W&F 2008/2

Aus Gottes Frieden für gerechten Frieden - Ja und?

Anmerkungen zur neuen Friedensdenkschrift der EKD

von Albert Fuchs

Gut ein Vierteljahrhundert nach ihrer ersten, ganz im Zeichen der West-Ost-Konfrontation stehenden Friedensdenkschrift von 1981 hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein neues friedensethisches Grundsatzpapier vorgelegt. Unser Autor arbeitet zahlreiche Schwachstellen der i.e.S. politischen Teile dieser »Denkschrift« heraus und kommt zum Ergebnis, sie erschließe keinen »Mehrwert« der christlichen Perspektive für die friedenspolitische Debatte. Ein Verdienst könne gleichwohl darin bestehen, dass endlich die seit der Epochen-Wende überfällige breite öffentliche Debatte um eine konstruktive Friedens- und Sicherheitspolitik angestoßen werde.

Im Vorwort der im Oktober 2007 unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“ veröffentlichten neuen Friedensdenkschrift der EKD führt der amtierende Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, aus, nach dem 11. Sept. 2001 hätten sich die Stimmen gemehrt, die „einen neuen grundlegenden Beitrag zur friedensethischen und friedenspolitischen Orientierung erwarteten“ (a.a.O., S.8). Nach Bischof Hubers Verständnis soll in einer solchen Denkschrift „nach Möglichkeit ein auf christlicher Verantwortung beruhender, sorgfältig geprüfter und stellvertretend für die ganze Gesellschaft formulierter Konsens zum Ausdruck kommen“ (ebd.).

Die rd. 120 Seiten umfassende Schrift verdient in der Tat eine ernsthafte Auseinandersetzung. Ähnlich wie den deutschen katholischen Bischöfen mit ihrem »Wort zum Frieden« (2000) geht es der EKD erklärtermaßen darum, das Denken auf möglichen Krieg hin und in Kriegskategorien durch ein Denken auf (gerechten) Frieden hin zu ersetzen. Andererseits drängt sich bereits mit dem Religion und Politik verbindenden Titel die Frage auf, worin eigentlich der friedenspolitische »Mehrwert« dieses Ansatzes bestehen soll oder bestehen könnte. Auch lässt Hubers Anspruch, einen Konsens „stellvertretend für die ganze Gesellschaft“ präsentieren zu können, erwarten, dass der Text Ausblendungen und Lücken, Brüche und Inkonsistenzen und wohl auch manchen Scheinkonsens beinhaltet. Im Folgenden steht eine Auseinandersetzung mit der Denkschrift aus einer dezidiert militärgewalt-kritischen Perspektive im Vordergrund.

Das Papier umfasst nach einer bereits das Leitbild des gerechten Friedens hervorhebenden und die aktuelle friedenspolitische Situation sehr allgemein skizzierenden Einleitung vier Teile oder Kapitel mit entsprechenden Unterkapiteln: „Friedensgefährdungen“, „Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“, „Gerechter Friede durch Recht“ und „Politische Friedensaufgaben“. In einem kurzen Schlusskapitel werden Grundsätze und Maximen prägnant zusammengefasst. Der Text ist in 197 fortlaufend nummerierte Paragraphen oder Abschnitte gegliedert. Die Auseinandersetzung mit dem Papier muss an dieser Stelle auf die Kapitel „Gerechter Friede durch Recht“ und „Politische Friedensaufgaben“ beschränkt bleiben. Textbezüge werden durch die entsprechenden Ziffern ohne bibliographische Zusatzangaben belegt.

„Gerechter Friede durch Recht“

Das dritte Kapitel reflektiert Fragen der rechtlichen Fundierung einer dauerhaften, an der Vorstellung des gerechten Friedens orientierten Friedensordnung. Dazu werden Anforderungen an eine globale Friedensordnung als Rechtsordnung entwickelt (Ziff. 86-97), Prinzipien einer (nach Meinung der Autoren und Autorinnen) dazugehörigen Ethik „rechtserhaltender Gewalt“ skizziert (98-103) und Grenzen militärischen Gewaltgebrauchs aufgezeigt (104-123). Das Kapitel stellt einen bemerkenswerten Versuch dar, die Annahme, dass (militärische) Gewalt (wieder) geeignet und ethisch vertretbar oder gar geboten sein kann, um Unrecht und Gewalt Einhalt zu gebieten, in Einklang zu bringen mit der Pflicht, den Krieg zu überwinden. Dazu wird das Kantische Paradigma des »Friedens durch Recht« ergänzt um die der bellum iustum-Lehre entstammenden Kriterien für die Ausübung „rechtserhaltender Gewalt“. Die Gedankenführung wirkt beeindruckend schlüssig - solange man nicht genauer hinschaut.

Erstens: So wird erklärt, nur „eine kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung“ liege „in der Zielperspektive eines gerechten Friedens“ (87). In diesem Rahmen sei auch das zwischenstaatliche Sicherheitsdilemma „legitim lösbar durch ein System kollektiver Sicherheit, wie es in der UN-Charta vorgezeichnet“ (ebd.) sei. Leider geben die Autoren fast keinen Hinweis, wie diese ideale Ordnung vom herrschenden quasi-anarchischen Verhältnis der Staaten zueinander aus erreicht werden soll - zumal dieser Zustand mit immensen Macht- und entsprechenden sozioökonomischen Privilegierungsasymmetrien einhergeht (vgl. 92). Die Hoffnung, insbesondere „internationale Organisationen und Regelwerke“ trügen „zu nachhaltiger Inderdependenz zwischen den Staaten“ und damit zur Etablierung der besagten Ordnung bei (87), kann sich nur sehr bedingt auf die reale Entwicklung seit der Epochenwende stützen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht kompromittiert das für den gesamten Ansatz zentrale Konzept der kollektiven Sicherheit, indem es seit 1994 in kontinuierlicher Rechtsprechung ein erklärtes Militärbündnis, die NATO, zu einem System kollektiver Sicherheit befördert.

Zweitens: Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit wird aus dem Postulat, Recht sei „auf Durchsetzbarkeit angelegt“, nicht nur gefolgert, in „einer auf Recht gegründeten Friedensordnung“ seien „Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür“ stelle (98). Es wird auch grundsätzlich unterstellt, dass diese Frage eben positiv zu beantworten ist. Dann wird allerdings in Anlehnung an die bellum iustum-Lehre ein „zumindest erlaubter Gewaltgebrauch“ u.a. wesentlich von einer „Aussicht auf Erfolg“ abhängig gesehen (102). Damit wird die zunächst begriffslogische Herleitung der Rechtfertigungsfähigkeit eines Rückgriffs auf Gewalt in ungeklärter Weise mit kontingenten Bedingungen verbunden. Demzufolge kann Recht, das nicht einmal mit Gewalt durchsetzbar ist, eigentlich kein Recht sein. Insofern wird nahe gelegt, Recht werde durch Gewalt konstituiert - und der Glaube an das »Recht des Stärkeren« wird gerade dadurch gestützt, dass man „rechtserhaltende Gewalt“ dagegen propagiert. Der Kern des Problems dürfte darin liegen, dass der Durchsetzungsanspruch des Rechts nicht vom Durchsetzungsmittel Gewalt unterschieden wird.

Drittens: Der Ausdruck „rechtserhaltende Gewalt“ konnotiert zweifelsohne soziale Kontrolle. Es geht jedoch nicht (primär) darum, eine bestehende Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. Da sich „die gegenwärtige globale Lage als ein Kontext der Ungerechtigkeit“ darstellt (90), muss vielmehr die Überwindung von kriegerischer Gewalt Hand in Hand gehen mit dem Aufbau von wirtschaftlicher und politischer Gerechtigkeit. Dieser zu einer „globalen Friedenssicherung“ komplementäre Prozess findet der Denkschrift zufolge seine „Konkretisierung in den Menschenrechten“ (88). Mit den betreffenden Überlegungen werden die Friedensthematik und die Menschenrechtsthematik in systematischerer Weise positiv aufeinander bezogen, als das in der UN-Charta vorgezeichnet ist (vgl. Art. 55c). Das könnte eine Korrektiv dazu sein, dass im Zusammenhang der Debatten zur sog. humanitären Intervention seit den 1990er Jahren immer wieder ein Konkurrenzverhältnis zwischen »negativem« Frieden (sensu Galtung, 1975) und Menschenrechten konstruiert wird. Mit der kommentarlosen Übernahme des Unteilbarkeitspostulats im Hinblick auf die Menschenrechte, das noch kontroverser diskutiert zu werden scheint als das Universalitätspostulat (vgl. Hamm & Nuscheler, 1995), vergibt man die Möglichkeit, vorab eine (Interventions-)Verpflichtungsabstufung entsprechend der Fundamentalität der zu schützenden Rechte zu begründen - und bestärkt damit u.U. den (vorgeblichen) Gegensatz zwischen Frieden und Menschenrechten.

Viertens: In diesem Zusammenhang unterbleibt jede Auseinandersetzung mit der „Position des unbedingten Pazifismus“. Man bezieht sich darauf nur, um die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“ kontrastiv zu markieren (99). Das besagt i.B: Die grundlegende Frage, ob Töten von Menschen zum Schutz von Menschen nicht ein in sich verwerfliches Mittel ist, wird nicht diskutiert. Weiter bleibt unerörtert, wie „rechtserhaltende Gewalt“ in Einklang zu bringen sein soll mit der im vorausgehenden Kapitel beschworenen Mittel-Zweck-Kongruenz à la Gandhi (vgl. 76). Irgendwie setzt die Denkschrift auf eine „sorgfältige Güterabwägung“ (103). In der dunklen Rede von dem trotzdem „bleibenden Risiko des Schuldigwerdens“ (ebd.) scheinen die unbedachten schwierigen ethischen Fragen in den Text zu drängen.

Fünftens: Als Grundlage der Güterabwägung sollen die „moralischen Prüfkriterien“ dienen, „die in den bellum iustum-Lehren enthalten waren“ (102). Im Vertrauen offensichtlich auf ihre Evidenz werden diese Kriterien nicht weiter begründet, nur kurz erläutert (ebd.). Die damit verbundenen immensen Operationalisierungsprobleme werden nicht reflektiert. Man macht es sich auch einfach im Hinblick auf die Informationsintegration, d.h. im Hinblick auf die eigentliche Urteilsfindung. Dazu wird nur lapidar konstatiert: „Nach herkömmlicher Auffassung der Ethik müssen für den Gebrauch von legitimer Gegengewalt alle diese Kriterien erfüllt sein.“ (103). Indes hat just der EKD-Vorsitzende in einem Beitrag jüngeren Datums dieses Prinzip als zu restriktiv, als auf einen de facto-Pazifismus hinauslaufend und als „extensional“ sogar „dem prinzipiellen Pazifismus“ entsprechend kritisiert (Huber, 2004, S.4).

Sechstens: Außer Betracht bleibt ferner ein besonders vertracktes Problem der bellum iustum-Figur: die Frage, wer eigentlich das ausschlaggebende Erkenntnis- und Entscheidungs-Subjekt sein soll. Wenn nämlich für diese Rolle die jeweilige Obrigkeit in Aussicht genommen wird - wie es für die christlichen Nacherfinder der bellum iustum-Lehre, Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin, selbstverständlich war - verliert das Kriterium der adäquaten Autorisierung seinen Sinn. Der liegt erklärtermaßen darin, dass niemand sich zum Richter in eigener Sache eignet; dass vielmehr „im Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller potentiell Betroffenen“ (102) entschieden werden sollte. Wenn dagegen eigentlich an die jeweiligen Untergebenen gedacht ist - wie die vielfache Betonung des Vorrangs des Gewissens des einzelnen auch „gegenüber demokratisch legitimierten Maßnahmen militärischer Friedenssicherung oder internationaler Rechtsdurchsetzung“ nahe legt (62) -, steht eine zentrale Funktionsbedingung des Militärs in Frage: die Erzwingbarkeit des Gehorsams der Regierten gegenüber dem obrigkeitlichen Ansinnen, sich zum Töten und Sich-töten-Lassen zu verdingen (bzw. Militär- und Kriegssteuer zu zahlen).

Siebtens: Damit liegt die Doppelfrage nahe, an wen überhaupt sich die Denkschrift gerade in diesem Zusammenhang wie ernsthaft wendet. Wenn das befürwortete „restriktive“ Verfahren der Bildung eines Gesamturteils auf einen de facto-Pazifismus bzw. sogar auf den prinzipiellen Pazifismus hinausläuft, werden sich sicherheitspolitische Zirkel kaum dafür erwärmen lassen und noch viel weniger die Militärführung. Solche Zumutungen dürften die Autoren auch kaum im Sinn haben; dazu ist die Denkschrift insgesamt viel zu »staatstragend«. Näher mag liegen, dass es auch hier um die sog. einfachen Soldaten geht. Das aber würde bedeuten, dass kaum noch jemand im Dienst einer »Armee im Einsatz« zu finden sein dürfte ohne eine (situationsbezogene) Kriegsdienstverweigerungsgeschichte in seiner Personalakte. Damit aber würde die Funktionsfähigkeit des Militärapparates erst recht untergraben - und ein verlässlicher Einsatz von „rechtserhaltender Gewalt“ nahezu unmöglich. Demnach wird auch das nicht in der Aussageintention der Denkschrift liegen. Um wen und was geht es aber dann? Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die Implikationen der Vorschläge (abermals) nicht genau durchdacht wurden. Bleibt wohl eine diffuse Akzeptanzbeschaffung für „rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauch“.

Achtens: Die Denkschrift erhebt die bellum iustum-Kriterien zu „allgemeine(n) Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt... - unabhängig vom jeweiligen Anwendungskontext“ (102). Diese Parallelisierung von zwischenstaatlichen und innerstaatlichen gewaltförmigen Konfliktkonstellationen beinhaltet eine demokratie- und friedenspolitisch hoch problematische Verwischung der Grenzen zwischen militärischen und polizeilichen Maßnahmen bzw. zwischen Militär und Polizei und eine Konfundierung von (kriegs-)ethischen Fragen und von Rechtsfragen i.e.S. Statt zur Eindämmung und zur Verrechtlichung von militärischer Gewalt kann das aber zur Militarisierung und Entrechtlichung des staatlichen Gewaltgebrauchs nach innen führen. Auf eine entsprechende „Gefahr“ wird im ersten Kapitel der Denkschrift selbst hingewiesen (25). Viele Beobachter sehen die Waagschale im Zuge des »war on terror« sich längst zur zweiten Seite hin neigen (vgl. Fischer-Lescano, 2004; Harder, 2006).

„Politische Friedensaufgaben“

Vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel dargestellten „Friedensgefährdungen“ und der friedenstheologischen und -ethischen Ausführungen in Kapitel zwei und drei wendet sich die Denkschrift im vierten Kapitel einzelnen friedenspolitischen Handlungsfeldern zu. Hervorgehoben werden: die Stärkung universaler Institutionen (Ziff. 125-137) und - damit verbunden - die Wahrnehmung von „Europas Friedensverantwortung“ (138-156), der Abbau der Waffenpotenziale (157-169) und der Ausbau des Instrumentariums der zivilen Konfliktbearbeitung (170-183) sowie die Notwendigkeit, alle konkreten Schritte und Maßnahmen - im Sinn des Konzepts „menschliche Sicherheit“ - an der Würde und den tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen auszurichten (184-193). Die Darlegungen wirken weitgehend so abstrakt, dass man sich nur schwer vorzustellen vermag, wie sie Wirkung entfalten könnten. Über diese allgemeine Kritik hinaus sind wenigstens drei gravierende spezifischere Bedenken angebracht.

Erstens: Im Zusammenhang der Erörterungen zu „Europas Friedensverantwortung“ werden NATO und EU nahezu fraglos als »Friedensmächte« adressiert. Der neuen NATO wird zwar ins Stammbuch geschrieben, Auffassungsunterschiede „über Rolle, Strategien und konkrete Operationen des Bündnisses“ müssten „offener ausgetragen... und nicht der Bündnistreue untergeordnet werden“ (140). Die Umwandlung des ehemaligen Verteidigungsbündnisses in ein weltweit operierendes Militärinterventionsbündnis als solche wird jedoch völlig kritiklos als Grundlage für »militärisches Friedenschaffen« akzeptiert. Die (effektive) Veränderung des NATO-Vertrags im Rücken von Parlamenten und Öffentlichkeit spätestens mit der strategischen Neuorientierung von 1999 (vgl. Presse- und Informationsamt des Bundesregierung, 1999) wird nicht andeutungsweise problematisiert. Vor diesem Hintergrund wirkt der Hinweis, ein Einsatz „außerhalb des Bündnisgebietes (oder gar weltweit) ohne Mandatierung durch die UN“ entspreche „nicht den oben genannten Anforderungen an den Einsatz rechtserhaltender militärischer Gewalt“ (140), eigenartig »blauäugig«.

Noch um einiges affirmativer als zur neuen NATO positioniert sich die Denkschrift zur EU als »Friedensmacht«. Zwar wird gesehen, dass „interne regionale Gewaltkonflikte bis heute nicht dauerhaft gelöst“ sind und dass „Misstrauen insbesondere im Verhältnis Russlands zur EU ... weiterhin überwunden werden“ muss (142). „Mit ihren Werten und Institutionen“ gilt die Union jedoch als „Modell für andere Regionen und von unverändert große Anziehungskraft“ (ebd.). Dass sie „im Rahmen der ‚Petersberg-Aufgaben' ... auch über Europa hinaus zur Übernahme von humanitären und Rettungseinsätzen sowie zu Operationen der Friedenserhaltung und -erzwingung bereit ist“ (143), findet anscheinend die ungeteilte Zustimmung von Kammer und Rat der EKD. Die Institutionalisierung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) bzw. einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und erste Operationen auf dieser Grundlage werden als besondere Errungenschaften gewürdigt (ebd.). Nicht einmal das Operieren der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 mit einem „präventiven Gesamtinstrumentarium“ (144) ist verdächtig - so wenig wie die „Kampfverbände ... für Operationen zur Befriedung von Krisenregionen“. Das EU-Friedensmacht-Gemälde hat einen einzigen Schönheitsfleck: mangelnde Transparenz und „geringe Mitspracherechte der Parlamente“ (144; vgl. 147). Die nur allzu berechtigte Kritik an der Militarisierung der Union u.a. per Verfassungs- bzw. Reformvertrag wird auf Fehlinterpretationen bzw. auf eine inadäquate Darstellung der EU-Politik zurückgeführt und als PR-Problem behandelt (ebd.). Kein Satz über die »friedensgefährdende« Migrationsabwehr (Stichwort: Frontex) oder zu den Versuchen der EU, anderen, insbesondere (den) AKP-Staaten, ihre zerstörerischen Strukturanpassungsprogramme aufzudrücken (Stichwörter: Afrika-Europa-Gipfel, Freihandelsabkommen).

Zweitens: Einen besonders kontroversen Aspekt der Friedensmachtthematik stellt die sog. zivil-militärische Zusammenarbeit dar. Der Sache nach steht diese militärstrategische Neuerfindung wiederholt zur Rede. So wird zu den NATO-Einsätzen angemerkt, „immer deutlicher“ sei „erkennbar, ... dass die Herstellung eines ‚sicheren Umfeldes' und der Wiederaufbau gleichzeitig und nicht nacheinander zu verwirklichen sind“. Erforderlich sei daher „eine wesentlich engere Zusammenarbeit mit den Internationalen Organisationen, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie lokalen Kräften“ (140). Und für das »Friedenschaffen« der EU wird postuliert: „Zwischen Soldaten und zivilen Kräften kommt es auf situationsangemessene Kooperation an“ (146). Andererseits - in partiellem direktem Widerspruch zu diesen Forderungen - wird moniert: „Die Gleichzeitigkeit von Kriegführung und Wiederaufbau ... kann den Fortschritt in Entwicklung und Vertrauensbildung beeinträchtigen“ (150). Wie die Gleichzeitigzeit der „Herstellung eines ‚sichereren Umfeldes'“ und des „Wiederaufbaus“ bzw. die „situationsangemessene Kooperation“ so realisiert werden könnte, dass Beeinträchtigungen „in Entwicklung und Vertrauensbildung“ ausgeschlossen sind, bleibt dahingestellt. Viel verspricht man sich anscheinend von der Erarbeitung eines „friedenspolitischen Gesamtkonzepts“, ohne allerdings konkreter zu werden (ebd.). Nicht erörtert wird, dass jede zivil-militärische Zusammenarbeit prima facie hoch problematisch sein muss angesichts der grundverschiedenen Handlungslogiken von militärischer und - im emphatischen Sinn - ziviler Konfliktbearbeitung (vgl. Fuchs, 2006) sowie im Hinblick auf den expliziten Anspruch der militärischen Seite auf Unterordnung aller Maßnahmen unter den militärischen Auftrag (vgl. NATO, 2002). Und schließlich bleibt ausgeblendet, dass die westliche Interventionspolitik zumindest durch einen starken Trend gekennzeichnet ist, durch militärisch abgesichertes »nationbuilding«, das westliche Staats- und Wirtschaftsmodell zu exportieren.

Drittens: Die vielleicht befremdlichsten Ausführungen sind im dritten Unterkapitel zum Thema Abbau der Waffenpotenziale zu finden. Gemeint sind die Ausführungen über die Strategie der nuklearen Abschreckung (Ziff. 162-164). Zwar wird geltend gemacht, in der veränderten sicherheits- und friedenspolitischen Lage hätten „die Gründe für die Kritik an der Abschreckungsstrategie deutlich an Gewicht gewonnen“ (109). Dementsprechend wird abweichend von Nr. VIII der Heidelberger Thesen (1959) die Auffassung vertreten: „Aus der Sicht der evangelischen Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ (162) Dann aber wird ausführlich dargelegt, weshalb „umstritten“ bleibt, „welche politischen und strategischen Folgerungen aus dieser gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht zu ziehen sind“ (ebd.). Dieses „umstritten“ impliziert zwar nicht logisch, wohl aber politisch-praktisch, dass es diesbezüglich eigentlich nichts zu ändern gibt. Worin der friedenspolitische Wert solcher „gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht“ bestehen soll, ist ein Rätsel.

Resümee und Ausblick

Wer die neue Friedensdenkschrift der EKD nur aus (kirchlichen) Presseverlautbarungen oder vielleicht noch von der Einleitung und dem Schluss her kennt, mag den Eindruck haben, die vorliegende kritische Auseinandersetzung sei mit einem anderen Text befasst. In der Tat gibt es auch in der hier eingenommenen Sicht von außen kaum etwas an (den) Leitgedanken des Schlusskapitels zu bekritteln: „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“ (194) oder „Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein“ (195) oder „Gerechter Friede in der globalisierten Welt, setzt den Ausbau der internationalen Rechtsordnung voraus“ und die „muss dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung verpflichtet sein und die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien binden“ (196) oder „Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der ‚Menschlichen Sicherheit' und der ‚Menschlichen Entwicklung' her gedacht werden“ (197) u.s.w. Wer wollte solchen im besten Sinn erbaulichen Leitgedanken widersprechen? Je näher man sich die Denkschrift allerdings anschaut, umso fremder schaut sie zurück. Das gilt durchaus nicht nur für die beiden hier diskutierten Kapitel.

Der Kern des Problems scheint darin zu liegen, dass Kammer und Rat der EKD in der Lehre vom gerechten Frieden zentrale Elemente des christlichen Pazifismus und der Denkfigur des gerechten Krieges kombinieren wollen. Das geht nicht ohne Abstriche in der einen wie in der anderen Richtung. Vom Pazifismus wird die Vorstellung übernommen, Frieden im umfassenden Sinn vorrangig mit gewaltfreien Mitteln zu fördern und zu erneuern - aber eben nur vorrangig. In der bellum iustum-Tradition steht die (militärische) „rechtserhaltende Gewalt“ als letztes Mittel - unter der Voraussetzung, dass im Vorfeld und Umfeld solcher Gewaltanwendung auch alle übrigen Kriterien des bellum iustum-Katalogs einer strengen Prüfung standhalten. Damit bleibt die Denkschrift dem Augustinischen Programm verhaftet, das biblische Ethos der Gewaltfreiheit, insbesondere den entsprechenden kulturrevolutionären Impuls der Jesusbewegung, mit der römisch-imperialen Gewaltkultur zu versöhnen und ihre politisch-praktische Zusammenarbeit zu begründen. Die fatale Wirkungsgeschichte dieser Programmatik ist hinlänglich bekannt.

Nach der Lektüre der Denkschrift mag man rätseln, woraus die protestantischen »Christenmenschen« ihre Zuversicht schöpfen, der abendländische »Großversuch«, zusammenspielen zu lassen, was nicht zusammengehört, könne doch noch einen heilsamen Ausgang nehmen. Das Operieren mit dem Konzept des gerechten Friedens als solches kann nicht die Grundlage solcher Zuversicht sein. Dafür wurde es bereits zu oft kompromittiert und wird mit der Bindung an „rechtserhaltende Gewalt“ nicht wirklich verwandelt (vgl. Furth, 1987). Ein »Mehrwert« des Einbezugs der christlichen Perspektive in die friedens- und sicherheitspolitische Debatte erschließt sich kaum. Auf der deklaratorischen Ebene ist der »Vorrang« der Gewaltfreiheit doch längst gebongt - von den Apokalyptikern diverser Provenienz einmal abgesehen! Ein großes Verdienst der Denkschrift könnte gleichwohl darin liegen, endlich die seit der Epochen-Wende überfällige öffentliche Auseinandersetzung um eine konstruktive Friedens- und Sicherheitspolitik anzustoßen. Dafür müssen allerdings auch die Rezipienten sorgen.

Literatur

Bundesverfassungsgericht (1994). Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92 u.a. Neue Juristische Wochenschrift, 47, S.2207-2219.

Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

EKD (1981): Frieden wahren, fördern und erneuern. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (auch verfügbar unter: http://www.ekd.de)

Fischer-Lescano, Andreas (2004): Soldaten sind Polizisten sind Soldaten. Kritische Justiz, 37, S.67-80.

Fuchs, Albert (2006): Hochzeit von Unvereinbarkeiten? Zum Verhältnis von militärischer und ziviler Konfliktbearbeitung. Wissenschaft und Frieden, 24 (4), S.6-10.

Furth, Peter (1987): Frieden oder gerechter Frieden? In C. Schulte (Hrsg.), Friedeninitiative Philosophie: Um Kopf und Krieg - Widersprüche (S.159-177). Darmstadt: Luchterhand.

Galtung, Johan (1975): Gewalt, Frieden und Friedensforschung. In J. Galtung, Strukturelle Gewalt (S.7-36). Reinbek: Rowohlt.

Hamm, Brigitte & Nuscheler, Franz (1995): Zur Universalität der Menschenrechte. INEF-Report 11/1995.

Harder, Martina (2006): Polizeisoldaten. Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik. Wissenschaft und Frieden, 24 (4), S.31-34.

Huber, Wolfgang (2004): Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik. Vortrag im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam am 28. April 2004. URL: http://www.ekd.de/vortraege

NATO International Military Staff (2002). NATO Military policy on civil-military cooperation. Docu MC411/1. URL: http://www.nato.int

Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1999): Das strategische Konzept des Bündnisses. Bulletin Nr. 24, 03.05.99, S.222-231.

Prof. Dr. Albert Fuchs ist Kognitions- und Sozialpsychologe und Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Eine Analyse der gesamten Denkschrift kann unter fuchs.albert@t-online.de angefordert werden.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2008/2 Migration und Flucht, Seite