W&F 2016/3

Aus dem Herausgeberkreis

von W&F-Herausgeberkreis

Die Ereignisse in der Türkei

Stellungnahme und öffentlicher Appell der deutschen IALANA-Sektion

von IALANA

I

Als das türkische Verfassungsgericht Ende Februar 2016 die angeordnete Untersuchungshaft gegen zwei Journalisten aufhob, die die Unterstützung militanter Islamisten in Syrien durch türkische Stellen aufgedeckt hatten, drohte der türkische Präsident Erdogan den Richtern: „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht.“1 Dieser Drohung hat er jetzt Taten folgen lassen.

Als Vorwand dafür hat er den am 15. Juli d.J. gescheiterten Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs genutzt. Seit der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 sind anhand von offenkundig lange vorbereiteten Listen fast 3.000 RichterInnen und StaatsanwältInnen durch die Exekutive ihres Amtes enthoben und ein Großteil von ihnen verhaftet worden. Die Suspendierungen und Repressionen sind auf Tausende von Journalisten, Lehrern, Professoren, Rechtsanwälten und Angehörigen von Bildungseinrichtungen ausgedehnt worden. Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsender sind geschlossen oder gleichgeschaltet worden. Unter Berufung auf die türkische Verfassung und Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die türkische Regierung jetzt zudem den »Ausnahmezustand« verhängt, um sich lästiger rechtstaatlicher Fesseln zu entledigen.

II

Die NATO schweigt bisher zu diesen Vorgängen. Dabei sind alle NATO-Mitgliedsstaaten verpflichtet, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“ (Satz 2 der Präambel des NATO-Vertrages).

Wir stellen fest, dass das Vorgehen von Präsident Erdogan und seiner Regierung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen unvereinbar ist, die die Türkei jedenfalls durch den Beitritt zum Europarat und durch die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingegangen ist. Die mit einer Verhängung des Ausnahmezustandes verbundene „Aussetzung“ grundrechtlicher Garantien der EMRK käme nach Artikel 15 EMRK allein dann in Betracht, wenn „das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht ist“. Diese Voraussetzung ist in der Türkei heute schon deshalb nicht gegeben, weil der versuchte Militärputsch bereits am 16. Juli d.J. niedergeschlagen und gescheitert war, also jedenfalls seitdem schon aus diesem Grunde nicht mehr als Rechtfertigung für die Verhängung des Ausnahmezustandes herangezogen werden darf. Die Türkei hat keinerlei Recht, die EMRK und die Unabhängigkeit der Justiz nach eigenem Belieben einzuschränken.

Es darf nicht hingenommen werden, dass die Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit sowie die Pressefreiheit in der Türkei entgegen Artikel 9 und 10 EMRK eingeschränkt werden und dass entgegen Artikel 5 und 8 EMRK die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens von Erdogan-Kritikern nicht gesichert sind. Ferner verstößt es gegen die EMRK, dass den nach Medienberichten zwischenzeitlich mehr als 50.000 suspendierten türkischen Staatsbediensteten und anderen Verhafteten die in Artikel 6 EMRK garantierten Rechte auf ein faires Verfahren vorenthalten werden. Ausweislich der uns von betroffenen Richtern zugegangenen E-mails werden die Betroffenen entgegen Artikel 6 Absatz 3 EMRK jedenfalls nicht „innerhalb möglichst kurzer Frist […] in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet“. Beweise für eine behauptete Verwicklung in den gescheiterten Militärputsch oder andere Amtspflichtverletzungen werden den Betroffenen über den schlichten Verweis auf die Listen hinaus weder mitgeteilt noch gar nachprüfbar vorgelegt.

III

Die Suspendierungen und Verhaftungen der mehr als 500 Verwaltungsrichter, von mehreren Verfassungsrichtern und mehr als 2.000 RichterInnen anderer Gerichte lassen die Zielrichtung erkennen: Die von Präsident Erdogan und seiner AKP-Regierung angeordneten und veranlassten Maßnahmen zielen vor allem auf die Ausschaltung einer unabhängigen Justiz, die Einschüchterung und Unterdrückung jeder Opposition, die Gleichschaltung der Presse und Medien sowie auf die möglichst ungehinderte Errichtung eines autoritären Präsidialregimes mit einem ungehemmten Führerkult.

Das dürfen die Vertragsstaaten der EMRK und die Institutionen des Europarates nicht länger widerspruchslos hinnehmen. Die Forderung der Bundeskanzlerin und von Bundesinnenminister de Maizière an Präsident Erdogan, das „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ zu wahren, stellt die repressiven Maßnahmen gegen die türkische Bevölkerung im Grundsatz nicht in Frage, sondern geht von deren Legitimität aus. Sehr befremdlich ist es, dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am 21.7.2016 in Washington erklärt hat, der in der Türkei verhängte Notstand müsse „auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet“ werden.2 Auch das legitimiert den aktuell verhängten »Ausnahmezustand«. Präsident Erdogan wird all dies freuen.

IV

1. Wir fordern die deutsche Bundesregierung und die Regierungen aller Vertragsstaaten des Europarates auf, beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine Staatenbeschwerde nach Artikel 33 der EMRK3 gegen die Türkei zu erheben, um ein EMRK-konformes Verhalten einzufordern und durchzusetzen. Zur Vorbereitung sollte unverzüglich eine Expertenkommission mit »fact finding«-Befugnissen entsandt werden. Sie sollte sicherstellen, dass sich verfolgte und verhaftete Bürgerinnen und Bürger in der Türkei ungehindert mit der Bitte um Unterstützung an sie wenden können.

2. Auch die OSZE ist gefordert. Das Menschenrechtskomitee (Human Dimension Committee) der OSZE muss sich unverzüglich mit der Menschenrechtslage in der Türkei befassen. Sie sollte eine sofortige Rücknahme der pauschalen listenmäßigen Suspendierung der RichterInnen und StaatsanwältInnen sowie der Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz und ein Ende der Verstöße gegen zentrale Menschenrechte einfordern.

3. Der NATO-Rat muss auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs baldmöglichst zu einer Sondersitzung zusammentreten, um die Türkei eindringlich auf ihre demokratischen und rechtsstaatlichen Pflichten als NATO-Mitgliedsstaat hinzuweisen. Die in der Türkei im NATO-Rahmen stationierten 50 Atomsprengköpfe müssen dort unverzüglich abgezogen werden. Alle Waffen- und Rüstungslieferungen sowie alle Finanztransfers an das Erdogan-Regime müssen sofort bis auf Weiteres gestoppt werden.

4. Die Tornado-Einheit der Bundes-Luftwaffe sollte unverzüglich aus Incirlik abgezogen werden.

Anmerkungen

1) Vgl. u.a. dpa: Lange Haftstrafen für regierungskritische Journalisten. faz.net, 6.5.2016.

2) saz./dpa/Reuters: Steinmeier ruft Erdogan zu Verhältnismäßigkeit auf. faz.net, 21.7.2016.

3) Artikel 33 der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Fassung vom 1. Juni 2010: „Staatenbeschwerden: Jede Hohe Vertragspartei kann den Gerichtshof wegen jeder behaupteten ­Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe Vertragspartei ­anrufen.

Berlin, den 24./25.7.2016
IALANA – Deutsche Sektion der Inter­national Association Of Lawyers Against Nuclear Arms

Transhumanismus

FIfF-Kommunikation 2/2016

von FIfF

Transhumanismus ist kein klar abgegrenzter Begriff oder gar ein klar umrissenes Forschungsgebiet. Mit der immer engeren Verbindung zwischen Wissenschaften und Technik in Bio-, Gen- und Informationstechnologie in all den duplizierten Fächern mit dem Präfix Computational, mit Artificial-Life-Forschung, Trans- und Posthumanismus und Extropianismus verschwimmen auch Grenzen zwischen Mensch und Maschine.

Die Beiträge des Schwerpunkts der aktuellen Ausgabe der FifF-Kommunikation zum Transhumanismus sind von klaren Bekenntnissen zum Technikoptimismus bis hin zu fundierter Konzeptkritik breit gefächert. Der erste Teil, zusammengestellt von Karsten Wendland, Linda Embacher und Stephan Straub, zeigt Ziele, Paradigmen des und Techniken für den Transhumanismus, der mittlerweile vielerorts als »neue Religion der technischen Eliten« gilt. Sein Fernziel ist die Unsterblichkeit des einzelnen Menschen, erreichbar durch »Mind Uploading« in die Virtualität. In dieser lebt man sodann für immer, kann sich nach Bedarf in den unterschiedlichen Rollen und Formen (durch »Download«) materiell manifestieren und danach wieder zurückkehren.

In einem Interview sprechen James J. Hughes, Zoltan Istvan und Stefan L. Sorgner über »Expectations and Apprehensions on Transhumanism«, Kevin Warwick schreibt über »Transhumanism: Some Practical Possibilities«, Michael Hrenka, Benjamin Eidam und Steven Bärwolf behandeln »Prothesen und Implantate aus einer transhumanen Perspektive« und Thomas Damberger untersucht »Information: Der blinde Fleck im Transhumanismus«.

Der zweite Abschnitt des Schwerpunkts, zusammengestellt von Britta Schinzel, beginnt mit Texten über realisierbare bzw. bereits realisierte Bereiche der Amalgamierung von Organischem und Technischem, um sich dann der Genealogie und den Problemen von bzw. der Kritik an transhumanistischen Utopien zuzuwenden.

In ihrem Beitrag »Neurotechnologie: Aktuelle Entwicklungen und ethische Fragen« verbinden Oliver Müller und Stefan Rotter die Darstellung der konstruktiven Möglichkeiten der Neurotechnologie mit reflexiven ethischen und anthropologischen Überlegungen. Die Aufwärtsentwicklung von der Reparatur zur unternehmerischen Selbstverbesserung, von Therapie zu »enhancement«, Optimierung, Leistungssteigerung und Wahrnehmungssteigerung stellt Karin Harrasser in ihrem Beitrag »Parahumane Konstellationen von Körper und Technik« der vorherrschenden globalen Wachstumsideologie gegenüber. Rainer Rehak problematisiert in seinem Beitrag »Die Macht der Vermenschlichung und die Ohnmacht der Begriffe« die Umdeutung alltagssprachlicher Begriffe. Ralf Schöppner untersucht soziale, ethische und Machbarkeits-Überlegungen: »Glücklich durch Technik?«

Oliver Müllers Beitrag »Zu einigen philosophischen Tiefenstrukturen des Transhumanismus« erörtert dessen Voraussetzungen und Vorannahmen aus älteren philosophischen Traditionen und Menschenbildern, und Karen Kastenhofer und Helge Torgersen behandeln im Beitrag »Transhumanismus und Neuroenhancement» die neue Aufgabe der Technikfolgenabschätzung (TA), sich mit noch nicht realisierten Zukunftsvisionen auseinanderzusetzen.

Die Hochschule Bremen wird den schon länger bestehenden Internationalen Frauenstudiengang Informatik (IFI) nun in Zusammenarbeit mit der Bundeswehr um ein neues Duales Studienangebot komplettieren. Ralf E. Streibl, der in dem Studiengang seit Beginn das Fachgebiet Informatik und Gesellschaft vertreten hatte, will unter diesen Bedingungen nicht weiter an der Lehre mitzuwirken und legt in einem offenen Brief seine Gründe dar.

Dietrich Meyer-Ebrecht rezensiert einen Artikel von Robert Epstein, »The new mind control«, und setzt damit seine Reihe von Beiträgen zur Selbstbestimmtheit in der digitalen Welt fort. Thea Riebe wirft in ihrem Beitrag »Sicherheit durch Überwachung?« einen kritischen Blick auf »Surveillance Studies«, und Sylvia Johnigk und Kai Nothdurft beschreiben in »SUPERNERDS. Wie sicher sind deine Daten?« den Umgang mit Datenschutz in sozialen Medien bei Schülern der 8. bis 12. Klasse. Die gewohnten Rubriken runden die Ausgabe ab.

Inhaltliche Anfragen richten Sie bitte an die Redaktion redaktion@fiff.de; ein Rezensionsexemplar senden wir Ihnen auf Anfrage an fiff@fiff.de gerne zu. Auf unserer Webseite (fiff.de/publikationen/fiff-kommunikation/) finden Sie weitere Informationen zur aktuellen Ausgabe und zu vorangegangenen Heften sowie eine Auswahl der Beiträge online.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/3 Politischer Islam, Seite 49–51