Kai Ambos (2024): Apartheid in Palästina? Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung. Neu-Isenburg: Westend-Verlag, ISBN 978-3-9499-2524-5, 256 S., 25 €.
Ein Buch über die Frage, ob es Apartheid in Palästina gibt, mag in der Zeit, in der der durch den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 ausgelöste furchtbare Krieg Israels im Gazastreifen die Frage des Völkermordes in den Vordergrund gestellt hat, zweitrangig erscheinen. Doch gleichzeitig hatte sich der Internationale Gerichtshof in einem Gutachten zur Rechtmäßigkeit und dem Status der israelischen Besatzung, welches die UNO-Generalversammlung schon im Dezember 2022 in Auftrag gegeben hatte, gerade mit dieser Frage der Apartheid auseinanderzusetzen. Dort rügt er u.a. auch die Verletzung von Artikel 3 des »Antidiskriminierungsabkommens« von 1965, in dem Segregation und Apartheid verboten werden. Insofern kommt das Buch »Apartheid in Palästina?« von Kai Ambos, Professor an der Universität Göttingen und anerkannter Spezialist des Völkerrechts und Internationalen Strafrechts, zum richtigen Zeitpunkt.
Apartheid in Südafrika
Apartheid war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der weithin auch offiziell anerkannte Begriff für das südafrikanische Regime der Unterdrückung und rassistischen Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung durch die weißen Siedler*innen. Südafrika war das von der UNO am häufigsten verurteilte Land, aber nur einmal angeklagt vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Liberia und Äthiopien hatten 1960 Klage gegen Südafrika wegen der Ausdehnung der Apartheid auf Südwestafrika erhoben, welches es für die Mandatsmacht Großbritannien verwaltete. Eine strafrechtliche Verfolgung war noch nicht möglich, da Apartheid erst 1998 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgenommen wurde. Als Apartheid 1994 mit der Wahl Mandelas zum Präsidenten in Südafrika abgeschafft wurde, rückte Israel von der zweiten an die erste Stelle als am häufigsten durch die UNO verurteiltes Land wegen der Unterdrückung, des Landraubs und der rassistischen Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung in den 1967 besetzten Gebieten. 1975 verurteilte die UNO-Vollversammlung mit großer Mehrheit die Staatsideologie Israels, den Zionismus, als eine Form des Rassismus. Die Resolution wurde zwar 1991 wieder zurückgenommen, aber das änderte an der rassistischen Unterdrückung und kolonialen Herrschaft nichts, die fortbestanden.
Allerdings konnte sich der Begriff der Apartheid zur Bezeichnung des israelischen Besatzungsregimes bis weit in das neue Jahrtausend nicht durchsetzen, obwohl die UNO-Vollversammlung schon 1965/1969 in ihrem Antidiskriminierungsabkommen Apartheid als „Regierungspolitik, die mit rassischer Überlegenheit oder Hass begründet ist“, definierte und damit von dem südafrikanischen Vorbild abkoppelte und verallgemeinerte. Das änderte sich auch nicht, als die 1973 verabschiedete Anti-Apartheid-Konvention die Definition der Apartheid konkretisierte als „unmenschliche Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“. Der Widerstand dagegen, Israels Besatzungspolitik als Apartheid einzuordnen, war international verbreitet und ist auch heute noch in Regierung und Politik vorherrschend. In der UNO ist diese Qualifizierung heute jedoch weit verbreitet, insbesondere nachdem die Reihe von Sonderbeauftragten des UNO-Menschenrechtsausschusses, alles hervorragende Jurist*innen von John Dugard über Richard Falk,Virginia Tilley, Michael Lynk bis Francesca Albanese, aufgrund ihrer Recherchen in Palästina sich festgelegt haben, dass die Besatzung ein System der Apartheid etabliert hat.
Apartheid als juristischer Tatbestand
Angesichts der Hartnäckigkeit, Apartheid in Israel zu leugnen und als Diffamierung, eine Delegitimierung Israels und als antisemitisch abzulehnen, ist es zu begrüßen, dass der Westend-Verlag das Buch von Kai Ambos, eine „historisch-völkerrechtliche Untersuchung“, herausgegeben hat. Um es vorweg zu nehmen: eine lohnende Lektüre, lehrreich, analytisch, informativ und auch für Nichtjurist*innen gut lesbar, wenn man sich auf die 123 Seiten Text konzentriert und die 775 Anmerkungen auf weiteren 85 Seiten der jeweiligen Neugier überlässt.
Das Fragezeichen im Titel hätten Autor und Verlag weglassen können, es ist wohl eher der deutschen Empfindlichkeit geschuldet. Wenn der Autor zum Ergebnis kommt, dass es sich „gut vertreten lässt, dass in den besetzten Gebieten ein institutionalisiertes (Apartheid-)Regime existiert“ (S. 123), dann befindet er sich in guter juristischer Gesellschaft und braucht kein Fragezeichen. Sein Vorbehalt, dass es von den Umständen des Einzelfalles abhängt, „ob ein Apartheidvorwurf gegen einen bestimmten Angeklagten vor einem unabhängigen Gericht Bestand haben kann“ (S. 123), ist selbstverständlich, ohne den Tatbestand der Apartheid selbst in Frage zu stellen.
Wichtig für die gegenwärtige Diskussion ist, dass der Autor mit seiner Abhandlung nachweisen kann, dass Apartheid ein juristisch fassbarer Tatbestand ist (Teil I), ein Rechtsbegriff mit einer konkreten Geschichte (Teil II) und schließlich ein völkerrechtliches Verbot und Verbrechen mit jeweils unterschiedlichen gerichtlichen Folgen (Teil III). Damit wird dem verbreiteten Versuch, den Vorwurf der Apartheid als politische Propaganda oder Antisemitismus zu entwerten, der Boden entzogen.
Das Verbot stützt sich auf Art. 3 des Antidiskriminierungsabkommens und ist inzwischen Völkergewohnheitsrecht. Apartheid als Verbrechen ist in dem Katalog der Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Art. 7 Abs. 1 Ziff. J des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes und in Art.1 der Anti-Apartheid Konvention, die 1976 in Kraft trat, verankert. Bisher ist dort jedoch noch keine Anklage erhoben worden.
Im zweiten Teil seiner Schrift (ab S. 35) geht Ambos auf die Geschichte der Apartheid in Südafrika ein und erörtert die manifesten Unterschiede zur Situation der Unterdrückung und Diskriminierung in Palästina, die aber gleichwohl als ein System der Apartheid bezeichnet werden können. Damit belegt er die Selbständigkeit des Tatbestandes Apartheid gegenüber dem historischen Referenzfall Südafrika und nimmt den Kritiker*innen ein weiteres Argument aus der Hand, die aus der Unvergleichbarkeit der Situation in Palästina mit Südafrika die Anwendbarkeit des Begriffs auf die besetzten Gebiete ablehnen. Der Autor weist zudem auf die Vertreibung und Unterdrückung der Rohingya in Myanmar hin, die Amnesty International (AI) als weiteren Fall der Apartheid anprangert.
Apartheid unter Strafe gestellt
Der dritte Teil der Studie (ab S. 87) ist dem Völkerstrafrecht und der Analyse des Apartheidverbrechens gewidmet. Hier finden wir in Art. 7 Abs. 2 h IStGH-Statut auf der Basis der Definition der Anti-Apartheid-Konvention die detaillierteste Definition der Apartheid als „unmenschliche Handlungen ähnlich wie die in Abs. I genannten, die von einer rassischen Gruppe in Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer anderer rassischer Gruppen in der Absicht begangen werden, dieses Regime aufrechtzuerhalten“. Während Ambos in dem Tatbestandsmerkmal „unmenschliche Handlungen“ keine besonderen Interpretationsschwierigkeiten sieht, ist das bei dem „institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung“ sowie bei der „rassischen Gruppe“ komplizierter (vgl. S. 90ff.). Insbesondere ist es die Wendung „rassische Gruppe“, die Schwierigkeiten der Identifikation aufwirft (S. 99ff.). Obwohl der Rassebegriff gerade im juristischen Verkehr immer noch sowohl national – im Grundgesetz – wie auch international zu finden ist, wird er in der Soziologie und Anthropologie für Menschen wegen seiner willkürlichen und diskriminierenden Möglichkeiten abgelehnt. Ambos diskutiert die verschiedenen Ansätze, diesen überholten Begriff dennoch juristisch verwertbar zu machen, was letztlich nur durch Umwidmung in ein soziales Konstrukt etwa der „Andersartigkeit“ gelingen kann (vgl. S. 104). Für die Unterscheidung von Juden und Arabern ergeben sich in dieser Lesart keine Schwierigkeiten.
Schwierigkeiten hat Ambos dann aber mit dem subjektiven Tatbestandsmerkmal „Absicht der Aufrechterhaltung“ eines institutionalisierten Apartheidregimes (vgl. S. 106ff.). Das setzt vor allem voraus, dass der Täter gewusst hat, dass sein Handeln Teil eines solchen Apartheidregimes war. Der Nachweis mag im Einzelfall schwierig und eventuell nicht möglich sein. Das hat aber mit der Titelfrage des Buches »Apartheid in Palästina?« nichts zu tun. Die Unmöglichkeit, eine „Absicht der Aufrechterhaltung des Regimes“ im Einzelfall nachweisen zu können, entscheidet nicht darüber, ob Israel in den besetzten Gebieten ein Regime der Apartheid etabliert hat. Das hat der Autor trotz des Fragezeichens im Titel offensichtlich und zu Recht bejaht.
So klar und überzeugend Ambos auch in allen Fragen argumentiert, es ist nicht zu erwarten, dass er die Mauer der politischen Ablehnung des Apartheid-Vorwurfs wird durchbrechen können. Das Buch wird aber zur Versachlichung der Diskussion führen und die Möglichkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung eröffnen.
Dies ist eine vom Autoren leicht veränderte Fassung seiner Rezension, die zuerst erschien als: Norman Paech, Apartheid in Palästina?, Völkerrechtsblog, 27.07.2024, doi: 10.17176/20240727-151946-0.
Norman Paech ist emeritierter Professor für Verfassungsrecht und internationales Recht der Universität Hamburg. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der IALANA und der IPPNW. Von 2005-2009 saß er für »Die Linke« im deutschen Bundestag.