W&F 1998/3

Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung

von Dieter Bricke

Ziel europäischer Friedenspolitik sollte eine Friedensordnung sein, die den Schutz der Menschen, Gesellschaften und europäischen Staaten sowie der Natur vor Gewalteinwirkung, Armut, Not, Verfolgung, Unterdrückung und Zerstörung in den Mittelpunkt stellt. Sie kann nur in einem lang anhaltenden gesellschaftlichen Prozeß verwirklicht werden. Statt pragmatischem »Durchwursteln« muß Friedenshandeln an ethischen Normen und wissenschaftlich fundierten politischen Konzepten und Prozessen ausgerichtet werden. Die komplexe Problemstellung verlangt ebenso ausdifferenzierte wie ganzheitliche Antworten.

Gewaltkontrolle als zentrales Problem

In Europa ist es innerstaatlich weitgehend gelungen, personale Gewalt durch innerstaatliche Rechtsordnungen bzw. Verfassungen und das Gewaltmonopol der demokratisch legitimierten Exekutive unter Kontrolle zu bringen. Der Reifezustand der politischen Kultur der meisten westeuropäischen Demokratien läßt auch die Gefahr des Staatsterrorismus als weitgehend beherrschbar erscheinen. Für Osteuropa kann das noch nicht im selben Maß festgestellt werden.

Weit weniger lösbar erscheinen europaweit die Probleme der Kontrolle der strukturellen wirtschaftlichen, aber auch der kulturellen Gewalt (Galtung). Neben der weitgehenden Ausklammerung demokratischer Kontrolle im Bereich der Wirtschaft ist in diesem Zusammenhang auf die von den Medien potenzierte ideologische Gewalt hinzuweisen. Ein Beispiel ideologischer Gewalt gibt der Neoliberalismus, der seine Vorstellungen von einem deregulierten Markt, in dem der Stärkere überlebt, ungenierter denn je in den Medien der europäischen Staaten propagiert, bis hin zum Provozieren von Bürgerkriegen (Krieg der Vorstädte).

Kontrolle zwischen- und überstaatlicher Gewalt

Noch ganz am Anfang steht Europa, was die Kontrolle internationaler Gewalt sowohl hinsichtlich ihrer Ausübung durch die Nationalstaaten bzw. Staatengemeinschaften, aber auch durch Konzerne betrifft. Dies erscheint um so gefährlicher, als »Macher« aller Art dazu neigen, nicht gelöste innere Gewaltprobleme nach außen zu projizieren. Hinzu kommt, daß die Regierenden der Nationalstaaten immer weniger in der Lage zu sein scheinen, die Intensivierung der globalen Kommunikation politisch zu steuern.

Entwicklung einer gesamteuropäischen Konfliktkultur

Letzten Endes ist eine ausreichende Gewaltkontrolle als Grundlage einer europäischen Friedensordnung nur durch den Aufbau einer gesamteuropäischen Konfliktkultur möglich. Sie setzt sowohl eine grundlegende Änderung im Denken der europäischen Führungseliten als auch bei den demokratischen Mehrheiten voraus. Aus der Sackgasse rationalistischer Spezialisierung müssen wir zurück zu der von Aristoteles bis Kant geforderten Ganzheitlichkeit von Ethik, Politik und Ökonomie, von der Unduldsamkeit zur Toleranz, von der Konkurrenz zur Kooperation, von der Selbstdurchsetzung zur Selbstbeschränkung. Nur wenn ein solches neues Denken zu einem fortschreitenden Wertewandel in den Köpfen führt, werden wir auch zu mehr Gerechtigkeit in den Gesellschaftsstrukturen bis hin zur Verteilungsgerechtigkeit und Versorgungssicherheit für jeden einzelnen Menschen gelangen können.

Ähnlich wie innerhalb der Staaten wird es auch in den Außenbeziehungen nur dann möglich sein, eine ganzheitliche europäische Konfliktkultur durchzusetzen, wenn globale bzw. regionale Verfassungs- und Rechtsordnungen garantiert werden können. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die UN-Charta, die Erklärung der Menschenrechte, an ihre Kodifizierung in den Menschenrechtspakten u.ä. internationalen Konventionen und im europäischen Rahmen an die Europäische Menschenrechtskonvention und den Helsinki-Dekalog, der allerdings bis heute noch nicht völkerrechtlich verankert ist. Erforderlich ist ein neuer europäischer Gesellschaftsvertrag auf der Basis der klassischen Maßhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit, der in einer europäischen Verfassung rechtlich festgeschrieben wird. Statt einen gigantischen Freiraum für die entfesselten Marktkräfte, gilt es in Europa eine umweltverträgliche Wirtschafts- und Sozialunion zu gestalten. Statt eines Europas der Nationalstaaten oder des Geldes ist ein Europa mündiger Bürger angesagt.

Friedensstrategien

Natürlich bedarf es politischer Strategien. Was könnte z. B. die Regierungen von Nationalstaaten dazu bringen, Souveränität (und damit auch die Macht zur Gewaltausübung) einzuschränken, was könnte Manager dazu veranlassen, ihre Neigung zur Machtmaximierung einzuschränken? Aus meiner Sicht kann dies nur durch entsprechenden politischen Druck der betroffenen Bürger erfolgen, die ihre Menschenrechte gegen die jeweiligen Machthaber zur Geltung bringen müssen. Darüber hinaus sollte auch rationale Einsicht dazu beitragen, z. B. durch obligatorische Streitschlichtungs- und Streitmanagementregelungen, im Interesse aller Gewalt einzuschränken (z. B. Internationaler Gerichtshof, Internationaler Strafgerichtshof) bzw. nur noch als ultima ratio zur Durchsetzung internationaler Konventionen bzw. als letztes Mittel zur Notwehr bzw. Nothilfe zu erlauben.

Gewaltreduzierung bei Regierungen der Nationalstaaten und der internationalen Konzerne gebietet jedenfalls eine Delegation von Machtausübung sowohl nach oben an supranationale Institutionen als auch nach unten über demokratische Beteiligungsstrukturen. Dies wird politisch erst möglich sein, wenn es gelungen ist, alle Beteiligten, vor allen Dingen die politischen »Eliten« und ihre Helfer, zu einer neuen Sichtweise des Gewaltproblems zu bringen. Das gilt insbesondere für die Mitarbeiter von Militär, Außenpolitik und Wirtschaftsverwaltung in den nationalen wie internationalen Gremien. Sie müssen die sogenannte »realistische Sicherheitspolitik« (vgl. z.B. para bellum, beggar thy neighbour) zugunsten ziviler Lösungsansätze aus ihren Köpfen verbannen. Eine europäische Friedenskultur verlangt eine zivile Konfliktbearbeitung, also die Anerkennung demokratischer Prozesse des Aushandelns, Palaverns und des Kompromisses, bzw. die Überwindung hierarchischer Entscheidungsstrukturen. Zur zivilen Konfliktbearbeitung gehört es auch, auf absolute Wahrheiten und ihre Durchsetzung zu verzichten und anzuerkennen, daß es stets Interessenkonflikte und intellektuelle Antagonismen geben wird, die höchstens durch Annäherungs- und Kompromißlösungen lösbar bzw. beherrschbar werden.

Auch die Friedensbewegung muß anerkennen lernen, daß die Komplexität der Friedensprobleme in Europa und der Welt ein radikales neues Denken verlangt. Eine Friedensordnung in Europa ist nur in Kooperation aller gesellschaftlichen Gruppierungen in allen Staaten Europas gemeinsam herstellbar. Auch aus »shareholders« können »stakeholders« werden, wenn die vorhandenen Strukturen, politische Einsichten und der Problemdruck dies möglich machen!

Weiterentwicklung supranationaler Organisationen

Beim Aufbau einer gesamteuropäischen Konfliktkultur kommt der Weiterentwicklung supranationaler Organisationen eine besondere Bedeutung zu.

Vereinte Nationen (UN)

Eine europäische Friedensordnung ist nur im Rahmen der in den Vereinten Nationen angelegten Friedensstrukturen denkbar. Daher muß die Reform der Vereinten Nationen ein zentrales Thema der europäischen Friedensbewegung sein. Im einzelnen sind zu leisten:

  • Die Reform des UN-Sicherheitsrates durch Rotationsverfahren, Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen, Aufbau eines UN-Friedensrates.
  • Die Wiederbelebung der UN-Agenda für den Frieden. Aufbau einer »Politia« zur Durchführung von Kapitel-VI-Einsätzen bei Zustimmung der Streitparteien sowie Integration nationaler UN-peace-enforcement-units unter den Oberbefehl des Generalsekretärs für ultima-ratio-Einsätze nach Kapitel VII.
  • Unterwerfung der G 8, Weltbank, IWF, WTO unter die politische Kontrolle der UN-Vollversammlung. Beteiligung der NGOs in stärkerem Maße als bisher in allen beratenden UN-Gremien, aber auch in den nationalen Delegationen.
  • Kontrolle der Nuklearwaffen durch energische Weiterentwicklung des Nichtverbreitungsgrundsatzes unter Einbeziehung der Großmächte und Kodifizierung in einem neuen internationalen Verbotsabkommen.

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)

Seit 1992 ist die OSZE als »regionale Abmachung« nach Art. 52 der UN-Charta tätig. Seit 1994 (Budapest) gilt der Grundsatz »OSZE first«. Dennoch weist die OSZE ein konstitutives Doppeldilemma auf: Sie soll einerseits die Rechte des Individuums und der Staaten gleichermaßen sichern; andererseits verlangt ihr Charakter als vertrauensbildendes Gesprächsforum weitgehenden Konsens, während die politische Wirksamkeit schnelle Entscheidungen bedingt. Dieses Doppeldilemma kann nur durch pragmatische Annäherungslösungen im Einzelfall aufgehoben werden. Daran wird gearbeitet, z. B. in den Verhandlungen über die Sicherheits-Charta, die schon 1999 bei der nächsten OSZE-Gipfelkonferenz in ein entscheidendes Stadium überführt werden können.

Dringend notwendig erscheint eine Verbesserung der demokratischen Legitimation der OSZE, entweder durch eine Aufwertung der parlamentarischen Versammlung oder bzw. zusätzlich durch eine Umwandlung des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte zu einem gesellschaftspolitischen Forum bzw. einem NGO-Parlament. Eine OSZE-Stiftung für zivile Konfliktbearbeitung sollte entsprechend dezentrale NGO-Projekte unterstützen.

Wer die OSZE zum Mittelpunkt einer europäischen Friedensordnung machen will, muß dies im Rahmen der Verschränkung der bestehenden europäischen Sicherheitsorganisationen tun. Man sollte das alte interlocking-institutions-Konzept wieder aufgreifen und die OSZE bzw. ihre unterschiedlichen Foren, z.B. das Forum für Sicherheitspolitik, für Wirtschaftsfragen, der Hohe Kommissar für Minderheitenrechte, der OSZE-Medienbeauftragte sollten als Koordinationsinstanzen für sämtliche im europäischen Raum tätigen sicherheitspolitischen Institutionen wirksam werden.

Beispielsweise könnten in dieser Koordinationsfunktion die Runden Tische des Balladur- bzw. Stabilitätspaktes institutionalisiert werden, um rechtzeitig Frühwarninformationen zu sammeln, auszutauschen und für politische Aktionen zu nutzen. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission für Wirtschaftsfragen der Vereinten Nationen könnte das wirtschaftspolitische Forum unmittelbaren Einfluß auf die Setzung wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen in Europa nehmen. In diesem Zusammenhang könnte es beispielsweise internationale Konzerne dazu bewegen, einen Code of Conduct für den Handel mit gefährlichen Stoffen zu verabschieden. Ein Solidaritätsfond für die Stabilisierung der jungen Demokratien in Osteuropa könnte in Zusammenarbeit des Wirtschaftsforums und der Europäischen Entwicklungsbank aufgebaut werden. Der OSZE-Medienbeauftragte könnte Normen zur Behandlung friedenspolitischer Themen in den Medien entwickeln.

Die Verwaltungseffizienz der OSZE muß durch eine Umwidmung von Budgetmitteln aus dem militärischen Bereich (NATO) in den Bereich der OSZE gesichert werden. Außerdem sollten die Gremien der OSZE, so beispielsweise der Ständige Rat, der Vorsitzende und der Generalsekretär, hinsichtlich ihrer Kompetenzen und Amtszeiten für Entscheidungen besser qualifiziert werden. Nur so kann die erfolgreiche Arbeit der Langzeitmissionen auf eine solide Basis gestellt werden, können Abschottungstendenzen verhindert und zusätzliche Synergie-Effekte genutzt werden. Für die Etablierung eines OSZE-Sicherheitsrates scheint die Zeit politisch noch nicht reif zu sein.

Sanktionen zur Durchsetzung von OSZE-Beschlüssen sollte die OSZE den Vereinten Nationen überlassen, um die von ihr geschaffene Konsens- und Vertrauensgrundlage nicht zu gefährden.

Die Europäische Union (EU)

Notwendiger Paradigmen-Wechsel: Der bisherige »acquis-communautaire« weist die Europäische Union primär als eine wirtschaftliche Besitzstandswahrungsgemeinschaft aus. Sie sucht mit allen Mitteln, notfalls auch der Anwendung ökonomischer bzw. militärischer Gewalt, die Privilegien ihrer Bürger bzw. Staaten zu verteidigen. Gerade die Friedensbewegung muß hier für einen radikalen Paradigmen-Wechsel eintreten, der die Prioritäten der Politik von der Maximierung wirtschaftlicher bzw. militärischer Macht zur Maximierung von Menschenrechten und Rechten der Natur verschiebt. Völkerrechtliche Grundlage dafür könnte ein europäischer Gesellschaftsvertrag bzw. eine Grundrechtscharta sein, die auf der Basis klassischer Maßhaltigkeit und Ganzheitlichkeit von Ethik, Politik und Ökonomie die Überwindung struktureller wie kultureller Gewaltverhältnisse in der EU vorantreiben.

Grundrechtscharta

Die Grundrechtscharta sollte die EU stärker an die Menschenrechts-Konventionen der Vereinten Nationen bzw. des Europarates binden, damit die EU-Bürger unmittelbare Klagerechte bei der Europäischen Menschenrechtskommission erhalten und die Rechtssprechung des Internationalen Gerichtshofes als obligatorisch von den jeweiligen Nationalstaaten anerkannt wird. In diesem Zusammenhang muß auch das Schengen-Abkommen wieder entsprechenden internationalen Konventionen angepaßt werden. Pilotprojekte des Europarats im Menschenrechtsbereich müssen aus EU-Mitteln weit stärker als bisher finanziert werden.

Nicht zuletzt muß die Demokratisierung der EU vorangetrieben werden, z.B. durch eine Verstärkung der Rechte des Parlaments (Initiativ- und Budgetrecht), gegebenenfalls aber auch durch die Schaffung einer zweiten Kammer, in die der Ministerrat umgewandelt werden sollte. Den Nichtregierungsorganisationen müssen im gesamten Gesetzgebungsverfahren bessere Mitwirkungsmöglichkeiten geboten werden. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik müssen Mehrheitsentscheidungen von der Ausnahme zur Regel gemacht werden.

Zivilisierung statt Militarisierung

Die 1992 erfolgte Einordnung der sog. Westeuropäischen Union (WEU) in die neue NATO-Sicherheitspolitik (Petersberg-Erklärung) muß vollständig rückgängig gemacht werden, da sie den friedenspolitischen Zielen Europas unmittelbar widerspricht. Durch Streichung des Art. 223 des Maastricht-Vertrages müssen Waffenproduktion und Rüstungshandel radikal reduziert und die frei werdenden Mittel in Aufgaben der zivilen Konfliktbearbeitung überführt werden.

Demokratische und umweltver- trägliche Wirtschafts- und Sozialunion

Die EU kann die strukturelle Gewalteindämmung in Europa dadurch fördern, daß sie beispielsweise ein europäisches Stabilitätsgesetz (Magisches Viereck) verabschiedet, das neben der Geldwertstabilität auch wieder soziale Rechte in einen gleichberechtigten Rang erhebt. Anzustreben ist eine nachhaltige Wirtschafts- und Sozialunion, in der z.B. die Sozial-Charta konkrete Rechte für Betriebsräte, Sozialversicherungsträger usf. garantiert, außerdem eine ökologische Steuerreform, die eine gemeinsame Besteuerung von Spekulationen, Rohstoff- und Energieverbrauch ermöglicht. In den außenwirtschaftlichen Beziehungen sollte die EU so erfolgreiche Programme wie das Lomé-Abkommen mit den AKP-Staaten weiterentwickeln und sich aktiver als bisher für die Einführung ökologischer und sozialer Normen bei der Tätigkeit der internationalen Weltwirtschaftsorganisationen engagieren.

Die Verzahnung wirtschaftlicher, sozialer und friedenspolitischer Anliegen nach dem Grundsatz der nationalen Selbstbeschränkung sollte es der EU erlauben, ihre Osterweiterung im Gleichklang mit der OSZE zu betreiben und zu verzahnen. Speziell demokratiefördernde EU-Programme wie Phare, Tacis, Lien, Meda usf. sollten im Rahmen der OSZE ausgeweitet und finanziell verstärkt unterstützt werden.

Zivile Konfliktbearbeitung

Die zivile Konfliktbearbeitung sollte das Zentrum einer EU-Sicherheitspolitik darstellen. Dafür ist ein eigenes Programm erforderlich, in dem Auswahl, Ausbildung und Entsendung ziviler Friedensfachkräfte und ihre Zurverfügungstellung an die OSZE bzw. die Vereinten Nationen konkret geregelt werden. Entsendeorganisation sollten entsprechende geeignete NGOs sein. Für sie sollte zur Unterstützung ein EU-Zentrum für zivile Konfliktbearbeitung errichtet und eine entsprechende Stiftung finanziell gefördert werden.

Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO)

Die NATO wird durch ihre Gründungsverträge als territoriales Selbstverteidigungsbündnis ausgewiesen. Entgegen entsprechender Schutzbehauptungen (neue Bedrohungen durch Terrorismus bzw. neue Aufgaben im humanitären Bereich) gibt es keine glaubwürdige Begründung für den Aufbau von Krisenreaktions- und Krisenspezialkräften. Vielmehr dient dieser neue Schritt der Aufrüstung von militärischen Kräften innerhalb der NATO dem Versuch, die bisher nur wirtschaftlich abgesicherte Suprematie des Westens im weltweiten Zusammenhang nun auch militärisch zu konsolidieren. Die Bundesregierung hat in den verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 mit ihrem Hinweis auf die Verteidigung von Zugängen zu wirtschaftlichen Rohstoffen und Absatzmärkten in schöner Offenheit dies als eigentliches Ziel der neuen Rüstungsanstrengungen dargestellt.

Aus dem oben Gesagten ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, der im Rahmen der NATO sich vollziehenden Remilitarisierung der europäischen Nationalstaaten einen entschiedenen Widerstand der Friedensbewegung entgegenzusetzen. Dieser erscheint allerdings nur aus voller Kraft möglich zu sein, wenn sich die Friedensbewegung aus ihrer Anti-NATO-Selbsthypnose endlich selbst befreit. Die NATO kann nicht weggewünscht werden, solange in Europa Bevölkerungsmehrheiten immer noch aufgrund traditioneller Bedrohungsängste konventionellen Verteidigungsvorstellungen zuneigen. Es bleibt vielmehr nur der Weg, neue Einsichten in der Bevölkerung zu propagieren und innerhalb der NATO selbst eine sinnvolle Reform anzustreben. Im Rahmen dieser Reform sollte das Übergewicht der NATO gegenüber den anderen europäischen Sicherheitsorganisationen reduziert werden, indem der OSZE die eigentliche Koordinationsfunktion des Interlocking-Institutions-Systems in Europa politisch zuerkannt wird.

Um dieses Ziel politisch zu erreichen, bedarf es einer entsprechenden konzentrierten Bemühung der Friedensbewegung, die dafür eintreten muß, daß die NATO sich schon im Rahmen der Strategiereform 1999 auf die begrenzte militärische Territorial- bzw. Selbstverteidigungsaufgabe zurückzieht und dementsprechend die Abrüstung ihrer Offensiv-Waffen einleitet. Eine entsprechende Kampagne der Friedensbewegung sollte sich auf die Charta der Vereinten Nationen wie auch den Helsinki-Dekalog beziehen und ihre unmittelbare Einbeziehung in die NATO-Richtlinien fordern. Es versteht sich von selbst, daß eine defensiv umgewandelte NATO sowohl ihre Erstschlagsoption aufgibt als auch die Proliferation von Nuklearwaffen um die Abrüstung bereits vorhandener Nuklearwaffen in den Atomwaffen-Staaten ergänzt. Dafür sollten entsprechende START III-Verhandlungen gefordert werden, die das Ziel haben müssen, eine Konvention zur Abschaffung aller Atomwaffen und auch der zivilen Nuklear-Industrie zu erreichen.

Ein solchermaßen »pazifiziertes« regionales Verteidigungsbündnis NATO kann sich dann ohne Gefahr im Gleichklang mit der Europäischen Union nach Osten erweitern, da es nur eine integrierte Speiche im Gesamtrad der europäischen Friedensordnung darstellt. Auch vertrauensbildende Einrichtungen, wie die Partnerschaft für den Frieden oder der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat (EAPR) können so gesehen als nützliche Instrumente einer Friedenskonsolidierung in Europa bewertet werden. Ebenso ist gegen sicherheitspolitische Grundverträge zwischen NATO und den GUS-Staaten solange nichts einzuwenden, wie sie den Vorrang ziviler vor militärischen Maßnahmen in den jeweiligen Beziehungen festschreiben.

Die Friedensbewegung

Europäische Friedenspolitik muß sich daran orientieren, einen nachhaltigen Prozeß der Zivilisierung zu fördern, der dazu dient, eine friedensfähige europäische Gesamtgesellschaft als Fundament einer europäischen Friedensordnung aufzubauen. Voraussetzung für eine solche Politik ist der Verzicht auf die bisherige hypnotische Befassung mit Militärfragen in allen sicherheitspolitischen Lagern. Dabei müssen die Vertreter von Staat und Gesellschaft, d.h. auch die Friedensbewegung, anerkennen, daß die Ziele der Agenda für den Frieden der Vereinten Nationen oder der Charta von Paris der OSZE letztlich nur dann von Visionen in praktische Politik umgesetzt werden können, wenn die Beteiligten bereit sein werden, in einen komplexen »Dialog der Differenzen« (Galtung) einzutreten. Das heißt, sie müssen auf die Durchsetzung absoluter Wahrheiten endlich verzichten und in pragmatischen Schritten das Machbare tun, ohne das große Ganze aus dem Auge zu verlieren. Überwunden werden muß auch die verknöcherte Hierarchie bzw. Struktur von Regierungs- wie Nichtregierungsorganisationen. Die Angst mittelmäßiger Funktionäre vor geistiger und materieller Konkurrenz und die damit verbundene provinzielle Enge ihrer Politik muß dem oben geschilderten neuen Denken in allen Bereichen weichen.

Die Friedensbewegung wird politisch in diesem Sinn nur wirksam werden können, wenn sie endlich weltweite und europaweite Aktionsbündnisse bzw. Netzwerke schließt bzw. intensiviert, die in den vorgegebenen Institutionen und Politikstrukturen sich an der friedenspolitischen Entscheidungsfindung in Europa lokal, national und international beteiligen müssen. Ansätze dazu gibt es eine ganze Reihe, z. B. durch die Tätigkeit weltweit aktiver friedenspolitischer Organisationen wie »Abolition 2000«, »International Alert« oder der Mitwirkung des Netzwerkes »Safer World« im »Liaison Committee for Development NGOs« bei den Vereinten Nationen.

Die oben genannten Organisationen haben erkannt, daß es darauf ankommt, die eigenen Kräfte auf friedenspolitisch zentrale Aufgaben, im besonderen auf die Mitwirkung beim Aufbau einer gesamteuropäischen Konfliktkultur durch Friedenserziehung und zivile Konfliktbearbeitung und die Weiterentwicklung erfolgreicher Formen gesellschaftlicher Diplomatie, wie z.B. Frühwarnung, Mediation, Konfliktmanagement und Konfliktnachsorge zu konzentrieren und diese besonderen zivilen Fähigkeiten in die internationalen und supranationalen Strukturen hineinzutragen (Citizen based Diplomacy).

Nur wenn es gelingt, die eigenen Strukturen zu modernisieren, ist es dann auch möglich, die unselige rationalistische Spartentrennung von Außen-, Sicherheits-, Kultur- und Wirtschaftspolitik beim Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu überwinden und gesellschaftliche und staatliche Mittel und Instrumente dafür zu poolen bzw. zu dynamisieren.

Die Zeit für neues Denken, noch mehr aber für neues Handeln, ist reif. Packen wir es also endlich gemeinsam an und vergessen wir nicht: Alle Veränderung dieser Welt beginnt bei uns selbst!

Dr. Dieter Bricke ist Vortragender Legationsrat I a.D. Er war 15 Jahre in der Entwicklungshilfe und 25 Jahre im Auswärtigen Dienst, bevor er für drei Jahre beurlaubt wurde zur außenpolitischen Beratung der Bundestagsfraktion Die Grünen/B 90.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1998/3 Friedenskonzepte, Seite