vereinzelte antisemitische Vorurteile.

Antisemitische Israelkritik ist typisch für NPD-Wähler, aber auch in der Mitte der Gesellschaft (insbesondere bei den CDU/CSU-Wählern) fest verankert. Bei den Grünen und der Linken kommt sie etwas weniger vor.

31% der deutschen Bevölkerung ergreifen eher eine pro-israelische Position und können ebenfalls in zwei Subgruppen unterteilt werden, deren eine (20%) sich überwiegend in einem pro-israelischen War-Frame positioniert und keine antisemitischen Einstellungen zeigt. Die andere Gruppe (11%) positioniert sich dagegen eher in einem Peace-Frame, bezieht aber meist überhaupt keine Position und zeigt trotz ihrer tendenziellen Unterstützung für Israel einzelne antisemitische Vorurteile.

Der Verdacht, dass wir es bei dieser Gruppe mit latentem Antisemitismus zu tun haben könnten, erhärtet sich dadurch, dass dieses Muster das einzige ist, das sich neben offen antisemitischer Israelkritik auch bei den NPD-Wählern findet, und zwar häufiger als in allen anderen Teilen der Gesellschaft. Auch hier sind es wieder die Wähler der Grünen und der Linken, bei denen sich dieses Muster etwas seltener zeigt.

Stellt man die antisemitischen und nicht-antisemitischen Israelkritiker einander gegenüber, so zeigt sich, dass die nicht-antisemitischen Israelkritiker besser informiert sind und eine größere emotionale Nähe zu dem israelisch-palästinensischen Konflikt zeigen. Ihr Pazifismus ist stärker ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung ist konsistenter. Ihre Positionierung zugunsten der Palästinenser wird umso radikaler, je besser sie über den Konflikt informiert sind, je größer ihre emotionale Nähe zu dem Konflikt ist, je stärker ihr Pazifismus ausgeprägt ist, je konsistenter ihre Menschenrechtsorientierung ist, je mehr sie die Einschränkung von Menschenrechten ablehnen, je weniger sie zu moralischer Ablösung neigen und je stärker sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eintreten.

Bei den antisemitischen Israelkritikern ist es genau umgekehrt. Je radikaler sie sich zugunsten der Palästinenser positionieren, desto schlechter sind sie informiert, desto weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt haben sie, desto geringer ist ihre pazifistische Einstellung, desto inkonsistenter ist ihre Menschenrechtsorientierung und desto weniger treten sie für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Die antisemitischen Israelkritiker zeigen sich generell vorurteilsbeladen. Sie teilen starke antisemitische, antizionistische, antiisraelische und antipalästinensische Einstellungen und positionieren sich weniger radikal zugunsten der Palästinenser als die nicht-antisemitischen Kritiker.

Die nicht-antisemitischen Israelkritiker dagegen lehnen sowohl antisemitische als auch antipalästinensische Vorurteile ab. Die radikaleren unter ihnen zeigen jedoch antizionistische und antiisraelische Einstellungen.

Nicht-antisemitische Israelkritiker, die sich in einem Peace-Frame positionieren, zeigen sich trotzdem besonders sensibel für die Ambivalenz ihres Frames. Sie sind sich des israelischen Sicherheitsdilemmas bewusst oder zeigen sich zumindest unsicher, ob eine Friedenslösung Israel Sicherheit bieten kann. Was sie dazu bringt, sich dennoch in einem Peace-Frame zu positionieren, sind ihr starker Pazifismus und ihre ausgeprägte Menschenrechtsorientierung sowie ihre strikte Ablehnung jeglicher Vorurteile, seien sie nun antisemitischer, antizionistischer, antiisraelischer oder antipalästinensischer Art.

Auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik läuft jedoch Gefahr, in die Entwicklung antisemitischer Vorurteile abzugleiten: Jene unter ihnen, die sich am radikalsten zugunsten der Palästinenser positionieren, spalten sich in zwei Gruppen, von denen eine keinerlei antisemitische Vorurteile zeigt, die andere jedoch zu dem Glauben neigt, dass die Behandlung der Palästinenser in Israel »das wahre Gesicht der Juden zeigt« und dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt (ohne die Israel seine Politik nicht durchsetzen könnte). Deshalb möchten sie auch einen Schlussstrich unter die deutsch-jüdische Vergangenheit ziehen.

Im Vergleich zu den nicht weniger radikalen Israelkritikern, die solche Einstellungen nicht entwickeln, sind sie über den israelisch-palästinensischen Konflikt etwas weniger informiert und haben etwas weniger emotionale Nähe zu dem Konflikt. Ihr Pazifismus ist etwas weniger stark ausgeprägt und ihre Menschenrechtsorientierung etwas weniger konsistent. Sie neigen etwas stärker dazu, Einschränkungen der Menschenrechte zu rechtfertigen, zeigen eine etwas stärkere Tendenz zu moralischer Ablösung und treten etwas weniger stark für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein.

Fazit

Das antisemitische Potenzial in Deutschland ist besorgniserregend. Nicht nur wegen seines Ausmaßes, sondern auch, weil es in der Mitte der Gesellschaft fest verankert ist. Dort und am rechten Rand finden sich nicht nur die antisemitischen Israelkritiker, sondern auch eine Gruppe von Befragten, die sich zum israelisch-palästinensischen Konflikt meist überhaupt nicht positionieren und des latenten Antisemitismus verdächtig sind.

Unter den aktiven Israelkritikern waren diese Muster dagegen nicht zu finden. Die aktiven Israelkritiker und mit ihnen die überwiegende Mehrheit der Deutschen, die sich zugunsten der Palästinenser positionieren, teilen keinerlei antisemitische Vorurteile, sondern kritisieren die israelische Politik in Folge ihres Menschenrechtsengagements und Pazifismus. Während die aktiven Kritiker dazu neigen, sich trotz ihres ausgeprägten Pazifismus in einem pro-palästinensischen War-Frame zu positionieren, sind diese radikalen Spielarten der Israelkritik in der allgemeinen Bevölkerung extrem selten. Diese radikalen Kritiker wählen Die Linke oder Bündnis 90/Die Grünen, und in der Mitte der Gesellschaft (bei den Wählern von CDU, SPD und FDP) finden sie sich überhaupt nicht.

Dass gerade sie es sind, die so oft des Antisemitismus bezichtigt werden, muss zu denken geben. Zum einen entsteht der Verdacht, dass es bei den erhobenen Antisemitismusvorwürfen gar nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus geht, sondern darum, vom tatsächlichen Antisemitismus in Deutschland abzulenken. Zum anderen muss man sich fragen, welche Konsequenzen diese Hexenjagd für die Reanimation antisemitischer Vorurteile haben kann. Wenn man hinreichend naiv ist, fällt es nur allzu leicht, dahinter eine jüdische Weltverschwörung zu sehen. Dass auch ursprünglich nicht-antisemitisch motivierte Israelkritik Gefahr läuft, in die Wiederbelebung antisemitischer Vorurteile abzugleiten, lässt sich angesichts unserer Befunde daher nicht von der Hand weisen.

Literatur

Bar-Tal, D. (1998). Societal beliefs in times of intractable conflict: The Israeli case. The International Journal of Conflict Management, 9/1, S. 22-50.

Bergmann, W., Erb, R. (1991). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland: Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989. Opladen: Leske + Budrich.

Cotler, I. (2006). The disgrace of Durban – five years later. National Post, 12. September 2006, S. A20.

Deutsch, M. (1973). The resolution of conflict. New Haven: Yale University Press.

Frindte, W. (2006). Inszenierter Antisemitismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kempf, W. (2011): Mental Models of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal for the Study of Antisemitism, 3/2, S.101-136.

Kempf, W. (im Druck). Anti-Semitism and the criticism of Israel: Methodology and results from a survey in Germany. In: Baum, S. K. and Cohen, F. (eds). Antisemitism in North America. Theory, Research and Methodology. Leiden, The Netherlands: Brill.

Krell, G. & Müller, H. (2012). Noch ein Krieg im Nahen Osten? Zum misslungenen Anstoß von Günter Grass zu einer überfälligen öffentlichen Debatte. HSFK Report 2/2012.

Mattusek, M. (2013). Die Gefahr droht nicht von ewig gestrigen Nazi-Rülpsern, sondern aus dem linken Milieu. Idea-Spektrum 4, 24. Januar 2013, S.15.

Melzer, A. (2011): Eine Debatte, die keine war, über Antisemitismus, der keiner ist. Protokoll einer Hexenjagd im Deutschen Bundestag. Der Semit, 3/Sondernummer 1/2011, S.4-31.

Anmerkungen

1) In Durban/Südafrika fand vom 31.8.-7.9.2001 die »World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance« statt.

2) Für einzelne Analysen konnten wir zusätzlich auf eine Stichprobe aus vor allem jüngeren Personen mit guter Schulbildung (Abitur oder vergleichbarer Schulabschluss) und/oder auf die Daten aus drei experimentellen Studien zurückgreifen, die im Rahmen des Projektes durchgeführt wurden.

Prof. Dr. Wilhelm Kempf ist emeritierter Professor für Psychologische Methodenlehre und Friedensforschung an der Universität Konstanz und Herausgeber des »open access«-Journals »conflict & communication online« (www.cco.regener-online.de).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/3 Jugend unter Beschuss, Seite 37–40