W&F 1992/4

Begründung einer Friedenspädagogik: der Ansatz Kants

von Karl Brose

Die Begründung einer Friedenspädagogik kann sich noch immer auf die Philosophie Kants berufen. Sein Traktat „Zum ewigen Frieden“, die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sowie Passagen der „Rechtslehre“ aus der „Metaphysik der Sitten“ bilden den Hintergrund zu einer Erziehung zu Frieden und Friedfertigkeit, die bis in die heutige Philosophie, Pädagogik und Erziehungswissenschaft reicht. Im folgenden geht es um Kants Pädagogik, und zwar um jene Einleitungspassagen, die sich der Friedensproblematik öffnen. Kant formuliert hier Sätze, die sich zur Begründung einer Friedenspädagogik eignen.

Erziehung zur Vollkommenheit

Kant beginnt seine Pädagogik mit Sätzen, welche die Friedenserziehung sehr weit fassen, nämlich anthropologisch – und schließlich kosmopolitisch: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß“; „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.“ 1 Er wird nur durch Menschen erzogen, die selbst erzogen sind. Mangel an solcher Erziehung macht die Menschen wieder zu schlechten Erziehern. Kant formuliert dann einen politischen Gedanken, der auf die Großen seiner Zeit zielt – aber auch für eine gegenwärtige Friedenserziehung Bedeutung hat; denn Kant sieht, „wie die Großen meistens nur immer für sich sorgen, und nicht an dem wichtigen Experimente der Erziehung in der Art Teil nehmen, daß die Natur einen Schritt näher zur Vollkommenheit tue“ (700). Trotz dieser Beobachtung Kants – die auch in seinen anderen Friedensschriften über die Kriege der Großen wiederkehrt – läßt er nicht ab von der Idee einer Erziehung zur Vollkommenheit der menschlichen Natur und deren Glück, so daß sich eine immer bessere Erziehung auch einem vollkommeneren Menschengeschlecht und dessen Humanität nähert: „denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur … Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte“ (700).

Der Entwurf einer solchen Erziehung ist für Kant ein „herrliches Ideal“, wenn es auch nicht sofort realisierbar ist. Man muß nicht gleich diese Idee für eine Schimäre und einen bloßen Traum halten. Kant bezieht diese Erziehungsgedanken sowie seine Friedensidee weitgehend von Rousseau, den er auch in seiner Pädagogik laufend zitiert. Kant verteidigt ihn überall gegen den Vorwurf der Schwärmerei und Phantasterei. Was für die Idee des „Ewigen Friedens“ als eines weltbürgerlichen Zustands bei Kant sowie Rousseau gilt, gilt auch für die Idee einer vollkommenen Erziehung und Erziehung zur Vollkommenheit. Hier liegt die Propädeutik einer Erziehung zu Frieden und Friedfertigkeit und damit die Grundlegung und Begründung einer Friedenspädagogik. Kant kann sie sich politisch nur in einem vollkommenen republikanischen Staat vorstellen: „Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet. Z.E. die Idee einer vollkomnen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik! Ist sie deswegen unmöglich? Erst muß unsere Idee nur richtig sein, und dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar nicht unmöglich … Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft.“ (700)

Das Gute als Ziel der Friedenserziehung Kants

Die Idee der Vollkommenheit des Menschen durch immer bessere Erziehung öffnet sich in Kants Pädagogik nach zwei Seiten, die miteinander zusammenhängen: das moralisch »Gute« – letztlich wohl „Gott“ (754ff.) – und die künftige Nachkommenschaft und Menschengattung: „Soviel ist aber gewiß, daß nicht einzelne Menschen, bei aller Bildung ihrer Zöglinge, es dahin bringen können, daß dieselben ihre Bestimmung erreichen. Nicht einzelne Menschen, sondern die Menschengattung soll dahin gelangen.“ (702) Was jenes Ziel des Guten anbelangt, so erscheint hier eine Assoziation zu den Begriffen des Friedens und der Friedfertigkeit durchaus herstellbar, obgleich die politisch-juristische Komponente fehlt: „Die Vorsehung hat gewollt, daß der Mensch das Gute aus sich selbst herausbringen soll, und spricht, so zu sagen, zum Menschen: 'Gehe in die Welt,' (…) 'ich habe dich ausgerüstet mit allen Anlagen zum Guten. Dir kömmt es zu, sie zu entwickeln, und so hängt dein eignes Glück und Unglück von dir selbst ab.'“ (702)

Diesen kategorischen Erziehungsauftrag mildert Kant dann ab bzw. zeigt seine ganze Komplexität und Schwierigkeit. Denn der Mensch soll seine Anlagen zum Guten ja erst entwickeln, sie sind nicht schon fertig in ihn gelegt: „Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch.“ (702) Diese Selbsterziehung ist aber eines der schwersten Probleme des Menschen. Denn die Einsicht in solche Probleme hängt von der Erziehung ab und die Erziehung wieder von jener Einsicht: „Daher kann die Erziehung auch nur nach und nach einen Schritt vorwärts tun, und nur dadurch, daß eine Generation ihre Erfahrungen und Kenntnisse der folgenden überliefert, diese wieder etwas hinzu tut, und es so der folgenden übergibt, kann ein richtiger Begriff von der Erziehungsart entspringen.“ (702f.) Kant beschließt seine Argumentation mit einem Zitat, das eine Verbindung zum politischen Aspekt seiner Friedensschriften herstellt: „Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schweresten ansehen: die der Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich.“ (703) Der Zusammenhang zwischen der politischen Komponente seines Friedensdenkens und dem praktisch-moralischen Aspekt seiner Pädagogik wird bei der Begründung einer Friedenspädagogik durch Kant im folgenden noch deutlicher werden.

Zukunft, Kosmopolitismus und Weltbürgertum bei Kant

Mit dem Aspekt des Politischen ist ein Ziel der Pädagogik Kants erreicht, das auch hinter seinen Friedensschriften steht: Weltbürgertum. Dabei ist die Richtung auf Zukunft vorrangig: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“ (704) Eltern erziehen ihre Kinder oft nur so, daß diese in die gegenwärtige Welt passen bzw. in ihr gut vorankommen: „Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.“ (804) Neben den Eltern und deren hinderlichen Erziehungsabsichten nennt Kant noch die Herrschenden („Fürsten“), die ihre Untertanen wie Instrumente zu ihren Absichten betrachten: Eltern und Fürsten „haben nicht das Weltbeste und die Vollkommenheit, dazu die Menschheit bestimmt ist, und wozu sie auch die Anlage hat, zum Endzwecke. Die Anlage zu einem Erziehungsplane muß aber kosmopolitisch gemacht werden … Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt. Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden. Denn die Gründe zum Bösen findet man nicht in den Naturanlagen des Menschen. Das nur ist die Ursache des Bösen, daß die Natur nicht unter Regeln gebracht wird. Im Menschen liegen nur Keime zum Guten“ (704f.).

Von diesem Rousseauschen Ansatz seiner Erziehungskonzeption aus leistet Kant eine scharfe Kritik an den politischen und pädagogischen Verhältnissen seiner Zeit. Kern dieser Kritik ist – die fast wörtlich auch in seinen anderen Friedensschriften begegnet – daß er von den gegenwärtig Herrschenden kaum eine Besserung der politischen und pädagogischen Verhältnisse erwartet; er kann sie allenfalls postulieren oder utopisch erhoffen. Denn diese Herrschenden („Fürsten“) wurden in ihrer Jugend oft ungenügend erzogen, das „man ihnen in der Jugend nicht widerstand“; deshalb ist es besser, „daß sie von jemand aus der Zahl der Untertanen erzogen werden, als wenn sie von ihresgleichen erzogen würde“ (705). Diese mangelhafte Erziehung der Herrschenden muß sich schließlich in deren schlechter, politisch-ökonomisch verfehlter Staatsführung äußern. Kant bezeichnet sie in seinen sämtlichen Friedensschriften als die Hauptursache von Kriegen. In der Pädagogik heißt es: „Das Gute dürfen wir also von oben her nur in dem Falle erwarten, daß die Erziehung dort die vorzüglichere ist! Daher kommt es hier denn hauptsächlich auf Privatbemühungen an, und nicht sowohl auf das Zutun der Fürsten … denn die Erfahrung lehrt es, daß sie zunächst nicht sowohl das Weltbeste, als vielmehr nur das Wohl ihres Staates zur Absicht haben, damit sie ihre Zwecke erreichen. Geben sie aber das Geld dazu her: so muß es ja ihnen auch anheimgestellt bleiben, dazu den Plan vorzuzeichnen. So ist es in allem, was die Ausbildung des menschlichen Geistes, die Erweiterung menschlicher Erkenntnisse betrifft. Macht und Geld schaffen es nicht, erleichtern es höchstens. Aber sie könnten es schaffen, wenn die Staatsökonomie nicht für die Reichskasse nur im voraus die Zinsen berechnete.“ (795)

Kants Pädagogik: die bessere Erziehung entscheidet über den Frieden

Die kritische Sicht der politischen und pädagogischen Verhältnisse im niedergehenden Preußen nach Friedrich d. Gr. und angesichts der revolutionären Vorgänge in Frankreich prägen die Friedenskonzeption Kants, besonders auch was die Staatsschulden der kriegführenden Mächte betrifft. Diese Kriegskosten – die im Traktat „Zum ewigen Frieden“ sogar zum Ende von Krieg und Rüstung überhaupt beitragen sollen – tauchen andeutungsweise auch am Schluß des folgenden Zitats auf; dabei hält Kant am philosophisch und pädagogisch zentralen Begriff der »Aufklärung« fest: „Demnach sollte auch die Einrichtung der Schulen bloß von dem Urteile der aufgeklärtesten Kenner abhängen. Alle Kultur fängt von dem Privatmanne an, und breitet von daher sich aus. Bloß durch die Bemühung der Personen von extendierteren Neigungen, die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Idee eines zukünftigen bessern Zustandes fähig sind, ist die allmähliche Annäherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich. Siehet hin und wieder doch noch mancher Große sein Volk gleichsam nur für einen Teil des Naturreiches an, und richtet also auch nur darauf sein Augenmerk, daß es fortgepflanzt werde. Höchstens verlangt man dann auch noch Geschicklichkeit, aber bloß um die Untertanen desto besser als Werkzeug zu seinen Absichten gebrachen zu können.“ (705f.) Mißbrauchen zu können – müßte es wohl heißen, nachdem das Volk vermutlich vor allem wegen der Steuereintreibung und des nächsten Krieges vermehrt wurde.

Aber derart scharfe Worte formuliert Kant in der Pädagogik nicht – im Gegensatz zu seinen anderen Friedensschriften. Kant sieht in seiner Pädagogik wohl letztlich die Kinder und Jugendlichen als Adressaten. Dennoch wurden im Vorhergehenden jene Eröffnungspassagen der Pädagogik herausgehoben, die fast wörtlich auch in seinen Friedensäußerungen im Traktat „Zum ewigen Frieden“, der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ und der „Rechtslehre“ der „Metaphysik der Sitten“ vorkommen – und in der Pädagogik nur praktisch angewandt werden auf den Erziehungszweck des Friedens und der Friedfertigkeit. Die beiden Hauptteile der Pädagogik über „physische“ und „praktische Erziehung“ können dann ebenfalls im Hinblick auf Kants Friedenskonzeption und die Begründung einer Friedenspädagogik in der Gegenwart gelesen werden. Dazu sollten die eben genannten Friedensschriften Kants jedoch immer wieder neu studiert werden. Ein chronologisches Vorgehen ist dabei nicht einmal so wichtig, sondern Umfang und Bedeutung des Themas Frieden, das in diesen Schriften behandelt wird. Dabei ist Kants Traktat „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ aus dem Jahr 1795 – dem Jahr des Basler Friedensschlusses zwischen Preußen und der Französischen Republik – bestimmt der erste Schritt, gleichsam das philosophische Fundament für eine an Kant orientierte Begründung der Friedenspädagogik und Erziehung in der Gegenwart.

Anmerkungen

1) I. Kant: Über Pädagogik. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von W. Weischedel. Darmstadt 1983. Bd. 10, S. 691-761. Im folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern zitiert; hier S. 697ff. Zurück

Prof. Dr. phil Karl Brose lehrt an der Universität Münster.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/4 Facetten der Gewalt, Seite