W&F 2021/3

Aufstand in Kolumbien

Krisen, Proteste und der Friedensprozess

von Stefan Peters

Kolumbien ist in Aufruhr. Ende April begann ein wilder Generalstreik, der bereits jetzt seinen Platz in den Geschichtsbüchern des Landes sicher hat. Überraschend war nicht nur die Breite der Proteste, die praktisch das ganze Land erfassten, sondern auch der lange Atem der Protestierenden. Erschreckend ist die Gewalt gegen die Protestierenden: Die kolumbianischen Sicherheitskräfte gingen mit Brutalität gegen die teils militanten Proteste vor. Doch die Ursachen für die Proteste liegen in den vielen Krisen des Landes. Der Beitrag zeigt diese auf und eröffnet Perspektiven für eine friedlichere Zukunft.

Kolumbien ist in Aufruhr. Die Bilder von vermummten Protestierenden, die sich nur mit Schutzschilden aus Benzinfässern ausgerüstet den kolumbianischen Sicherheitskräften und der berüchtigten Demopolizei des ESMAD entgegenstellten, gingen um die Welt und lassen keinen Zweifel: Kolumbien erlebt die heftigste Protestwelle seit Jahrzehnten. Millionen von Kolumbianer*innen gehen mittlerweile seit Monaten auf die Straße, um gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Die Proteste wurden wesentlich von Jugendlichen getragen, die aus den urbanen Marginalvierteln der Großstädte stammen und wenig politische Erfahrung, aber eine tief verankerte Skepsis gegenüber der aktuellen Politik und dem Politikbetrieb mit sich bringen. In der Konsequenz versagten die politischen Seismographen und die Regierung wurde von den heftigen Protesten ebenso überrascht wie die streikerfahrenen Gewerkschaften und sämtliche Beobachter*innen. Die Fehleinschätzungen betrafen nicht nur die quantitativen Mobilisierungserfolge, sondern auch die Radikalität eines Teils der Proteste.

Die Militanz der Protestformen (u.a. wochenlange Straßensperren, Sturz von Statuen, Angriffe auf öffentliche Verkehrsmittel und Polizist*innen) steht dabei in einem erstaunlichen Kontrast zu den meist moderaten inhaltlichen Forderungen. In erster Linie geht es den Protestierenden um die Einhaltung ohnehin verbriefter sozialer Rechte in den Bereichen Arbeit, Bildung, Gesundheit und in Teilen um die Implementierung des Friedensvertrags. Die Regierung reagierte auf diese Selbstverständlichkeiten mit einem Amalgam aus Repression, Unverständnis und kleineren Zugeständnissen für Teilgruppen. Gerade die Polizeigewalt wurde bald zum allgegenwärtigen Zeichen des Versagens der Politik. Kriminalisierung und Stigmatisierung der Proteste heizte diese zusätzlich an und beförderte die weitere Erosion des Vertrauens der kolumbianischen Bevölkerung in die staatlichen Institutionen.

Das dilettantische ­Krisenmanagement der Regierung könnte als anekdotische Randnotiz abgeheftet werden, wären nicht der enorme Blutzoll und die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen durch die unverhältnismäßige Reaktion der Sicherheitskräfte. Je nach Angaben kamen bis Ende Juni 2021 mindestens 20 Menschen durch Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte (Polizei, Spezialeinheiten und Militär) um. Wahrscheinlich liegt die Zahl jedoch höher und es ist zu befürchten, dass bis zu 60 Menschen im Kontext der Proteste ums Leben gekommen sind (vgl. JEP-UIA 2021, Temblores, Indepaz und ­PAIIS 2021, DW 2021). Hinzu kommen Verschwundene, viele Schwerverletzte und unzählige Berichte über Polizeigewalt. Hierzu gehört auch der Gebrauch scharfer Munition sowie Fälle sexualisierter Gewalt.

Seit Mitte Juni büßten die Proteste deutlich an Intensität ein: Bei vielen der Protestierenden hat sich Erschöpfung breit gemacht. Gerade die Blockaden, die weite Teile des Landes lahmlegten, verloren bald an Unterstützung. Die Konflikt­ursachen bestehen jedoch fort und ein Wiederaufflammen der Proteste in den kommenden Monaten ist wahrscheinlich – nicht zuletzt aufgrund der Politisierung vieler Demonstrant*innen während der Proteste. Doch was führte zu den Protesten und wie kann diesen Herausforderungen begegnet werden?

Der unmittelbare Anlass für die heftigen Proteste war die Ankündigung einer Steuerreform, die die leeren Staatskassen füllen sollte und hierfür vor allem die (untere) Mittelschicht belastet hätte. Doch schnell wurde deutlich, dass sich die Proteste nicht alleine gegen dieses Reformprojekt richteten, denn die Rücknahme der Reform konnte die Proteste ebenso wenig eindämmen wie der Rücktritt des Finanzministers. Dies lag auch an den vielfältigen Protesten und ihrer heterogenen Trägerschaft.

Es reicht! Heterogene Proteste

Verschiedene internationale Beobachter*innen fokussierten sich auf die Jugend als Trägerin der Proteste. So schrieb beispielsweise die FAZ (2021) im Mai: »Wütende Jugend trifft auf repressive Polizei«. Auch der kolumbianische Präsident Iván Duque wollte die Proteste mit einem »Pakt für die Jugend« einhegen. Zweifellos beteiligten sich vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an den Protesten. Dies war allerdings auch in der Vergangenheit der Fall und kann angesichts der Bevölkerungsstruktur des Landes kaum verwundern.

Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Gruppe der Protestierenden sehr heterogen ist: Viele der Protestierenden kommen aus den urbanen Armenvierteln und sind in der Vergangenheit meist nicht in politischen Prozessen oder sozialen Bewegungen aktiv gewesen. Neben ihnen sind Studierende und junge Berufstätige (auch bis weit in die Mittelschicht) aktiv. Nicht zuletzt beteiligen sich Gewerkschaften, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften, Kleinbauern, Feminist*innen und Queers an den Protesten (vgl. Cortés und Cárdenas 2021)

Diese Breite der Proteste ebenso wie die Entschlossenheit der Protestierenden überraschten die Regierung, die politischen Parteien, soziale Bewegungen und politische Analyst*innen. Die erfahrenen Mitglieder des Streikkommittee (»Comité de Paro«) wollten angesichts der Pandemie den Streik bereits zum 1. Mai in den virtuellen Raum verlagern und wurden von der Straße schlicht ignoriert. Einige Vertreter*innen oppositioneller Parteien boten sich als Vermittler*innen an und erlitten Schiffbruch. Schon an diesem Punkt wurde klar: Die Protestdynamik unterscheidet sich von früheren Mobilisierungen. Die Proteste haben oft keine klaren Hierarchien und allenfalls ein kleiner Teil der Protestierenden ist durch etablierte Protestführer*innen beeinflussbar bzw. kontrollierbar.

In der Heterogenität der Formen und Träger der Proteste wird auch das breite Panorama der Forderungen sichtbar: die Einforderung grundlegender sozialer Rechte (Bildung, Gesundheit, Arbeit) und der Zukunftsperspektiven für ein Leben in Würde, die Ablehnung der etablierten Politiker*innen sowie die Anklage von Korruption, Klientelismus und der fortwährenden Gewalt gegen soziale Aktvist*innen. Die repressive Beantwortung der Proteste durch die Sicherheitskräfte wirkt zudem als Brandbeschleuniger der Proteste, verlieh dies doch Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Sicherheitssektors zusätzlichen Auftrieb. Schließlich fällt auch die schleppende Implementierung des 2016 geschlossenen Friedensvertrags mit der ehemaligen Guerrilla der FARC-EP unter die Kritik der Protestierenden. Gemeinsam ist den Forderungen der Aufschrei: Es reicht!

Denn keinesfalls kommt die ­soziale Eruption aus dem Nichts. Zentrale Konfliktursachen sind die strukturellen Entwicklungsprobleme des Landes. Bereits unter dem letzten Präsident Santos (2010-2018) gab es vermehrt Proteste für mehr soziale Gerechtigkeit. Noch kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie wurde die Regierung von Ivan Duque Ende 2019 von massiven Protesten in die Enge getrieben und reagierte mit Ausgangssperren. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren ein willkommenes Mittel, um den Protest zu beenden. Diese trugen jedoch auch zur weiteren Zuspitzung der Protestursachen bei. Sozial benachteiligte Gruppen wurden von den Auswirkungen der Pandemie überproportional hart getroffen und die Politiken zur Abfederung der Krise waren und sind bei weitem nicht ausreichend (Peters 2020). In der Konsequenz nahmen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit im Jahr 2020 in Kolumbien deutlich zu (vgl. CEPAL 2021).

Friede den Palästen, Krieg den Hütten?

Im Zentrum der Proteste stehen daher soziale Forderungen. Der Friedensprozess ist auf den ersten Blick allenfalls ein untergeordnetes Thema der Mobilisierungen. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Proteste auf zwei Weisen eng mit den ebenso offensichtlichen, wie wenig diskutierten Problemen des kolumbianischen Friedensprozesses zusammenhängen.

  • Erstens begegnet der Friedensprozess weder den extremen sozialen Ungleichheiten noch den Ungleichheiten im Landbesitz oder dem Mangel an sozialer Mobilität in adäquater Form (vgl. OECD 2018, S. 27; World Economic Forum 2020, S. 7). Diese strukturellen Konfliktursachen wurden entweder nicht ausreichend adressiert oder – wie im Falle der Reform der ländlichen Entwicklung – bestenfalls im Schneckentempo bearbeitet (vgl. Instituto Kroc 2021).
  • Zweitens hat der Friedensprozess zwar nicht das Land, wohl aber die großen Städte jenseits der Marginalviertel und die wohlhabenden Orte der Fincas befriedet. Pointiert ausgedrückt liest sich die vorläufige Bilanz des Friedensprozess wie eine Umkehrung von Georg Büchners Forderung aus dem Vormärz: Friede den Palästen, Krieg den Hütten. Denn gerade Teile der privilegierten sozialen Gruppen profitieren vom Friedensprozess, etwa durch neue Entwicklungspotenziale. Eine Infragestellung ihrer Privilegien brauchen die Eliten des Landes ebenso wenig zu befürchten, wie direkte Konsequenzen für ihre Privilegien aus der hervorragenden Arbeit der Transitional-­Justice-Institutionen des Landes.

Ein großer Teil der historisch marginalisierten Bevölkerung wartet hingegen bisher vergeblich auf die Materialisierung einer Friedensdividende. Insbesondere in den durch historische Marginalisierung geprägten Regionen der kolumbianischen Peripherie – etwa an der Pazifikküste, im Norden des Landes, an der Grenze zu Venezuela oder in Teilen des Amazonasgebietes – aber auch in vielen Armenvierteln der großen Städte ist der Frieden in weiter Ferne.

Nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes mit der FARC-EP 2016 stießen andere alte und neue Gewaltakteure in das Machtvakuum. Heute liefern sich verschiedene bewaffnete Gruppen Machtkämpfe in der kolumbianischen Peripherie. Dabei geht es auch um die Kontrolle des florierenden Drogengeschäfts, einschließlich der Transportwege in Kolumbien. Die vielen Morde an sozialen Aktivist*innen, Umweltschützer*innen und ehemaligen FARC-Kämpfer*innen zeigen, dass in weiten Teilen des peripheren und marginalisierten Kolumbiens kaum von Frieden gesprochen werden kann. Gleichzeitig kann die Aussicht auf symbolische Reparationen der wachsenden materiellen Not von vielen der über 9 Millionen Opfer des bewaffneten Konfliktes nicht adäquat begegnen.

Perspektiven für eine kon­struk­tive Bearbeitung der Krisen

Eine konstruktive Bearbeitung dieser Multikrise erfordert einen Paradigmenwechsel. Kriminalisierung und Repression müssen durch Dialog und konstruktive Lösungsvorschläge ersetzt werden. Der Schlüssel liegt in der Implementierung des Friedensvertrags sowie in der Bearbeitung der sozialen Frage.

  • Ersteres betrifft vor allem die Umsetzung der Reform der ländlichen Entwicklung, einschließlich der Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Kolumbien, den effektiven Schutz sozialer Aktivist*innen sowie vermehrte Anstrengungen zur Substitution des Anbaus illegaler Drogen durch legale Alternativen.
  • Dennoch muss klar sein, dass der Friedensvertrag alleine ein allzu stumpfes Schwert für die Bearbeitung der immensen Herausforderungen Kolumbiens ist. Die zunehmende Gewalt im Land kann nur durch eine Kombination aus Gesprächen mit verhandlungsbereiten bewaffneten Gruppen und einem Paradigmenwechsel in der internationalen Drogenpolitik mit dem Ziel der Reduzierung der unermesslichen Gewinnmargen bekämpft werden.
  • Ergänzend ist eine Reform des kolumbianischen Sicherheitsapparats mit dem Ziel der Professionalisierung und der Stärkung von Deeskalationsstrategien der Polizei unabdingbar.
  • Doch vor allem braucht es einen Wandel der Perspektive: Gerade das Führungspersonal scheint die Protestierenden bisweilen nicht als engagierte Bürger*innen, sondern als inneren Feind wahrzunehmen.

Gleichzeitig gilt es auch und insbesondere die soziale Frage vermehrt ins Zentrum zu rücken. Die sozialen Ungleichheiten in Kolumbien sind bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Landbesitz jeweils extrem. Hinzu kommt, dass es kaum Möglichkeiten der sozialen Aufwärtsmobilität gibt. Die sozialen Ungerechtigkeiten haben sich in der Pandemie noch weiter verschärft. Die sozialen Härten trafen die Armen und die untere Mittelschicht. Dem gilt es entgegenzusteuern, beispielsweise indem die Belastungen auf die »starken Schultern« der Gesellschaft konzentriert werden: Lateinamerikanische Eliten werden traditionell kaum über Steuern in die gesellschaftliche Pflicht genommen. Kolumbien ist hier keine Ausnahme. Diese Tatsache wird mittlerweile auch von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF als Problem erkannt (vgl. Financial Times 2021). Die massiven Proteste haben der Regierung gezeigt, dass es nunmehr an der Zeit ist, die berechtigten Forderungen nach der Einhaltung sozialer Rechte und damit die Finanzierung von Perspektiven, durch eine Steuerreform, die endlich die privilegierten Teile der Bevölkerung in die Pflicht nimmt, zu finanzieren.

Die Menschen auf der Straße fordern lautstark drängende Reformen für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung in Kolumbien ein. Es bleibt abzuwarten, ob die kolumbianische Politik diese Stimmen hört und die Weichen in Richtung auf eine bessere Zukunft stellt.

Literatur

CEPAL (2021): Panorama Social de América Latina y el Caribe. Santiago de Chile.

Cortés, G.; Cárdenas, M. (2021): Die Zivilbevölkerung in Kolumbien darf uns nicht egal sein. Aktueller Beitrag, Wissenschaft und Frieden online, 18.05.2021.

Deutsche Welle/DW (2021): Colombia cumple dos meses de estallido social entre protestas y vandalismo. 29.06.2021.

FAZ (2021): Konflikt in Kolumbien: Wütende Jugend trifft auf repressive Polizei. 12.05.2021.

Financial Times (2021): Richest Latin Americans should pay ‘much more’ tax, says IMF. 21.06.2021.

Instituto Kroc (2021): El Acuerdo Final de Colombia en tiempos del Covid-19: Apropiación institucional y ciudadana como clave de la implementación.

JEP-UIA (2021): Gravedad de la situación de derechos humanos en Colombia. El caso del paro nacional y sus repercusiones sobre el Sistema Integral para la Paz (28 de abril al 30 de mayo de 2021).

OECD (2018): A broken social elevator? How to promote social mobility? Paris.

Peters, Stefan (2020): Ungleichheit tötet. Internationale Politik und Gesellschaft, 26.03.2020.

Temblores, Indepaz und PAIIS (2021): Resumen Ejecutivo Informe de Temblores ONG, Indepaz y PAIIS a la CIDH sobre la violación sistemática de la Convención Americana y los alcances jurisprudenciales de la Corte IDH con respecto al uso de la fuerza pública contra la sociedad civil en Colombia, en el marco de las protestas acontecidas entre el 28 de abril y el 26 de junio de 2021. URL: indepaz.org.co.

World Economic Forum (2020): The global social mobility report 2020: Equality, opportunity and a new economic imperative. Genf.

Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitet das Deutsch-Kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/3 Frieden lernen, aber wie? – Aktuelle Fragen der Friedenspädagogik, Seite 45–47