W&F 2002/3

Atomwaffen abschaffen – bei uns anfangen!

Zum Hintergrund einer Bewegung

von Wolfgang Sternstein

Als Anfang dieses Jahres Einzelheiten der neuen Nuklearwaffenplanung der Bush-Administration bekannt wurden, dürfte vielen ZeitgenossInnen (wieder einmal) gedämmert haben, dass die »atomare Drohung« (Günther Anders) keineswegs gebannt ist. Mit dem zwischenzeitlich geschlossenen »Abrüstungsvertrag« zwischen den USA und Russland hat sich jedoch vermutlich die Decke des Nicht-wissen-Wollens oder des fahrlässigen Vertrauens in die Regierenden schon wieder zugezogen. Auf kleiner Flamme aber glüht der Widerstand gegen das fortgesetzte perverse Spiel mit der »absoluten Waffe« (B. Brodie) weiter. Der folgende Bericht eines Exponenten dieses Widerstands ist auch ein Beitrag gegen die Schwankungen des öffentlichen Problembewusstseins.
Ein sonniger Frühlingstag im April. Eine Gruppe Wanderer durchstreift den Wald auf dem Weg ins nächstgelegene Gasthaus. So zumindest scheint es. Doch der Schein trügt. Denn plötzlich verwandeln sich die Wanderer in FriedensaktivistInnen, deren Ziel nicht ein Gasthaus, sondern der Fliegerhorst Büchel (Südeifel) ist, auf dem zehn amerikanische Atombomben lagern, die im Kriegsfall von deutschen Tornado-Piloten ans Ziel geflogen werden sollen.

Eine Aktion

Die fünf Frauen und zwei Männer, begleitet von einem Fotografen und einem Beobachter, überqueren mit raschen Schritten einen schmalen Wiesenstreifen und tauchen in ein Waldstück unmittelbar am Zaun des Fliegerhorsts ein. Sie durchtrennen den Zaun von unten nach oben und schieben ihn auf dem Spanndraht nach links und rechts zur Seite, so dass ein breiter Durchgang entsteht. Danach betreten sie das Gelände und entfalten auf der parallel zum Zaun verlaufenden Straße Transparente mit den Texten: Völkerrecht achten – Atomwaffen abschaffen Atombomben in Büchel = 100 X Hiroshima Ziviler Ungehorsam gegen Atomwaffen Deutsche Tornados mit US-Atomwaffen – bereit zum Massenmord

Sie singen, begleitet von einer weithin hörbaren Trompete, das bekannte Friedenslied: „Nach dieser Erde wäre da keine, die eines Menschen Wohnung wäre. Darum Menschen achtet und trachtet, dass sie es bleibt. Wem denn wäre sie ein Denkmal, wenn sie still die Sonne umkreist?“

Nach einigen Minuten zeigt sich in der Ferne ein Bundeswehr-PKW. Der Fahrer hält an und ruft offenbar über Funk Verstärkung herbei. Jedenfalls nähern sich von beiden Seiten Bundeswehrfahrzeuge. Feldjäger und Soldaten steigen aus. Sie betrachten die Gruppe mit verhaltener Neugier. Der Fahrer des PKW tritt auf die Gruppe zu und stellt sich als stellvertretender Kommodore des Tornado-Geschwaders vor. Später trifft die Polizei ein. Die Atmosphäre ist entspannt, denn die Aktion war dem Kommodore, der Polizei, dem Bundeskanzler, dem Verteidigungs- und dem Außenminister sowie dem Botschafter der USA brieflich angekündigt und begründet worden. Mit erheblichem Aufwand versuchten Polizei und Bundeswehr sie zu verhindern, was ihnen letztlich aber doch nicht gelang.

Ein Bundeswehrbus bringt die AktivistInnen zur Polizeiwache nach Cochem, wo sie erkennungsdienstlich behandelt werden, soweit sie die Prozedur nicht schon bei früheren Aktionen hinter sich gebracht haben. Sie müssen mit einer Geldstrafe wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch rechnen. Zwei Mitglieder der Gruppe haben längere Gefängnisstrafen zu gewärtigen. Sie waren wegen einer früheren Aktion bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

In der Pressemitteilung der Gruppe heißt es: Wie allgemein bekannt, seien in Büchel zehn amerikanische Atombomben stationiert. Darin liege ein Verstoß gegen Art. II des Nichtverbreitungsvertrags, der die Bundesrepublik verpflichte, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen. Die nukleare Teilhabe der Bundeswehr stelle ohne Zweifel eine mittelbare Verfügungsgewalt über Kernwaffen dar. Die Bundesregierung verhalte sich folglich permanent völkerrechtswidrig. Sie verstoße darüber hinaus gegen Art. VI des Vertrags, der jede Vertragspartei zu Verhandlungen verpflichte „über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung… unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“.

Die gewaltfreie Aktion der Gruppe richtete sich darüber hinaus gegen die Pläne der Bush-Administration, Mini-Nukes als Gefechtsfeldwaffen einzusetzen. Damit würde nach ihrer Einschätzung der Damm zwischen dem Atomkrieg und dem konventionellen Krieg endgültig eingerissen.

Das Ziel der AktivistInnen ist eine atomwaffenfreie Bundesrepublik als Deutschlands Beitrag zu einer atomwaffenfreien Welt. Deshalb fordern sie den Abzug der in Büchel und Ramstein (Rheinland-Pfalz) gelagerten insgesamt 64 Atombomben mit einer Sprengkraft von 600 Hiroshimabomben. Sie können sich auf die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung berufen. Eine repräsentative Umfrage des forsa-Instituts vom Juni 1998 kam zu dem Ergebnis: 93 Prozent der Bürger halten Atomwaffen für grundsätzlich völkerrechtswidrige Waffen, die weder produziert noch gehortet werden dürften. Ebenfalls sehr hoch ist der Anteil der Bürger, die der Aussage zustimmen, dass die Bundesregierung dafür sorgen sollte, dass die auf deutschem Boden gelagerten Atomwaffen umgehend beseitigt werden (87 Prozent).

Wie können, so mag man trotzdem fragen, die AktivistInnen das Gesetz übertreten, um das Recht zu verteidigen? Ist das nicht ein vollendeter Widerspruch? Gegen solche Bedenken beruft man sich vor allem auf Gandhi, der erklärte: „Ziviler Ungehorsam wird zu einer heiligen Pflicht, wenn der Staat den Boden des Rechts (d.h. des Menschen- und des Völkerrechts – W.S.) verlassen hat.“ (Gandhi, 1980, S. 141)

Der Fliegerhorst Büchel war in den vergangenen Jahren wiederholt Ziel solcher Aktionen des zivilen Ungehorsams. Dreimal drangen Friedensgruppen in das Gelände ein. Insgesamt 29 Personen wurden festgenommen und wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung verurteilt. Gegen die Verurteilungen sind drei Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig.

Die Kampagne

Soweit der kurze, »objektive« Bericht über die fünfte Aktion des zivilen Ungehorsams am Fliegerhorst Büchel. Um diese Aktion wirklich zu verstehen, ist es nötig, sie in den größeren Rahmen der Friedensbewegung zu stellen.

Vor zwanzig Jahren erlebte die Friedensbewegung im Kampf gegen die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen Pershing 2 und Cruise Missiles einen Höhepunkt ihrer Geschichte. Der gewaltfreie Widerstand breiter Bevölkerungskreise gegen die »Nachrüstung«, der den Teufelskreis des Wettrüstens durchbrechen sollte, beherrschte monatelang die Medienöffentlichkeit. Ortsnamen wie Mutlangen, Heilbronn, Neu-Ulm in Süddeutschland (Pershing 2) oder Hasselbach im Hunsrück (Cruise Missiles) waren weit über die Bundesrepublik hinaus bekannt. Es gab den »Krefelder Appell« mit mehreren Millionen Unterschriften. Es gab Massenversammlungen in Bonn mit bis zu 300.000 Teilnehmern und eine Menschenkette über 108 Kilometer, die die amerikanische Kommandozentrale EUCOM bei Stuttgart mit dem Pershing-2-Standort Neu-Ulm verband. Es gab aber auch eine Vielzahl gewaltfreier Aktionen des zivilen Ungehorsams.

Den Auftakt bildete die einwöchige Rund-um-die-Uhr-Blockade des Lance-Atomraketen-Depots Golf bei Großengstingen auf der Schwäbischen Alb im Sommer 1982 (mit 380 Festnahmen und zahlreichen Gerichtsverfahren wegen Nötigung). Ihr folgte im Dezember des gleichen Jahres die Blockade des EUCOM (350 Festnahmen). Anfang September 1983 kam es zur berühmten »Prominentenblockade«, an der sich u.a. Heinrich Böll, Günter Grass, Oskar Lafontaine, Erhard Eppler, Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer, Dietmar Schönherr, Barbara Rütting u.a. beteiligten. Die Polizei räumte die Blockade nicht. Die Verbindung zum Raketendepot wurde drei Tage lang mit Hubschraubern aufrechterhalten. Vom damaligen baden-württembergischen Innenminister Roman Herzog ist der Ausspruch überliefert: „Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll von Polizisten von der Straße tragen zu lassen.“

Nachdem Ende November 1983 gegen den massiven Widerstand großer Teile der Bevölkerung die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen durchgesetzt worden war, geriet die Friedensbewegung in die Krise. Eine Gruppe Tübinger Studenten ließ sich indes nicht entmutigen. Sie gründeten die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung, die eine Vielzahl von Blockaden auf dem Zufahrtsweg zum Raketendepot in Mutlangen organisierte (vgl. Nick, Scheub & Then, 1993). Senioren, Musiker, ja selbst Richter nahmen auf der Zufahrtsstraße Platz und riskierten empfindliche Geld- und Haftstrafen. Die Zahl der bei Blockaden Festgenommenen summierte sich auf mehr als dreitausend. Schließlich sind noch zwei Pflugscharaktionen (1983 und 1986) zu erwähnen, bei denen jeweils eine Pershing-2-Zugmaschine mit Hämmern und Bolzenschneidern abgerüstet wurde (vgl. Sternstein, o.J.).

Für mich besteht kein Zweifel, dass die Friedensbewegung der achtziger Jahre zum Abschluss des INF-Vertrags, der die Verschrottung sämtlicher landgestützter Mittelstreckenraketen in Ost und West (wenn auch leider nicht der Sprengköpfe) zum Inhalt hatte, beigetragen hat. Das Hauptverdienst an dem Vertrag und der dadurch ausgelösten Entwicklung gebührt zweifellos Michail Gorbatschow. Ohne ihn hätte der Kalte Krieg wohl kaum ein so unblutiges Ende gefunden, ganz zu schweigen von der Auflösung des Warschauer Pakts, dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der deutschen Wiedervereinigung. Doch wäre Gorbatschow ohne die deutsche Friedensbewegung wohl kaum 1985 zum Generalsekretär des KPdSU gewählt worden. Für diese Behauptung habe ich einen glaubwürdigen Zeugen, den Gorbatschow-Berater und Nordamerika-Experten Georgij Arbatow, der auf einem Symposium in den USA erklärte: „Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen.“ (zitiert nach Bittorf, 1990, S. 75).

Nach dem Abzug und der Verschrottung der neuen Mittelstreckenraketen schien es mir selbstverständlich, als nächsten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden nuklearen Abrüstung die noch in Deutschland gelagerten Atomwaffen auf die Tagesordnung der Friedensbewegung zu setzen. Meine Bemühungen, die Organisatoren der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung für dieses Ziel zu gewinnen, blieben jedoch ohne Erfolg. Noch heute bin ich überzeugt, es wäre schon damals bei gehöriger Anstrengung möglich gewesen, eine atomwaffenfreie Bundesrepublik zu erreichen. Die 64 atomaren Fliegerbomben, die noch in Ramstein und Büchel lagern, machen ja militärisch keinen Sinn; sie sind lediglich Bestandteil einer überholten Nato-Doktrin der nuklearen Abschreckung gegen die Warschauer-Pakt-Staaten. So blieb nur die Alternative, entweder zu resignieren oder in eigener Initiative eine Organisation ins Leben zu rufen, die das nach meiner Überzeugung unaufgebbare Ziel zu erreichen sucht.

So entstand 1988 die EUCOMmunity (vgl. Sternstein, o.J.). Sie entwickelte eine eigene Aktionsform: die »Entzäunungsaktion«. Die spezifische Aktionsform der Anti-AKW-Bewegung der siebziger Jahre war die Platzbesetzung gewesen. Sie war am Oberrhein in drei Fällen (Marckolsheim, Wyhl und Kaiseraugst) erstaunlich erfolgreich gewesen, konnte jedoch nach 1975 keine Erfolge mehr verbuchen, da die AKW-Bauplätze zu wahren Festungen ausgebaut wurden. Die charakteristische Aktionsform des Widerstands gegen die Nachrüstung war die Straßenblockade. Sie erwies sich als durchaus wirksames Mittel, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und den Militärbetrieb zu stören. Diese »Waffe« des zivilen Ungehorsams wurde jedoch teilweise stumpf, nachdem das Bundesverfassungsgericht 1995 die Anwendbarkeit des Nötigungsparagrafen auf demonstrativ friedliche Sitzblockaden verneint hatte.

Die »Entzäunungsaktion« wurde inspiriert von einer Aktion der »Frauen von Greenham Common«, die den Zaun um das Gelände des englischen Cruise-Missiles-Standorts Greenham Common auf weite Strecken niedergelegt hatten, und weiterhin von der englischen »Snowball Campaign«. Bei dieser Kampagne rüsteten sich die Teilnehmer mit Drahtscheren aus, um jeweils eine Masche des Maschendrahts durchzuschneiden; dadurch sollte die Verantwortung für die Entzäunung auf möglichst viele Schultern verteilt werden.

Das Grundmuster der deutschen Entzäunungsaktionen sieht folgendermaßen aus: Die Gruppe der AktivistInnen geht nach gründlicher Vorbereitung an den Zaun des Militärgeländes und schneidet ihn in seiner ganzen Höhe auf, um einen »öffentlichen Zugang« von etwa drei Meter Breite zu schaffen. Danach gehen sie mit Transparenten auf das Gelände, um Blumen zu pflanzen, Getreide zu säen oder ein »Fest der Hoffnung« zu feiern. Sie bekräftigen auf diese Weise ihre Forderung, das militärische »Todesland« in zivil genutztes »Lebensland« umzuwandeln.

Strafrechtlich gesehen, handelt es sich um Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Die Aktivisten durchbrechen bewusst die psychische Barriere, die der amerikanische Pfarrer Bill Kellerman mit folgenden Worten treffend beschrieben hat: „Die Macht des Stacheldrahts liegt nicht so sehr in der physischen Barriere, die er darstellt, als in der Gewalt, die er definiert und ausstrahlt. Der Draht wird als heilig verehrt. Er ist ein kleiner Götze, aufgestellt, um die Schwelle zum profanen »heiligen« Bereich zu markieren und zu bewachen. Wir verneigen uns vor seiner Macht, indem wir uns abwenden. An diesem Punkt endet alles Sehen, Denken und Fragen. Es handelt sich in der Tat um eine Schranke für das Bewusstsein selbst.“

Die erste Entzäunungsaktion am EUCOM fand am 29. September 1990 statt. An ihr beteiligten sich 10 Personen. In den darauf folgenden Jahren fanden weitere sieben Aktionen statt, bei denen die Teilnehmerzahl zwischen sieben und dreiundzwanzig schwankte. Hinzu kamen zwei Blockadeaktionen mit insgesamt 141 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Schließlich ist noch ein »Die in« mit zehn Personen am Karfreitag 2002 zu erwähnen.

1994 wurde der Trägerkreis der Kampagne »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Ihm gehören fast alle großen Friedensorganisationen in Deutschland an. Er ist wiederum Bestandteil des weltweiten Netzwerks Abolition 2000. Der Trägerkreis beschränkt sich jedoch im Wesentlichen auf Öffentlichkeitsarbeit und Lobbytätigkeit.

1996 nahm die »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« ihre Tätigkeit auf. Sie ging aus der Atomteststopp-Kampagne hervor, die nach dem Abschluss des »Umfassenden Atomteststoppvertrags« ihr Kampagnenziel als erreicht ansah. Während sich EUCOMmunity in erster Linie um das EUCOM kümmerte, konzentrierte sich die »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« auf den Atomwaffenstandort Büchel in der Südeifel. Ihr Markenzeichen ist die »Ehrenamtliche Inspektion im Auftrag des Internationalen Gerichtshofs«. Dieser hatte in einem Gutachten vom Juli 1996 Atomwaffen für generell völkerrechtswidrig erklärt und noch einmal nachdrücklich die (Selbst-) Verpflichtung der Vertragsstaaten des Nichtverbreitungsvertrags zur vollständigen atomaren Abrüstung angemahnt (vgl. Deiseroth, 1996). Die »Ehrenamtlichen Inspekteure« betreten das Gelände des Fliegerhorsts, nachdem sie den Zaun überstiegen oder durchschnitten haben, um festzustellen, ob Atomwaffen auf dem Fliegerhorst gelagert sind, und, falls das der Fall ist, ihren Abzug zu fordern. Die Aktionsidee stammt aus Holland, wo sie zum ersten Mal am Atomwaffenstandort Voelkel praktiziert worden war.

Am Fliegerhorst Büchel, wo deutsche Tornado-Piloten mit amerikanischen Atombomben den Kriegseinsatz üben, fanden insgesamt fünf gewaltfreie Aktionen statt. Die drei ersten waren erfolgreich, die vierte am 30. September 2001 scheiterte, da aufgrund der Terroranschläge vom 11. September in den USA auf beiden Seiten der Barrikade spürbare Nervosität herrschte. Die fünfte Aktion am 7. April 2002 habe ich eingangs kurz geschildert.

Zwischen den drei Friedensorganisationen »Ohne Rüstung Leben«, EUCOMmunity und »Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen« hat sich in den vergangenen Jahren eine intensive Zusammenarbeit entwickelt. Darüber hinaus besteht eine enge Verbindung zum Trägerkreis der Kampagne Atomwaffen Abschaffen.

Und der Effekt?

Was haben wir erreicht? Schwer zu sagen, denn jede Einschätzung des Effekts ist zweifellos subjektiv gefärbt. Trotzdem sei eine solche Einschätzung versucht:

Erstens: Der wichtigste Gesichtspunkt scheint mir die Einübung gewaltfreien Verhaltens bei den TeilnehmerInnen zu sein. Wenn der Grundsatz des »learning by doing« auch für gewaltfreies Handeln gilt, dann haben die Teilnehmer Zivilcourage, Konfliktfähigkeit und Zusammenarbeit in Bezugsgruppen erlernt und ein Training in gewaltfreier Aktion mit Praxisbezug absolviert. Sie haben Erfahrungen gesammelt bei der Planung, Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von gewaltfreien Aktionen.

Zweitens: Durch die TeilnehmerInnen werden Verwandte, Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte mit dem gewaltfreien Widerstand gegen Atomwaffen konfrontiert und zur Stellungnahme herausgefordert.

Drittens: Über die Organisationen Ohne Rüstung Leben, EUCOMmunity und Gewaltfreie Aktion Atomwaffen Abschaffen werden einige tausend Mitglieder angesprochen, von denen sich viele durch Unterschriften, Beteiligung an Demonstrationen und Spenden aktiv am gewaltfreien Widerstand beteiligen. Sie sind zugleich das Reservoir für die Rekrutierung weiterer AktivistInnen.

Viertens: Die mit den Aktionen verbundene Öffentlichkeitsarbeit klärt viele Bürgerinnen und Bürger über die Existenz von Atomwaffen auf deutschem Boden auf und macht sie mit dem gewaltfreien Widerstand dagegen bekannt.

Fünftens: Die Auseinandersetzung vor den Gerichten ist schwer einzuschätzen. Die große Mehrzahl der zivil Ungehorsamen wurde verurteilt. Ein Stuttgarter Amtsrichter sprach die siebenköpfige Gruppe der dritten Entzäunungsaktion am EUCOM frei, weil er überzeugt war, ihre Tat sei gerechtfertigt. Das Urteil wurde jedoch vom Oberlandesgericht Stuttgart aufgehoben und ans Amtsgericht zur Neuverhandlung zurückverwiesen. Derselbe Amtsrichter legte den Fall bei einem späteren Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vor. Es wies die Vorlage jedoch ab. Zur Zeit sind, wie bereits erwähnt, drei Verfassungsbeschwerden gegen Verurteilungen durch das Amtsgericht Cochem anhängig. Noch glimmt also ein Hoffnungsfunke für eine positive Entscheidung.

Sechstens: Ob auf unsere unmittelbaren Gegner in der Aktion, die Polizisten, Soldaten und Juristen ein messbarer Einfluss ausgeübt wurde, ist schwer zu sagen. Das Verhältnis zu unseren Gegnern ist in der Regel freundlich und entspannt. Ohnehin lassen sich gewaltfreie Aktivisten durch negative Reaktionen der Gegenseite nicht entmutigen. Sie setzen auf die langfristige Wirkung dessen, was Gandhi Wahrheitskraft (Satjagrah) nannte. Ungeachtet der Ernsthaftigkeit unseres Anliegens hat die Auseinandersetzung auch eine sportliche, ja spielerische Seite. Schaffen wir es hineinzukommen, oder gelingt es der Polizei die Aktion zu verhindern? Wir versäumen es auch nie, unsere Gegner ausführlich über unsere Motive, Methoden und Ziele zu unterrichten. Wir wollen sie dabei nicht missionieren, sondern lediglich Verständnis für unser Anliegen wecken.

Siebtens: Noch schwerer ist es einzuschätzen, ob auf die eigentlichen Adressaten unserer Aktionen, die Politiker und die Parteien, ein messbarer Einfluss ausgeübt werden konnte. Solange nicht weite Kreise der Bevölkerung ihr Wahlverhalten von der Antwort der Politiker und Parteien auf diese Frage abhängig machen, ist nicht damit zu rechnen, dass wir mit unserem Anliegen von den Entscheidern ernst genommen werden.

Die Friedensbewegung hat die Krise, in die sie nach dem Ende des Kalten Krieges geriet, noch immer nicht überwunden. Dennoch habe ich nicht den Schatten eines Zweifels, dass es ihr möglich wäre, das Ziel einer atomwaffenfreien Bundesrepublik mit den Mitteln der gewaltfreien Aktion zu erreichen – vorausgesetzt, sie hat den ernsthaften Willen dazu!

Literatur

Bittorf, W. (1980): Giftgas ging – Unrecht bleibt. Über die andauernden Strafprozesse gegen Friedenskämpfer, in: Der Spiegel, 44, Nr. 44, S. 72-77.

Bundesverfassungsgericht (1995): Beschluss vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718/89, 719/89, 722/89, 723/89,in: Neue Juristische Wochenschrift, 48, 1141-1144.

Deiseroth, D. (1996): Atomwaffeneinsatz ist völkerrechtswidrig. Der Internationale Gerichtshof bezieht Position,in: Wissenschaft und Frieden, 14 (3), 78-81.

Gandhi, M.K. (1980): Die Lehre vom Schwert und andere Aufsätze aus den Jahren 1919-1922, Oberwil b. Zug.

Nick, V., Scheub, V. & Then, C. (1993): Mutlangen 1983-1987. Die Stationierung der Pershing II und die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung, Mutlangen.

Sternstein, W. (Hrsg.) (o.J.): »Abrüstung von unten. Die Pflugscharbewegung in den USA und in Europa« – »Pershings zu Pflugscharen. Dokumente einer Abrüstungsaktion« – »Die EUCOMmunity. Initiative für eine atomwaffenfreie Welt. Eine Dokumentation«. Alle drei Broschüren sind zu beziehen vom Herausgeber: Hauptmannsreute 45, 70192 Stuttgart, Tel.: 0711-29 38 74.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher, der sieben Mal für seine gewaltfreien Aktionen inhaftiert wurde

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/3 Welt(un)ordnung, Seite