W&F 2005/2

Atomwaffensperrvertrag vor dem Aus?

von Jörg Welke

Vom 2. bis 28. Mai 2005 tagt in New York die nächste Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung sind nicht gerade vielversprechend. Auf den Vorbereitungskonferenzen in den letzten drei Jahren haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung einigen können. Keine der »Atommächte« ist offensichtlich bereit die Verpflichtung zur totalen nuklearen Abrüstung, die beim Abschluss des Vertrages zugesagt wurde, zu erfüllen. Setzen wir einmal voraus, dass es nicht zum »offenen Scheitern« des Vertragswerks kommt – da hieran vor allem die Atomwaffen besitzenden Staaten kein Interesse haben – so bleibt die Frage in welche Richtung ein zu erzielender Kompromiss tendiert.

New York im Mai 2020: Unglaubliche Menschenmassen feiern ausgelassen in den Straßen Manhattans, vor dem UN-Gebäude ist kein Durchkommen mehr, strahlende Gesichter wohin man auch schaut. Dann ist es soweit. Der amtierende UN-Generalsekretär verkündet feierlich: „Der letzte Atomsprengkopf auf dieser Erde ist entschärft und wird in seine Bestandteile zur Verschrottung zerlegt. Die Ära der nuklearen Bedrohung ist beendet.“ Zehn Jahre zuvor hatten sämtliche Atomwaffenstaaten mit der Auflösung ihrer nuklearen Arsenale begonnen. Nach weiteren fünf Jahren hatten sie sich während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages (Nichtverbreitungsvertrag, NVV) auf Verhandlungen zur weltweiten atomaren Abrüstung geeinigt.

Soweit das Wunschdenken. Die Wirklichkeit ist komplizierter, die Aussicht auf einen Verhandlungserfolg im Sinne nuklearer Abrüstung während der Überprüfungskonferenz in New York schwindet zusehends.

Als der NVV 1970 in Kraft trat, hatten diejenigen Staaten, die bereits im Besitz von Atomwaffen waren, ein für sie wichtiges Ziel erreicht: Sie sahen ihr Monopol auf den Besitz dieser Waffen nun völkerrechtlich festgeschrieben. Außer China, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR und den USA hatte fortan kein anderes Land, das dem Vertrag beitrat, das Recht, Atomwaffen zu entwickeln oder zu erwerben. Die inzwischen 182 anderen Vertragsstaaten ließen sich allerdings nicht ohne Gegenleistung zur militärisch-atomaren Enthaltsamkeit bewegen. Vielmehr sollten ihnen Materialien, wissenschaftliches Know-how und alle Technologien zur Nutzung der damals begehrten Atomenergie für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Die Vereinbarung sah darüber hinaus für die Atomwaffenstaaten die vertragliche Pflicht vor, Verhandlungen über die Abrüstung und Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen.

Um zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Atomtechnologie zu unterscheiden wurde ein Sicherheitskontrollsystem (safeguards) installiert. Mit der Kontrolle wurde die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) beauftragt. Sie inspiziert seither regelmäßig weltweit Atomanlagen, außer denjenigen der Atomwaffenstaaten und der Nicht-Unterzeichnerstaaten des NVV, das sind Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea, das 2003 aus dem Vertrag wieder ausgeschieden ist.

Die Abrüstungsverpflichtung ist im NVV nicht im Detail konkretisiert. Weder sind die einzelnen Schritte zu einer vollständigen Abschaffung von Atomwaffen festgelegt, noch wurde ein Zeitplan definiert. So stieg die Zahl der Atomwaffen zwischenzeitlich bis auf 65.000 an. Trotz diverser Abrüstungsverträge ist ihre Anzahl heute höher als zu Vertragsbeginn.

Als der NVV ausgehandelt wurde sollte er zunächst für 25 Jahre gelten, mit Überprüfungskonferenzen im Fünfjahresrhythmus. 1995 wurde anlässlich der Konferenz zur Überprüfung und Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags entschieden, die Vereinbarung unbefristet auszudehnen. Das entsprach vor allem dem Wunsch der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten, ein großer Teil der blockfreien und Nicht-Atomwaffenstaaten betrachtete den Vertrag als diskriminierend. Sie stimmten der Verlängerung trotzdem zu, weil zusätzliche Versprechungen gemacht wurden, z.B. Verhandlungen zu einem umfassenden Teststoppabkommen (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT). Dieses Abkommen wurde 1996 auch abgeschlossen, kann aber erst in Kraft treten, wenn die 44 Staaten, die über Atomenergieanlagen verfügen, es ratifiziert haben. Bislang fehlen aber die Ratifizierungen von elf Staaten, darunter die USA und China.

Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahr 2000 wurde einstimmig eine Liste von 13 »praktischen Schritten« zur Abrüstung der bestehenden Atomwaffenarsenale verabschiedet. Diese Liste enthält eine Bestätigung der Verpflichtung, alle Atomwaffen abzuschaffen, wie sie bereits in Artikel VI des NVV festgeschrieben ist.

Veränderte Sicherheitslage

Auf der nächsten Überprüfungskonferenz im Mai 2005 wollen die USA diese »13 Schritte« nun als »überholt« ad acta legen. So bezeichnete Ende letzten Jahres ein offizieller Regierungsvertreter aus Washington das Abschlussdokument der 2000er Überprüfungskonferenz inklusive der 13 Schritte als »historisch«.1 Es sei ein neues Dokument notwendig, das die veränderte Lage nach dem 11. September widerspiegele.

Zwei andere internationale Vereinbarungen haben die USA bereits erfolgreich torpediert: Das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens und den ABM-Vertrag. Der ABM-Vertrag wurde einseitig von den USA aufgekündigt, und der Atomteststoppvertrag wird in absehbarer Zeit von den USA nicht ratifiziert werden. Die USA erwägen zudem die Wiederaufnahme von Atomtests. Das Abkommen zwischen George Bush und Vladimir Putin aus dem Jahr 2002 (Moskauer Vertrag bzw. Strategic Offensive Reduction Treaty, SORT), nach dem die stationierten strategischen Atomwaffen jeweils auf 1.700 bis 2.200 zu reduzieren sind, hebt den START-II-Vertrag auf, der 2002 noch nicht in Kraft getreten war. Nach der neuen Regelung werden die »überzähligen« Atomwaffen nur »nicht gefechtsbereit« gelagert und nicht verschrottet. Das widerspricht dem 2000 verabredeten Prinzip der Unumkehrbarkeit von Abrüstungsmaßnahmen.

Die Liste gebrochener Versprechen von Seiten der Atomwaffen besitzenden Staaten ist lang und der Unmut auf Seiten der Nichtatomwaffenstaaten groß. Der Unmut wächst auch deshalb, weil das im Artikel IV des NVVzugesicherte „unveräußerliche Recht“ auf Hilfe zur zivilen Nutzung der Atomenergie von den Atomwaffenstaaten zunehmend in Frage gestellt wird. Seitdem der Iran vermutlich an einem Urananreicherungsprogramm arbeitet, wollen die USA bestimmten Ländern diese Technologie verweigern. Nach einer entsprechenden Intervention des US-amerikanischen Präsidenten auf dem Gipfel der G8-Staaten im Juni 2004 wurde dort verabredet – entgegen den Vertragsverpflichtungen – Atomtechnologie nur an Staaten zu exportieren, die durch ein Zusatzprotokoll von der IAEO als »sicher« eingestuft werden. Allerdings hätte der Iran auch in diesem Fall das Recht zum Erwerb der Technologie zur Urananreicherung, es sei denn der IAEO lägen Beweise zur Ablehnung vor.

Überprüfungskonferenz 2005

Die veränderte Sicherheitslage nach dem 11.September, weltweiter »Krieg gegen den Terrorismus«, iranisches Atomprogramm und nordkoreanische Atomwaffen: Diese Stichworte sind die unguten Vorzeichen für die Überprüfungskonferenz des NVV im Mai. Bei den drei jeweils zweiwöchigen Vorbereitungskonferenzen, die 2002-2004 stattfanden, haben sich die teilnehmenden Staaten nicht einmal auf eine Tagesordnung für 2005 einigen können.

Die Ausgangspositionen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die USA wollen ihr 2002 mit Russland ausgehandeltes SORT-Abkommen über die Reduzierung von strategischen Atomwaffen bereits als Schritt zur nuklearen Abrüstung verstanden wissen. Kritiker weisen aber darauf hin, dass dieses Abkommen eher ein Umrüstungs-, denn ein Abrüstungs-Abkommen ist: Die USA arbeiten an der Entwicklung neuer kleiner taktischer Atomwaffen – Mininukes – und bunkerbrechenden Atombomben, die die Gefahr eines atomaren Krieges erhöhen, da sie in »begrenzten« Kriegen eingesetzt werden können. Russland will sein Arsenal modernisieren, um die geplante Raketenabwehr der USA umgehen zu können. Das geplante US-Raketenabwehrsystem führt deshalb auch nicht zur Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes. Im Gegenteil, es erhöht die Gefahr eines atomaren Konflikts, da es zur Vergrößerung des Atomwaffenpotenzials führt. Für die taktischen Nuklearwaffen der beiden Länder gibt es sowieso keine vertraglichen Vereinbarungen.

Die aggressive Haltung der USA ist das entscheidende Problem für die Verhandlungen: Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und die Drohungen gegen die von Bush so titulierten Staaten der »Achse des Bösen« provozieren die Amerikaner in diesen Ländern geradezu den Willen zur Entwicklung und zum Bau eigener Atomwaffen. Viele – auch offizielle – Verlautbarungen aus diesen Ländern dokumentieren die Ansicht, dass nur der Besitz atomarer Waffen einen gewissen Schutz gegen militärische Aktionen der USA bietet. Ganz deutlich wird das in der Haltung der nordkoreanischen Regierung.

Die offizielle deutsche Regierungslinie propagiert Abrüstungsmaßnahmen in »kleinen Schritten« ohne vorgegebenen Zeitrahmen und lehnt (bislang) den Abschluss einer Nuklearwaffenkonvention ab. Deutschland brachte in die Vorbereitungskonferenzen des NVV in den vergangenen Jahren einige nützlich Arbeitspapiere ein – u.a. zur Problematik der taktischen Atomwaffen und zur Stärkung des Vertragsregimes –, fordert aber weder den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden noch eine Änderung der NATO-Strategie, die nach wie vor die Möglichkeiten eines nuklearen Ersteinsatzes vorsieht (siehe Artikel von Bernd Hahnfeld in dieser W&F-Ausgabe, d. Red.).

Einmischung von unten

Umso stärker sind die nichtstaatlichen Akteure gefragt. Viele Nichtregierungsorganisationen sind weltweit vernetzt, können Strategien zur nuklearen Abrüstung entwickeln und vorschlagen, wie dies mit dem Modellentwurf für eine Nuklearwaffenkonvention 1996 bereits passiert ist.

Hiroshimas Bürgermeister, Tadatoshi Akiba, setzt sich mit der weltweiten Bürgermeisterkampagne »2020 Vision« für ein weitergehendes Vorhaben ein, als lediglich den – ohnehin unzureichenden – NVV zu retten. In New York will eine Delegation von etwa 100 BürgermeisterInnen an der Überprüfungskonferenz teilnehmen und der internationalen Staatengemeinschaft ihren Plan vorlegen: Verhandlungen über eine Nuklearwaffenkonvention jetzt beginnen, die Verhandlungen 2010 abschließen, und bis 2020 sämtliche Atomwaffen abrüsten. Gewissermaßen als »Plan B« ist die »second track diplomacy« zu verstehen: Analog des Ottawa-Prozesses für das Verbot der Landminen wird zu einer gemeinsamen Verhandlungsrunde aus »willigen« Staaten und kundigen Nichtregierungsorganisationen eingeladen. Damit sollen die »nicht-willigen« Staaten diplomatisch isoliert werden.

In Deutschland engagiert sich die Kampagne »atomwaffenfrei bis 2020« für eine Atomwaffenkonvention und eine atomwaffenfreie Welt. Die Kampagne wurde vom Trägerkreis »Atomwaffen abschaffen« ins Leben gerufen. Dieser fordert insbesondere den sofortigen Abzug aller US-Atomwaffen, die sich auf deutschem Boden befinden und die im Rahmen der so genannten nuklearen Teilhabe im Kriegsfall auch von deutschen Soldaten eingesetzt würden.

Der Trägerkreis besteht aus 40 Mitgliedsorganisationen. Um sein Ziel – eine atomwaffenfreie Welt – zu erreichen, organisiert er unter anderem öffentlichkeitswirksame Aktionen und Lobbyarbeit bei Politikern und Diplomaten. Außerdem beteiligt sich der Trägerkreis aktiv an nationalen und internationalen Kampagnen, wie der Bürgermeisterkampagne der Mayors for Peace.

Der Trägerkreis versteht sich als deutscher Teil des globalen Netzwerkes »Abolition 2000«. Auch dieses Netzwerk, das 1995 gegründet worden ist, setzt sich für die Abschaffung aller Atomwaffen ein und besteht aus über 2000 Mitgliedsorganisationen weltweit.

Die ganz andere Vision 2020

New York im Mai 2020: Zur zehnten Überprüfungskonferenz des NPT treffen sich die Vertreter der drei Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht gekündigt haben, in einem Café in der Nähe des UN-Hauptquartiers. Sie haben nicht mehr viel zu besprechen. Nach dem totalen Scheitern der siebten Konferenz 2005 entschieden sich zunächst sämtliche Staaten des Nahen Ostens, Atomwaffen zu entwickeln und zu bauen. Bereits ein Jahr später wurde nach einer Eskalation des Kaschmir-Konfliktes Bombay durch den dritten Atomwaffeneinsatz auf eine Stadt ausgelöscht. Die USA reagierten auf die andauernden »dirty bomb-Terroranschläge« im eigenen Land mit dem massiven und flächendeckenden Einsatz ihrer neu entwickelten Bunker Busters, wo auch immer Terrorzellen oder unterirdische Atomanlagen vermutet wurden. Kriegsführung mit nuklearem Material ist zur Normalität geworden, selbst in Bürgerkriegen auf dem mittlerweile so gut wie entvölkerten Kontinent Afrika finden Mini-Atombomben ihren Einsatz.

So weit die Befürchtung. Auch dieses Mal ist die Wirklichkeit vermutlich komplizierter.

Es bleibt zu hoffen, dass die Überzeugungskraft friedliebender Staaten und die Beharrlichkeit internationaler Nichtregierungsorganisationen der siebten Überprüfungskonferenz zum Erfolg verhelfen.

Anmerkungen

1) „U.S. seeks to defang NPT“ in: Japan Today, 31.12.2004.

Jörg Welke ist freier Journalist und arbeitet derzeit als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW).

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2005/2 De-Eskalation, Seite