Aus dem Nebel – aber ohne Fernsicht
Der neubegonnenen Europadiskussion fehlen Visionen
von Corinna Hauswedell
Ganz offensichtlich drückt der deutsche Vereinigungsprozeß der sich belebenden Europadiskussion seinen Stempel des Pragmatismus auf. Die NATO tut sich schwer, zu anderen Ufern aufzubrechen. Es scheint, als seien die Zeit und wichtige Akteure »nicht reif«, wirklich neu zu denken und einzuleiten, was wesentlich durch Gorbatschows Reforminitiative vor etwas über fünf Jahren inspiriert und durch die folgenden Umbrüche in Osteuropa möglich wurde.
Die im Umfeld der DDR-Wahlen im März – eher nachholend – wieder einsetzende Diskussion über europäische Sicherheit trägt alle Zeichen dieses Dilemmas. Von wenigen Ausnahmen – erfreulicherweise aus den Reihen der Friedensforschung – abgesehen, enthalten die ein- und mehrseitigen Positionspapiere zur »Neuen Bündnisstrategie«, einer »Europäischen Sicherheitsgemeinschaft«, »Gesamteuropäischen Architektur« u.ä. wenig echte Innovation und Mut zu neuen Lösungsansätzen. Mit Beharrlichkeit wird trotz gegenteiliger Rhetorik Sicherheit vor allem militärisch gedacht – auch in den strukturell weiterreichenden Veränderungsvorschlägen.
„Endsieg im Kalten Krieg oder gemeinsame gesamteuropäische Friedensordnung, für eines dieser beiden Ziele muß man sich aber entscheiden “ – die Alternative des Friedensforschers Horst Afheldt trifft den Kern der Problematik.
Die Debatte kreist im wesentlichen um vier Hauptthemen:
- die Einbeziehung der Sowjetunion in das neue Europa
- die Neubestimmung der Funktion der NATO
- die KSZE als mögliche Basis eines neuen europäischen Sicherheitssystems
- die Rolle der deutsch-deutschen Einigung bzw. des neuen Deutschland in und für diesen Prozeß.
Der Artikel bemüht sich um eine Übersicht und Wertung der Standpunkte entlang dieser Stichworte.
Einbeziehung der Sowjetunion – Kuhhandel oder Essential
Die gemeinsame Erklärung von Helmut Kohl und Michael Gorbatschow vom Mai 1989 – fünf Monate vor der Öffnung der Berliner Mauer – formulierte noch die Selbstverständlichkeit gleichberechtigter Interessen in Europa, die jetzt unter die Räder des Deutschland-Express zu kommen drohen.
Mit einem 5 Milliarden-Kredit will die Bundesregierung der hilfsbedürftigen Sowjetunion eine auf die deutsche Einheit reduzierte Sicherheit in Europa abkaufen. Die 4 plus 2 – Verhandlungen sollen besiegeln, was nur in einem größeren Kontext aller in Europa involvierten Nachbarn Akzeptanz finden kann. Denn ein Dreischritt ohne historisches Vorbild soll gelingen: Erstens die friedliche Beilegung des Kalten Krieges unter allen Beteiligten; zweitens die Resouveränisierung Deutschlands, ohne die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges zu negieren, jedoch unter Aufhebung des Systemgegensatzes, der für die Konfrontation der letzten vierzig Jahre prägend war; drittens der Beginn einer neuen Form staatlicher Zusammenarbeit, für die andere Sicherheitsparadigmen als militärische – soziale, ökonomische, ökologische – zu entwickeln sind: Europa muß innerhalb seines Territoriums und gegenüber Dritten den Schritt von der Politik der Stärke und Hegemonie zur gleichberechtigten Kooperation gehen lernen. Die große wirtschaftliche Kraft der EG wäre dafür eigentlich eine gute Voraussetzung.
Daß für diese dreifache Aufgabe ein Höchstmaß an Besonnenheit und Rücksichtnahme auf alle beteiligten Interessen sowie die Bereitschaft, Altes und Neues nebeneinander zu denken, erforderlich ist, liegt auf der Hand.
Demgegenüber erwecken die Regierungspolitik und manche westdeutsche Kommentare den Eindruck eines rein taktischen Verhältnisses zu der Kernfrage, wie das vollständig im Umbruch befindliche, verwundbare sowjetische Reich sich an dem europäischen Friedensprozeß beteiligen kann: „Kurz: Die Sowjetführung soll die Einigung in und über Deutschland nicht als eine Fehlschlag ihrer Politik begreifen müssen, die Deutschland-Regelung ihren innenpolitischen Kritikern als einen Schritt zu künftigem Erfolg verkaufen können.“(C.Bertram, Viele Pläne für das Europäische Haus, Die Zeit, 27.4.90.) Die Tatsache, daß es der sowjetischen Führung angesichts der nationalen und ökonomischen Zerreißproben offensichtlich schwer fiel, in den letzten Monaten klare Konzepte für Europa auf die Verhandlungstische zu legen, erhöht eher die Verantwortung der westlichen Seite, »für das Ganze« zu denken. Kategorien eines Kuhhandels greifen mit Sicherheit zu kurz, auch wenn Finanzhilfe für die Sowjetunion dringlichst geboten ist. Es ist der Zeitpunkt (und die Chance), einen internationalen Prozeß von großer Tragweite in Gang zu setzen: Das Ende der Siegerpose und -politik gegenüber dem jeweils Schwächeren. Der Friedensforscher Horst Afheldt verweist zu Recht auf die Gefahren der „bedingungslosen Kapitulation“ und ihrer historischen Dimension: „Denn eine solche Kapitulation untergräbt die Position jeder sowjetischen Führung, die sich den Abbau der Konfrontation zum Ziel gesetzt hat und bereit ist, an einer neuen Friedensordnung mitzuwirken, die die Erfüllung unserer nationalen Sehnsüchte erlaubt. So gefährdet man nicht nur unser nationales Ziel, sondern auch das vorrangigste Interesse: den europäischen Frieden. Versailles führte in den Zweiten Weltkrieg. Roosevelts und Churchills Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands und Japans nahm dem deutschen Widerstand die Grundlage, verlängerte den Krieg in Europa und führte die USA in die Schande der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki …“. (H.Afheldt, Erstes Ziel ist die Festigung des Friedens mit allen Nachbarn, Frankfurter Rundschau, 8.5.1990)
Indem der SIPRI-Direktor Walther Stützle die historischen und aktuellen Interessenlagen der Sowjetunion explizit zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, ragt sein „Plädoyer für eine europäisch-amerikanische Allianz unter Einschluß der Sowjetunion“ (EATO) aus den vorliegenden Konzepten heraus:
„…<|>Gelingen kann das Unternehmen (föderative Reform in der Sowjetunion, C.H.) aber nur, wenn selbständig werdende Republiken Zugang zu Europa finden, ohne sich gegen die Sowjetunion wenden zu müssen. Außerdem müßte der sowjetisch-amerikanisch/westeuropäische Prozeß Schaden erleiden, entstünde im Kreml der Verdacht – begründet oder unbegründet –, der Westen versuchte aus den Verfallstendenzen der Sowjetunion Kapital zu schlagen. Man würde Gorbatschow vorwerfen, er habe den Deutschen die Einheit und dem eigenen Land den Zerfall beschert, er habe verspielt, was 1945 mit einem blutig erfochtenen Sieg gegen Hitler-Deutschland errungen worden war. Das alles spricht für eine neue sicherheitspolitische Struktur, an der die Sowjetunion beteiligt ist, bei der sie bei denen am Tisch sitzt, die über diese neue Struktur zu entscheiden haben. Eine Mitgliedschaft des neuen Deutschland in der ansonsten unveränderten NATO schlösse die Sowjetunion aus statt ein. Neue Unsicherheiten würden just in dem Moment geschaffen, da Gewißheit auf allen Seiten mehr denn je nötig ist, daß die Eingliederung ganz Deutschlands in die europäische Einigung auf niemandes Kosten geht.“ (W.Stützle, West und Ost in einem Bündnis, Die Zeit, 25.5.1990) Stützle verweist hier auch auf die Interdependenz zwischen der Einbeziehung der Sowjetunion und der Neukonzipierung der NATO.
Bleibt die Nato (wie sie ist)?
Der Niedergang des einen der beiden großen Militärbündnisse kann – wegen der zugrundeliegenden Ursachen – nicht einfach die (Re)vitalisierung des anderen zur Folge haben. Zum einen entfallen zukünftig zentrale Voraussetzungen, die nur auf der Feindbildprojektion und Konfrontation zwischen beiden Bündnissen beruhten. Andererseits wurde der schnellere Verfall der WVO durch Prozesse hervorgerufen, für die es bei aller Unterschiedlichkeit der ökonomischen Systeme durchaus Parallelen im Kapitalismus gibt: Die Bindung enormer wissenschaftlich-technischer, ökonomischer und menschlicher Kapazitäten durch den Militär-Industrie-Komplex wird heute auch von führenden westlichen Politikern als zentrales Entwicklungshemmnis gesehen. Im Kontext mit Lösungswegen für die Probleme der »Einen Welt« – »Bevölkerungsexplosion«, »Energieknappheit«, »Globales Umweltrisiko« – schreibt Helmut Schmidt: „Es wird großer politischer Kraft bedürfen, den Interessendruck des militärisch-industriellen Komplexes auf Fortsetzung der bisherigen Über-Rüstung abzuwehren – in Amerika, in der Sowjetunion, aber auch in Europa, überall. In aller Welt müssen den alten Rüstungsindustrien neue nützliche, zivile Aufgaben gestellt werden. Dazu bedarf es eines gemeinsamen Programms...“ (H.Schmidt, Die Tagesordnung für alle Gipfel: Eine Welt, Die Zeit, 6.7.1990) Hier liegt eine essentielle Begründung für beides: Einerseits für die Einbeziehung der Sowjetunion in den europäischen Friedensprozeß; im Westen wird angesichts der tiefen ökonomischen Krise Osteuropas gern vergessen, daß Gorbatschow als Zentralpunkt des Neuen Denkens und der Perestroika den Abschied von der Konfrontation zugunsten gemeinsamer Lösung der globalen Menschheitsprobleme formulierte.
Zweitens liefert Schmidt die Begründung zur Zivilisierung auch der NATO, was auf Dauer mit ihrer Auflösung identisch sein kann.
Der Anpassungsdruck „an die veränderte Wirklichkeit Europas“ ist seit einigen Wochen in aller Widersprüchlichkeit auch in den konservativen Medien spürbar: „Das führt notwendigerweise zur Diskussion darüber, ob das Prinzip der nuklearen Abschreckung, eine der Säulen der westlichen Verteidigungsstrategie, auch dann unabdingbar und damit bestimmend für das Ost-West-Verhältnis bleiben soll, wenn die Politik der Bedrohung immer mehr von einer Politik der Zusammenarbeit abgelöst wird.“ (K.Feldmeyer, Die NATO braucht eine neue Strategie, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 12.5.1990) Vier Wochen später, nach dem NATO-Außenminister-Treffen in Turnberry, nimmt derselbe Autor seinen mutigen Gedanken wieder zurück : „NATO und Warschauer Pakt müssen ihr Verhältnis zueinander so verändern, daß eine deutsche NATO-Mitgliedschaft für die Sowjetunion annehmbar ist. Aus Bündnissen, die militärisch gegeneinanderstehen, müssen Organisationen werden, die vor allem politischen Aufgaben dienen...“ (FAZ,11.6.90). Die WVO hatte zu diesem Zeitpunk bereits in Moskau die Umwandlung in einen politischen Vertrag „souveräner, gleichberechtigter Staaten, der auf demokratischen Prinzipien beruht“, angekündigt.
Die NATO tut sich vergleichsweise schwer, an den Essentials ihrer Militärdoktrin zu rütteln. Mag sein, daß dem die Sorge zugrundeliegt, dem Bündnis damit zu schnell gänzlich die Existenzberechtigung zu entziehen. Der Alt-Ostpolitiker Egon Bahr befürchtet zwar auch, daß eine allzu langwierige Strategiediskussion in der NATO eine Zumutung darstellt: „Die Sowjetunion soll die Katze im Sack kaufen: Ohne zu wissen, ob Vorneverteidigung, atomarer Ersteinsatz und die Strategie der flexiblen Antwort verändert werden, ob luftgestützte Mittelstreckenraketen an die Stelle der wegverhandelten Pershing II kommen.“ Im nächsten Satz mutmaßt Bahr jedoch, die NATO werde „sich kaum vorschreiben lassen...“ (E.Bahr, Sicherheit durch Annäherung, Die Zeit, 29.6.1990.) Es sind unter anderem Zugeständnisse wie dieses an das politische Beharrungsvermögen der alten Strukturen, die eine wirkliche Revision der von Bahr benannten Kernelemente der NATO-Strategie bis heute behindern. Warum können Bahr und andere auch ein sich veränderndes Bündnissystem – also auch auf längere Sicht – nur in Kategorien eines »militärischen Kerns« (mit integrierter Kommandostruktur) und eines »sicherheitspolitischen Kerns« (amerikanische Streitkräftepräsenz in Europa) denken (Zitate Bahr, a.a.O)? Ideen für eine zivile Ankoppelung der USA (und anderer) an Europa sowie die Entwicklung entsprechender Kooperationsstrukuren entsprächen den gemeinsamen Zukunftsinteressen viel mehr. Es mag nicht überraschen, wenn der zum NATO-Strategen gewordene Friedensforscher Karl Kaiser unter „Revision der militärischen Strategie des Westens“ vor allem die Modifikation militärischer Bedrohungsszenarien versteht, die die „Option des Erstgebrauchs“ und die „Kernwaffen als Rückversicherung“ ungebrochen enthalten ( K.Kaiser, Von der nuklearen Abschreckung zur Abgestuften Konfliktkontrolle, Frankfurter Rundschau, 2.7.1990). Die von Kaiser einmal erwähnte „neue europäische Sicherheitsordnung“ gewinnt keinerlei Profil.Aber auch eine anläßlich des NATO-Gipfels am 5./6.Juli in London erstellte Studie der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung kommt zu dem Ergebnis, „daß die Überwindung der nuklearen Abschreckung (noch) nicht auf der Tagesordnung steht.“ Wenig folgerichtig erscheint die Einschränkung, „ein vollständiger Verzicht auf Nuklearwaffen in Europa (sei) allerdings möglich“, da die Abschreckungsfunktion hier „entweder nie relevant, mittlerweile obsolet oder mit politischen Mittel (zu) erfüllen“ sei. So haben die Ergebnisse des Londoner NATO-Gipfels zwar die Funktion von „Friedenssignalen“ (FAZ, 7.7.1990) in Gestalt der Gewaltverzichtserklärung und der Einladung an Gorbatschow ins NATO-Hauptquartier; die dort verbalisierten Wandlungen der Doktrin der »flexible response« sind jedoch so zaghaft, daß der Bonner Regierungssprecher kommentieren konnte: „Das ist doch das, was wir seit vierzig Jahren sagen “ (aus TAZ, 7.7.90). Über den NATO-immanenten Rahmen hinaus denken wenige Positionen. Horst Afheldt unternimmt in dem erwähnten Papier den interessanten Versuch, diejenigen Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag von 1949 und dem Warschauer Vertrag von 1955 zusammenzustellen, die nicht zueinander in Widerspruch stehen: Beitrittsmöglichkeiten, UNO-Friedensverpflichtung, Beistandspflicht. „Die trotz dieser kompatiblen Vertragstexte früher bestehende Unvereinbarkeit des Geistes beider Verträge ist durch die politische Entwicklung von der ideologisch-machtpolitischen Konfrontation zweier Blöcke zur Kooperation beseitigt worden.“ (a.a.O) Man braucht Afheldts Schlußfolgerung einer Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen nicht zu teilen, um in dem Vertragsvergleich (der ja eine Basis für Angleichung werden könnte) Grundgedanken für blockübergreifende Strukturen erkennen zu können. Unzureichend bleiben Afheldts Überlegungen, insofern sie – einschließlich seines Streitkräftekonzepts einer zur »Rundumverteidigung« weiterentwickelten Defensivstruktur – politisch und geographisch auf Deutschland bzw. Mitteleuropa zentriert sind. Weiterreichend, weil gesamteuropäischer gedacht, erscheinen die oben genannten Vorstellungen des SIPRI-Direktors für eine europäisch-amerikanische Allianz EATO, die in der Tat mehr wäre, als eine um die Sowjetunion erweiterte NATO. Hier wird konzeptionell der Schritt über die bisherigen (auch den westlichen) Bündnisrahmen hinaus vollzogen. Stützle belegt sehr überzeugend, warum von diesem auf den ersten Blick exotischen Gedanken alle profitieren könnten. „Die NATO-Mitglieder wären gezwungen, sich aus der so sichtbar gewordenen Enge militärischen Denkens zu lösen und politisch zu handeln, und zwar gemeinsam mit denen, die froh sind, der aufgezwungenen Rolle des militärischen Gegenübers entledigt zu sein …“ (a.a.O.); Frankreich könnte Europa mitgestalten, ohne in die NATO zurückkehren zu müssen; die deutsche Frage wäre weniger singulär einzubetten; der sowjetische Truppenrückzug könnte entzerrt werden...; sogar die nukleare Seite:„Warum nicht, vielleicht für einen Übergangszeitraum, eine europäisch-amerikanische Nukleare Planungsgruppe, in der die vier Atommächte ihr Wissen mit allen anderen teilen? Dergleichen könnte sehr dazu beitragen, über Reduzierung statt über Modernisierung von Kernwaffen in Europa zu sprechen“ (a.a.O.).
KSZE – eine brauchbare Basis
Die Bedeutung von Stützles Vorschlag liegt nicht nur in seinem innovativen Inhalt, sondern auch in seiner Politikfähigkeit: Der Charakter der EATO als erklärter „Zwischenschritt auf dem Weg zu einer gänzlich neuen, im KSZE-Rahmen etablierten Sicherheitsstruktur“ (a.a.O) knüpft an gegenwärtigen Interessenkonstellationen an, ohne zukünftige Entwicklungen auszublenden. Dies gilt, auch wenn seine Vorstellungen für einen neuen KSZE-Rahmen demgegenüber merkwürdig blaß und wiederum auf das »sicherheitspolitische Kernelement« reduziert erscheinen.
Dabei bietet gerade die wachsende Bezugnahme der unterschiedlichen politischen Kräfte auf die KSZE die Chance, den tagespolitischen Pragmatismus mit der Vision im Sinne politischer Zukunftsgestaltung zu verbinden. Der Grund hierfür liegt im Doppelcharakter der KSZE: Als seiner Zeit vorauseilendem Impuls für politische (weniger militärische) Entspannung und als (ziviles) Exerzierfeld staatlicher Kooperation zwischen quantitativ und qualitativ sehr divergenten Partnern, insbesondere der Beteiligung der USA und der Sowjetunion am europäischen Geschehen. Deshalb hätte die Erweiterung und Institutionalisierung der KSZE – entgegen manchen Vorstellungen in der NATO – keinen komplementären Charakter zur NATO. Sie müßte als politischer Zusammenschluß mit neuen Inhalten und Strukturen an die Stelle der beiden alten Militärbündnisse treten. Es erscheint deshalb kurzatmig, wenn diejenigen, die für das Anknüpfen an der KSZE in einer neuen europäischen Ordnung plädieren (und schon 1975 Helsinki befördert haben) heute über eine »Europäische Sicherheitsgemeinschaft (ESG)«, wie sie Egon Bahr für die SPD entwirft, nicht hinausdenken: »Friedenshaltungspflicht«, »Friedensförderungspflicht«, »Schiedspflicht«, »Beistandspflicht«, »Bündnisverzicht«, »Souveränitätsverzicht« und »Rüstungsbegrenzungspflicht« (a.a.O.) – hinter diesen Begriffen verbergen sich zwar richtige Prinzipien, um auch im Sinne einer Integration Deutschlands die nächste Etappe zu skizzieren. Identisch mit einem europäischen Sicherheitssystem, das neue Vorstellungen von Sicherheit im umfassenderen Sinn enthält, ist das jedoch nicht.
Es soll die Frage aufgeworfen werden, ob eine Struktur (auch eine neue), in der nur das (noch verbleibende) Militärische bzw. Konfliktträchtige geregelt wird, den langfristigen Abschied vom Militär erleichtert oder erschwert und der zivilen Kooperation (in davon separaten Gremien) eher den Weg ebnet oder versperrt.
Die detailliertesten Vorstellungen in Anlehnung an die KSZE, einen »Bauplan für eine gesamteuropäische Architektur«, entwickelt Walter Schütze, der Generalsekretär des deutsch-französischen Studienkomitees im Institut Francais des Relations Internationales in Paris (In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/90). Seine – nicht immer klar abgegrenzte – Dreiteilung neu zu schaffender Strukturen sieht erstens den Zusammenschluß der NATO- und WVO-Mitgliedsstaaten in einer »Europäischen Sicherheitsunion (ESU)« vor, die an die Stelle der beiden Bündnisse tritt. Parallelen zu Stützles EATO-Konzept sind erkennbar. Die ESU soll auf UNO-Prinzipien beruhen und gegen niemanden gerichtet sein, den Abrüstungsprozeß über den Hebel neustrukturierter VKSE-Verhandlungen weitertreiben, „eine echte gesamteuropäische Sicherheitsidentität“ schaffen – auf Dauer ohne die USA und die Sowjetunion, aber mit Sonderregelungen für ihre Potentiale in Europa. Zweitens soll eine »Konföderation der Staaten Europas (KSE)“ als Staatenbund gebildet werden, unter desssen Dach alle europäischen Länder – der Status der UdSSR bleibt offen – ihre Kooperation auf den verschiedenen Gebieten regeln. Vermeiden will Schütze „die Herausbildung eines Zwei-Klassen-Europa, also die Vertiefung der heutigen EG der Zwölf...“ (a.a.O.); wie die wirtschafliche Integration der EG unter dem Dach der KSE weiterentwickelt werden kann, wird jedoch wenig spezifiziert. Drittens schließlich die Institutionalisierung der KSZE in einer »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)“; das Konsensprinzip soll erhalten bleiben, Konventionen bindende Wirkung erhalten; es werden eine Garantie-Verpflichtung für das europäische Territorium und eine Beistandspflicht eingegangen. Der KSZE-Gipfel im Herbst 1990 soll „einschließlich der Transformation/Auflösung der Militärbündnisse … in Form einer europäischen Generalakte die OSZE ins Leben rufen…Eine solche Generalakte würde einen Friedensvertrag mit der Republik Deutschland ersetzen und zugleich die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und das Besatzungsstatut in Berlin ablösen.“ (a.a.O.) Man mag Details der Strukturvorschläge Schützes skeptisch beurteilen; und natürlich sind die französischen Interessenlagen unverkennbar, die einen Einfluß der Großmächte in Europa minimieren möchten. Ein vergleichsweise konkretes und über den Status quo positiv hinausweisendes Konzept liegt von deutscher Seite jedoch noch nicht vor. Vielleicht läge hier eine Chance, die von sozialdemokratischer Seite immer wieder beschworene Führungsinitiative Frankreichs für Europa ernst zu nehmen. Möglicherweise, indem man die zivilen und die (noch) militärischen Strukturen europäischer Sicherheit stärker verzahnt. Der Vorschlag des NATO-Gipfels zur Einrichtung eines permanenten KSZE-Zentrums für Konfliktverhütung weist möglicherweise in die richtige Richtung.
Wie neu wird das Neue Deutschland?
War das bisherige Tempo des deutschen Vereinigungsprozesses schon »innerdeutsch« eine fragwürdige Sache, außenpolitisch droht dadurch die empfindliche Verletzung der Interessen anderer. Dabei bestand – vor der Öffnung der Mauer und den Umbrüchen in der DDR – die Chance, die europäische Neugestaltung gemeinsam und in Ruhe zu entwickeln. Die Konsultationen mit Frankreich im Frühsommer 1989, die Erklärung Kohl/Gorbatschow im Mai vergangenen Jahres waren ein Beginn. Welchen sachlichen Grund gab es, daß dies nach dem November nicht fortgesetzt wurde? Das beliebte Argument der ungeduldig drängenden DDR-BürgerInnen mag auf wirtschaftlichen Gebiet noch taugen, für die Friedenspolitik gilt es nicht. Hier drängt die DDR bis heute – wenn auch unter dem Druck der Bundesregierung zaghafter als zu Beginn – auf Entmilitarisierung in Europa, auf Berücksichtigung vor allem der sowjetischen Sicherheitsinteressen. Der Weg von der 10-Punkte-Erklärung Kohls zur Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO ist der Verzicht auf Neues Denken aus „deutscher Hybris“ (H.Afheldt); der »Genscher-Plan«, keine Truppen östlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zu stationieren, soll im Wortsinne die Sprengkraft der Sache mindern. Eine ernsthafte Infragestellung der »Vorneverteidigung« hat er bisher nicht ausgelöst. Stattdessen hat er hat mit dazu beigetragen, daß bisher – wider den Geist der friedenspolitischen Diskussionen des letzten Jahrzehnts – kein öffentlicher Streit um Alternativen in dieser gänzlich neuen offenen Situation entbrannte.
Ein gewisser Dämpfer war vor diesem Hintergrund der Beschluß des NATO-Gipfels, die Truppenstärke des vereinten Deutschland zum Zeitpunkt des Abschlusses der ersten Wiener Verhandlungsrunde – vor der Festlegung aller Streitkräfte in Zentraleuropa – auszuhandeln. Deprimierend bleibt, daß dies gegenwärtig vielleicht das substantiellste Friedenssignal an die UdSSR und die einzige Grenzziehung für den deutschen Mitsieg im Kalten Krieg darstellt. In der Sache wird häufiger die Zahl 300.000 deutsche Soldaten genannt; weniger als alle anderen Zentraleuropäer zusammen (!), denen Egon Bahr etwa in seinem Vorschlag 350.000 Mann zugestehen will. Bahr selbst verweist auf das Paradoxon dieses Zahlenspiels: Selbst nach dem Abschluß von Wien I, wo dies besiegelt würde, „bleibt Zentraleuropa noch bei Truppen und Material Weltspitze“ (a.a.O.). Ein absurder Rekord für eine Region, in der – mit dem neuen Deutschland in der Mitte – der alte Konfliktherd des Systemgegensatzes am gründlichsten eliminiert wurde. Deutlicher kann der Anachronismus der jetzigen Wiener Verhandlungen, des Zurückbleibens militärischen Denkens kaum zu Tage treten. Wo bleiben die deutschen Initiativen für eine qualitativ neue Tagesordnung in Wien, für eine Minimierung aller Truppenstärken, für eine Denuklearisierung Europas in festgelegten Etappen?
Welche Gestalt könnte ein Deutschland haben, das in eine europäische Friedensordnung des Jahres 2000 paßt? Müßte man damit nicht heute beginnen? Neutralität erweckt in der heutigen Konstellation (vor einer vollständigen Demilitarisierung) berechtigte Sorgen der Nachbarn; konzeptionell stammt sie darüberhinaus ebenso aus alten Tagen wie die Blockstrukturen.
In der Friedensbewegung wurde die Kampagne »BOA – Für Republik ohne Armee« begonnen. Einer der Gründe für die bisher geringe Resonanz liegt meines Erachtens in der Problematik, daß dies als zu ausschnitthaft empfunden wird in einer Situation, wo es einen großen Bedarf an neuen Gesamtentwürfen gibt. Dabei gäbe es Handlungsbedarf für eigene Beiträge unseres Landes. Interessant, aber ebenfalls noch wenig populär ist die »Initiative EVV – Für Entmilitarisierung, Volksabstimmung und Verfassungsdiskussion« aus Friedenskreisen der DDR und der BRD, die die deutsche Vereinigung mit der Entmilitarisierung Deutschlands und Europas über eine Volksabstimmung zu verbinden versucht.
Das Vorfeld der KSZE-Herbstkonferenz wäre geeignet, konkrete Angebote für die Einrichtung neuer Strukturen auch auf deutschem Boden zu machen; man könnte diesen Prozeß einleiten, ohne daß alle Außenaspekte der deutschen Vereinigung schon geklärt wären. Das wäre vertrauensbildender als ein vorschneller Abschluß der 4 + 2 – Verhandlungen.
Stattdessen wird es wohl eher so kommen: „Man nehme die DDR, verleibe sie der Bundesrepublik ein, schlage das neue Deutschland der NATO zu und nenne das Ganze eine europäische Friedensordnung … das Ende des Kalten Krieges sah uns auf der Seite der Sieger, und der Sieger weiß, was recht und gut ist. War es nicht immer so?“ (Stützle, a.a.O.)
Mut zum Streit für allgemeine Abrüstung
Es wäre schon viel gewonnen, wenn diese Kritik an der uralten Machtpolitik, dem Haupthemmnis für Neudenken, (wieder) Einzug in den Alltag der friedenspolitischen Diskussion hielte. Der Deutschland-Express der letzten Wochen hat eher Tabus aufgebaut als Blicke über den Tellerrand eröffnet.
Das Wort Entmilitarisierung kommt in kaum einem der Positionspapiere für den Frieden in Europa vor. Und es mutet seltsam an, daß man gerade bei Helmut Schmidt etwas über den „Interessendruck des militärisch-industriellen Komplexes“ und die Notwendigkeit der Zivilisierung lesen kann. Warum traut sich niemand über, allgemeine Abrüstung zu sprechen, obwohl sie erstmals wirklich auf der Tagesordnung steht?
In der Tat wird die »Kunst« der Friedenspolitik ab sofort darin bestehen, weit in die Zukunft zu denken und gleichzeitig die ersten kleinen Schritte dahin zu organisieren. Aber man spürt, daß das zweite ohne das erste nicht beginnt. Pragmatismus allein ist kein guter Ratgeber – allemal in Zeiten großer Veränderungen.
Für die Diskussion um eine neue Friedensordnung in Europa, für ein Gemeinsames Europäisches Haus, wären wichtige Merkposten:
- die ganze Dimension der Veränderungen in Europa muß auf den Tisch und zur Grundlage der Politik werden; nichts kann und darf bleiben, wie es war.
- Sicherheit ist noch ein militärisches, aber auch schon ein ziviles Problem; die zivilen Dimensionen sind noch unscharf; das erfordert zweierlei Konsequenzen: In neuen Strukturen sollte es Raum für den Abbau des Militärischen geben; neue Konfliktfelder (und ihre Gewaltpotentiale) sollten aber von vornherein ohne Militär gedacht werden.
- Europäische Friedenssicherung kann in Zukunft nur im Kontext mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung erarbeitet werden. Das erhöht die Rolle der EG als ökonomischem Machtzentrum; sein Hegemoniepolitik muß prinzipiell in Frage gestellt, neue Prinzipien der Kooperation erarbeitet werden.
- Die Europäische Friedensordnung wird es nicht auf Kosten oder in Konkurrenz zu anderen Staaten oder Teilen der Welt geben. Das reiche und entwickelte Europa ist ganz besonders in der Pflicht, an einem menschenwürdigen Zusammenleben auf der »Einen Welt« mitzuwirken.
Corinna Hauswedell, Historikerin, Vorsitzende der Informationsstelle Wissenschaft & Frieden in Bonn.