W&F 2015/2

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Atomwaffen und geltendes Völkerrecht

Schreiben an den Botschafter der Russischen Föderation

Das folgende Schreiben schickte IALANA am 23. März 2015 an den Botschafter der Russischen Föderation in Berlin, Wladimir M. Grinin:

Sehr geehrter Herr Botschafter,

IALANA [International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms] setzt sich seit Jahrzehnten gegen nukleare und andere Massenvernichtungswaffen sowie gegen die Drohung mit deren Einsatz ein. Wir wenden uns auch gegen die »Nukleare Teilhabe« Deutschlands und anderer NATO-Nichtatomwaffen-Staaten und fordern die Einhaltung und strikte Erfüllung des Nichtverbreitungsvertrages, insbesondere auch der in Art. VI NVV normierten Abrüstungsverpflichtungen. Aktuell erfüllen uns Nachrichten über die Möglichkeit eines Einsatzes russischer Atomwaffen im Ukraine-Konflikt mit großer Sorge.

Ausweislich eines in den Medien am 15. März 2015 verbreiteten TV-Interviews soll der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, dem Interviewer gegenüber geäußert haben, auf dem Höhepunkt der Ukraine-Krise habe er es nicht ausschließen können, das Nuklearwaffenarsenal der Atommacht notfalls in Bereitschaft zu versetzen. Auf die Nachfrage des Journalisten, ob er damit meine, dass Russland zum Atomwaffeneinsatz bereit gewesen sei, soll Präsident Putin erklärt haben: „Wir waren bereit, sie einzusetzen. Ich habe meinen internationalen Amtskollegen ganz klar gesagt, es sei historisches Gebiet mit einer russischen Bevölkerung. Die Menschen dort sind in Gefahr, und wir werden sie niemals im Stich lassen.“

Sollten diese Meldungen zutreffen, hätte sich Präsident Wladimir Putin unseres Erachtens in Widerspruch gesetzt zum geltenden Völkerrecht, wie es der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) in seinem Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 eingehend dargelegt hat. In diesem hat das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, das für die verbindliche Interpretation des Völkerrechts zuständig ist, entschieden, dass der Einsatz von Atomwaffen und auch bereits dessen Androhung grundsätzlich („generally“) gegen die Regeln des Völkerrechts verstößt, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des so genannten humanitären Völkerrechts (ius in bello).

Der erste dieser Grundsätze ist auf den Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte ausgerichtet und legt die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten fest; die Staaten dürfen Zivilisten nie zum Angriffsziel machen und dürfen demnach nie Waffen einsetzen, die – wie die Atomwaffen – unterschiedslos zivile und militärische Ziele treffen. Dem zweiten Grundsatz zufolge ist es verboten, Kombattanten unnötiges Leiden zu bereiten. Dementsprechend ist es strikt untersagt, Waffen einzusetzen, die ihnen vermeidbare Schmerzen und Leiden zufügen. Ein weiterer Grundsatz des humanitären Völkerrechts verbietet zudem die Anwendung von Waffen, deren Wirkung sich nicht auf bestimmte Staatsgebiete begrenzen lässt, sondern unter Verletzung des Neutralitätsprinzips auch Nachbarländer in Mitleidenschaft zieht.

Staaten haben deshalb hinsichtlich der von ihnen eingesetzten Waffen keine uneingeschränkte Wahl der Mittel. Atomwaffen können, nach allem was wir wissen, die Anforderungen des humanitären Völkerrechts nicht erfüllen.

Soweit der IGH in seinem Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 erklärt hat, er könne keine endgültige Aussage über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen durch einen Staat zur Selbstverteidigung in einer extremen Situation, in der es um das Überleben („the very survival“) geht, treffen, ergibt sich auch daraus kein bestehendes Recht zum Atomwaffeneinsatz. Der Gerichtshof hat diese Aussage im Hinblick auf das nicht belegte und nicht überprüfte Vorbringen einiger Atomwaffenmächte ihm gegenüber getroffen, das sich auf die angeblich künftig mögliche Entwicklung so genannter »sauberer« Atomwaffen bezog. Dies hat der damalige Präsident des Gerichtshofs, Prof. Mohammed Bedjaoui, ausdrücklich mehrfach klargestellt. Solche »sauberen« Atomwaffen relativ geringer Sprengkraft, die angeblich keine lang anhaltenden nuklearen Verstrahlungen und keine länderübergreifenden nuklearen Großschäden auslösen sollen, gibt es bisher nicht. Die in den Arsenalen der Atommächte existierenden einsatzfähigen Atomwaffen haben diese Eigenschaften nicht.

Wir möchten noch hinzufügen: Das Überleben („the very survival“) der Russischen Föderation stand und steht ohnehin weder im Krimkonflikt noch in der Ukraine-Krise auf dem Spiel. Selbst nach der Argumentation der russischen Regierung ging und geht es auf der Krim und in der Ukraine allein um den Schutz der russischen Bevölkerungsgruppen vor Menschenrechtsverletzungen sowie um geostrategische Sicherheitsinteressen Russlands angesichts der erfolgten und möglicherweise weiterhin geplanten Erweiterung des NATO-Vertragsgebietes. Daran ändert auch nichts, dass diese NATO-Osterweiterung eklatant politischen Zusagen widerspricht, die Russland von den USA und anderen NATO-Staaten im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung und der Charta von Paris nach 1989/1990 gegeben worden sind.

Uns allen sollte stets bewusst sein, dass ein Einsatz von Atomwaffen durch Russland oder einen anderen Atomwaffenstaat zu einem »Schlagabtausch« zwischen Atomwaffenmächten führen könnte, der letztlich in einer Menschheitskatastrophe enden würde, in der es für alle kein »survival« mehr gibt.

Wir bitten Sie, geehrter Herr Botschafter Wladimir Grinin, um Aufklärung über den Wahrheitsgehalt der Präsident Putin zugeschriebenen Äußerungen und gegebenenfalls um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit dieser Erklärung mit dem geltenden Völkerrecht.

Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch geben könnten.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Otto Jäckel, Rechtsanwalt, Vorsitzender Bernd Hahnfeld, Richter i.R., Vorstand Dr. Peter Becker, Rechtsanwalt, Co-Vorsitzender

Deutschland: Wi(e)der die Großmacht!

IMI-Broschüre zum Kongress erschienen

Im März 2015 veröffentlichte die Informationsstelle Militarisierung (IMI) die Broschüre »Deutschland: Wi(e)der die Großmacht!«. Sie beschäftigt sich mit den Hintergründen der neuen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die mit dem Auftritt von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 eingeläutet wurde. In bis dahin nicht gekannter Offenheit drängen seither große Teile aus Politik, Wirtschaft, Militär und Medien auf einen weltpolitischen Aufstieg Deutschlands. Gleichzeitig benennen sie auch offen die hierfür notwendige Bedingung: die Bereitschaft, sich künftig häufiger militärisch-machtpolitisch in Szene zu setzen. Die Broschüre dokumentiert die Beiträge des gleichnamigen letzten IMI-Kongresses, auf dem versucht wurde, diese neue deutsche Großmachtpolitik inhaltlich umfassend aufzuarbeiten. Vor allem aber geht es natürlich auch darum, Widerstand gegen diese Politik anzuregen.

Die Broschüre (68 S., DINA4) kann gratis von der IMI-Webseite imi-online.de heruntergeladen oder zum Preis von vier Euro (plus Porto) unter imi@imi-online.de bestellt werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Deutschlands (neue) Großmachtambitionen (Jürgen Wagner)
  • Rüstungsprojekte der Bundeswehr (Arno Neuber)
  • Die Standorte der Armee im Einsatz (Christoph Marischka)
  • Frontalangriff auf die Parlamentskontrolle (Tobias Pflüger)
  • Geheimdienste unter sich: NSA-BND und die deutsche Großmacht (Rainer Rehak)
  • Bundeswehr: Der attraktive Konzern von nebenan? (Thomas Mickan)
  • Mediale Kriegstrommeln: Ideologieproduktion an der Heimatfront (Claudia Haydt)
  • Die Ukraine und EUropas Nachbarschaftspolitik (Jürgen Wagner)
  • Militärische »Lehren« aus Afghanistan? (Lühr Henken)
  • Die »neue« Afrika-Politik der BRD (Christin Bernhold)
  • Der Celler Trialog: Ideologieproduktion und Elitenkonsens (Martin Kirsch)
  • Die NATO-Sicherheitskonferenz und die Proteste 2001 bis jetzt (Franz Iberl)
  • Protest gegen die Königsbronner Gespräche (Marcel Kalwass)

NatWiss trauert um Jürgen Schneider

Jürgen Schneider, Geologe, über Jahrzehnte Hochschullehrer an der Universität Göttingen, Friedensengagierter und Kritiker eines hemmungslosen Kapitalismus, ist tot. Er verstarb am 18.3.2015.

Wir haben einen Freund und Mitstreiter verloren, der mit unendlicher Geduld und Zuversicht für eine friedliche und naturverbundene nachhaltige Zukunft stritt. „Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.“ Oft endeten seine Vorträge zur Verantwortung der Wissenschaft, zum Frieden mit der Natur, gegen die atomare Bedrohung, für Frieden auf dem kleinen blauen Planeten (hier kam der Geologe immer wieder durch) mit diesem Ausspruch der drei großen Männer Molière, Schopenhauer und Bloch.

Diese Worte drücken seine Lebensphilosophie am besten aus: „Als engagierter Wissenschaftler habe ich eine Verantwortung für das Leben, die Zukunft, besonders der jungen Generation. Diese muss ich auch gegen Widerstände an der Universität, in der Politik und Öffentlichkeit wahrnehmen. Ich betreibe Aufklärung, gerade auch über unseren unverantwortlichen Umgang mit der Natur und die hemmungslose Ausbeutung endlicher Ressourcen“, so Jürgen Schneider in seinen aufrüttelnden Reden und Beiträgen.

Frieden mit der Natur, darüber sprach Jürgen Schneider schon, als die Verbindung von Frieden und Umwelt noch kaum ein Thema war. Sein beeindruckender Vortrag dazu auf dem großen Naturwissenschaftler-Friedenskongress im Juli 1983 ist vielen ebenso in Erinnerung geblieben wie seine Organisation des ersten großen Kongresses gegen »Waffen im Weltraum« im Sommer 1984. Konsequenterweise wurde er Mitgründer und langjähriges Vorstandsmitglied der »Naturwissenschaftlerinitiative für den Frieden« sowie Mitglied der »Vereinigung Deutscher Wissenschaftler«.

Jetzt werden wir, lieber Jürgen, ohne Dich weitermachen müssen. Du wirst uns fehlen, wenn es gilt, unermüdlich auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und dazu aufzufordern, die Rechte der Natur anzuerkennen.

Reiner Braun

Jürgen Schneider begleitete das Projekt W&F von Anfang an, beteiligte sich viele Jahre engagiert an Diskussionen um die Ausrichtung der Zeitschrift und war Mitglied im W&F-Beirat. Redaktion und Vorstand werden ihn vermissen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2015/2 Technikkonflikte, Seite 51–53