W&F 1990/2

BRD – was nun?

Wir dürfen die Chance einer demokratischen Erneuerung der BRD nicht ein weiteres Mal vertun

von Gernot Böhme

Es wird wohl nur wenige geben, die gleich mir in den letzten Wochen das Bedürfnis spürten, Peter Brückners Buch von 1978 wieder aufzuschlagen: „Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären“. Die Bundesrepublik ist heute kein erklärungsbedürftiges Phänomen, vielmehr mit allem, was zu ihr gehört, das Allerselbstverständlichste von der Welt: DM, soziale Marktwirtschaft, Grundgesetz, mit Regierung und Regierten. Das »Modell Deutschland«, seinerseits vergeblich zum Wahlslogan erhoben, hat als Modell Bundesrepublik realgeschichtliche Bedeutung erlangt. Die Frage, „Was ist des Deutschen Vaterland?“, ist durch die „Abstimmung mit den Füßen“ entschieden worden und damit endgültig der politisch-romantischen Sphäre entrissen. „BRD, keine Frage!“ – das war es doch, was uns von drüben entgegenschallte, und die Politiker sonnten sich im Licht dieser einfachen Affirmation. Vielleicht war es die Verwunderung über diese neuen Selbstverständlichkeiten, die mich noch einmal zu dem genannten, wohl gänzlich überholten, jedenfalls vergessenen Buch von Peter Brückner greifen ließ. Was war es doch, was es seinerzeit nötig machte, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären?

Brückner stellte damals, 1978, fest, daß es kein Bedürfnis nach Wiedervereinigung gebe und man in der BRD nicht unter der Teilung Deutschlands leide. „Die westdeutsche Bevölkerung hat die Teilung Deutschlands schon wenige Jahren nach Kriegsende erst hingenommen, dann vergessen – oder begrüßt; jedenfalls in ihrer Mehrheit.“ (S. 16) Seine Erklärung für diesen – für ihn – bemerkenswerten Befund liegt in der These, daß die Bundesrepublik die DDR als das Andere ihrer selbst brauche: Sie habe ihr Selbstverständnis durch Abgrenzung, durch Antikommunismus gewonnen, die Integration ihrer Bevölkerung durch Externalisierung innerer Konflikte erreicht, Kritik durch Unterstellung von Außensteuerung immunisieren können. Der Klassenfeind war draußen (das galt für beide deutsche Staaten), und wem die inneren Verhältnisse nicht paßten, der konnte ja »nach drüben« gehen.

1978, eine trübe Zeit, in der sich dem psychoanalytisch geschulten politischen Beobachter solche skeptischen Gedanken nahelegen mochten. Aber, wenn auch nur je an diesen Gedanken etwas daran war: Was nun, BRD? Droht nun eine Identitätskrise, wenn erst das Andere fehlt, von dem sich unterscheidend man selbst etwas Bestimmtes war? Werden uns nun unsere inneren Konflikte heimsuchen, wenn wir sie nicht mehr als äußere austragen können? Was werden wir mit der Kritik an uns anfangen, wenn wir sie nicht mehr als Einflüsterungen des bösen Bruders abtun können? Mir scheint, daß die Hektik des Wiedervereinigungsbetriebs auch dazu dient, solche zweifelnden Fragen zu überspielen und daß man so gebannt auf die Probleme der DDR blickt, weil man Fragen in bezug auf uns selbst nicht aufkommen lassen will.

Taktlosigkeit

Es hatte sich im Umgang mit der DDR und seinen Bürgern vor den revolutionären Ereignissen des Herbst '89 eine gewisse taktvolle Umgangsform herausgebildet. Das galt für Begegnungen aller Art, von solchen auf Regierungsebene bis ins Private hinein. Die SPD war in der Kunst dieses Umgangs besonders weit fortgeschritten. Er blieb stets prekär, weil die westlichen Partner ihre radikale Kritik bis Ablehnung dessen, was sie sahen und hörten, geflissentlich hintanhielten und die östlichen Partner durch deklamatorische und verschwommene Redeweisen die Brüchigkeit ihres Selbstbewußtseins erkennen ließen. Bei aller Verzerrung der wechselseitigen Kommunikation war aber in dem Takt, der dabei angewendet wurde, eine gewisse Achtung und Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit impliziert.

Von dieser Anerkennung des Andersseins ist nun, nachdem man kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen braucht, nichts mehr geblieben. Wo immer man ist und wer immer man ist, man kann von dem politischen Bankrott des Sozialismus und der jahrzehntelangen sozialistischen Mißwirtschaft reden. Nachdem das Honecker-Regime weggefegt wurde, verschwand auch der Schleier der Andersheit. Von der DDR blieb nichts als eine Bevölkerung mit Gebiet, der oder dem es eine neue Ordnung zu geben gilt, die unsere. Wo immer sich noch Andersheit zeigen sollte, in Produktionsformen, Lebensformen oder gar in der psychischen Binnenstruktur der Menschen, es handelt sich um bloße Relikte, eine traurige Hinterlassenschaft eines Regimes, über das die Geschichte bereits gerichtet hat. Was darunter ist, ist ja eigentlich so wie wir, deutsch, das heißt bundesrepublikanisch. Erfurt und Leipzig, verkündete Bundeskanzler Kohl auf einer Wahlreise in die DDR, werden auch bald blühende Städte sein, so wie andere Städte in der Bundesrepublik. Sollten diese Umarmungen wirklich ohne Verletzungen vor sich gehen können?

Fraglose Wiedervereinigung

Die Wiedervereinigung haben die Bürger der DDR zunächst durch Abstimmung mit den Füßen und dann durch die Wahl am 18. März entschieden. Von seiten der Bürger der BRD war keine große Begeisterung zu spüren, von Demonstrationen für die Wiedervereinigung in der westdeutschen Bevölkerung konnte gar kann keine Rede sein. Nicht anders als 1978 gab es auch 1989 kein Bedürfnis nach Wiedervereinigung in der westdeutschen Bevölkerung. Im Gegenteil hatte man endlich so viel Abstand von der Reichsidee gewonnen, um historisch die Lehre zu akzeptieren, daß den Deutschen, uns, die Mehrstaatlichkeit besser bekommt.

Die Bürger der Bundesrepublik wurden nicht gefragt, ob sie eine Wiedervereinigung wünschten. Sie brauchten auch nicht gefragt zu werden, denn Wiedervereinigung ist ja ein Verfassungsauftrag. Eine Politik, die auf die Einheit Deutschlands zielt, ist damit legitim, selbst wenn die polls ihr gegenüberstehen. Und hat sich nicht auch die Nachrüstungspolitik, die zwei Drittel der Bundesbürger ablehnten, schließlich als richtig erwiesen? Wie dem auch sei – ihre Dynamik bezieht die Vereinigungspolitik jedenfalls nicht aus dem Willen der Bevölkerung der BRD. Vielmehr wird das Tempo der Wiedervereinigung durch Kapitalinteressen bestimmt. Der Run der Konzerne und Banken in der DDR war noch allen Politikern voraus. Und das ist ja auch verständlich: Der Nachholbedarf der DDR-Bürger wird auf Jahrzehnte einen blühenden Absatzmarkt garantieren. Der notwendige Aufbau von Infrastruktur, Wohnraum und Produktionsanlagen verspricht für die westlichen Überkapazitäten Auslastung auf lange Sicht. Das überschießende westliche Kapital findet neue Verwertungsmöglichkeiten, und vorübergehend jedenfalls kann man die ehemalige DDR als Billiglohnland mit Qualitätsgarantie vor der Haustür nutzen. Alles in allem: Ein neues Wirtschaftswunder ist in Sicht.

Zudem wird der Trend ins Biedermeier, der sich gerade bei uns anbahnte, abgefangen. Noch vor kurzem war hier zu hören, das wir aufhörten, eine Arbeitsgesellschaft zu sein: 35 Stunden-Woche zunächst, dann noch weniger, Verkürzung der Lebensarbeitszeit, gesichertes Grundeinkommen: das sind Themen, die nun „in so bewegten Zeiten“ nicht mehr anstehen. Der Antrieb, den der ostdeutsche spüren wird, nun endlich gutes Geld für gute Arbeit zu verdienen, wird auch der Arbeitsmoral des westdeutschen Kumpels wieder auf die Sprünge helfen. Und natürlich werden „wir alle“ auf lange Sicht davon profitieren. Nun wird man jetzt, solange die Verhältnisse in der BRD und auf dem Territorium der DDR so ungleichgewichtig sind, dem Bundesbürger nicht zumuten, dafür allzuviel zahlen zu müssen. Schon einmal ist eine Regierung im Appell oder vielleicht sogar durch den Appell für eine große gemeinsame solidarische Anstrengung gescheitert, nämlich die Helmut Schmidts. Päckchen nach drüben ja, auch Hilfsaktionen über die zuständigen karitativen Organisationen, – aber Steuererhöhungen, Lastenausgleich? Nein. Warum auch? Die Kosten sollten doch von denen getragen werden, die langfristig davon auch die großen Gewinne haben werden, also von der sogenannten freien Wirtschaft. Aber kann es dabei bleiben? Wenn erst die 12 Millionen Wählerstimmen aus dem Osten sich über eine gesamtdeutsche Wahl auswirken – was dann?

Eine erweiterte BRD?

Was wird bei einer Wiedervereinigung herauskommen? Eine erweiterte BRD? Man mache sich doch nichts vor. Ob ein vereintes Deutschland durch Zusammenschluß oder Anschluß zustande kommt, in jedem Fall wird noch über Jahrzehnte ein bedenkliches West-Ost-Gefälle herrschen, ein Mangel an innerem Gleichgewicht. Nicht so sehr außenpolitische Ambitionen, die unseren Nachbarn Sorge zu bereiten scheinen, sind das Beunruhigende dieser Lage, sondern die innere Instabilität. Die Bundesrepublik im Bewußtsein ihres wirtschaftlichen Erfolges und der Zuverlässigkeit ihrer parlamentarischen Demokratie glaubt sich dieser Lage gewachsen. Nur die Überstürztheit der Vereinigungsbewegung macht deutlich, daß man die Größe der Probleme, die man sich einhandelt, ahnt. Vielleicht ist ja wirklich derartiges nur durch einen Sprung ins kalte Wasser zu lösen. Das erklärt auch die Entschiedenheit, mit der man an der gegebenen Ordnung der Bundesrepublik festhalten will: wenigstens einen verläßlichen Faktor soll es in diesem Strudel geben.

Wirtschaftlich lohnt sich die Sache, das ist keine Frage. Aber was handelt man sich politisch ein? Man handelt sich ein West-Ost-Gefälle im Lebensstandard, in Infrastruktur und Umweltbedingungen, im Arbeitsmarkt ein, das sich politisch auswirken muß. Man handelt sich ferner die Aufgabe einer Vergangenheitsbewältigung ein, die durchaus mit der des Faschismus vergleichbar ist. Wie im Faschismus das ganze deutsche Volk, so war auch das Volk in der DDR zutiefst in das totalitäre Regime verstrickt. Es ist eine Illusion, zu glauben, man würde diese Vergangenheit durch Abservieren einer kleinen Führungsschicht los. Die Affären mit Stasi-Akten sind nur ein äußeres Symptom einer Krankheit, die erst langsam heilen wird. Subalternes Verhalten, gegenseitiges Mißtrauen, deklamatorische Öffentlichkeit und privates Sich-Durchwursteln sind nach 56 Jahren leben in einem totalitären System ubiquitär. Und das wird nicht nur ein regionales Problem der Länder des ehemaligen DDR-Territoriums sein, sondern die Gefahr einer Zweiklassenstruktur der deutschen Bevölkerung enthalten.

Man handelt sich ferner ein, daß man nun unausweichlich und eindeutig Erbe des Dritten Reiches wird. Das Teilstaatenbewußtsein machte es immer noch möglich, sich nicht als dasselbe Deutschland zu empfinden, das 33 bis 45 so ungeheuerliche Verbrechen auf sich geladen hat, zumal es noch immer möglich war, ideologisch oder auch territorial die Verbrechen beim anderen Teilstaat zu verorten. Insbesondere die DDR als „antifaschistischer und sozialistischer“ Staat war in dieser Strategie der Exterritorialisierung des schlechten Gewissens geübt. Heute soll die Sprachregelung »Vereinigung« statt »Wiedervereinigung« die Identitätsvorstellung abhalten: Es sei eben nicht das alte Reich, das jetzt wiedervereinigt wird. Und doch ist es dieses Verheilen von Wunden, die uns der deutsche Zusammenbruch 1945 geschlagen hat, was problematisch ist. Solange noch nicht über alles Gras gewachsen war, konnte man in Deutschland noch mit dem Gefühl leben, für die Greuel des Faschismus auch gebüßt zu haben. Die Bedeutung dieser Struktur zur Ermöglichung des Weiterlebens hat die Biographieforschung inzwischen an sehr vielen Nachkriegsbiographien aufgewiesen. Was aber, wenn „die deutsche Geschichte – nun doch einfach – weitergeht“?

Man ist sich in Deutschland, man ist sich auch in der sonst so selbstbewußten Bundesregierung dieses Weges keineswegs sicher. Deutschland – in beiden Teilen und im ganzen – ist seit Jahrzehnten der Souveränität entwöhnt. Die jeweils relative Prosperität im Anschluß an die Siegermächte in Ost und West und die Entlastung von Weltpolitik, die durch diesen Anschluß gegeben war, ermöglichte auch ein bequemes Dasein. Nun wird Gesamtdeutschland durch seine Lage und durch seine vereinigte wirtschaftliche Kraft ein gewaltiger Machtfaktor in Europa sein und mit Europa von weltpolitischer Verantwortung. Ist man auf eine solche Rolle in irgendeiner Weise politisch vorbereitet? Gibt es irgendwelche weitreichenden Konzepte und Strategien für eine ökologische Erdpolitik, für eine langfristige Überwindung des Nord-Süd-Gefälles, für eine Durchsetzung der Menschenrechte weltweit und eine Weltfriedenspolitik? Nein. Die Bundesrepublik wie die DDR haben bisher ihre Politik des persönlichen und regionalen Nutzens mit Erfolg als weltpolitisches Wohlverhalten drapieren können. Aber was nun? Nun und demnächst haben wir es mit der Unsicherheit eines groß, aber nicht mündiggewordenen Kindes zu tun. Schon jetzt hört man aus Bonner Äußerungen auf der einen Seite hegemoniale Ansprüche in Europa heraus, auf der anderen Seite wird der Verbleib eines Gesamtdeutschlands in der NATO und die Anwesenheit von Fremdtruppen auf seinem Gebiet als Sicherheitsgarantie – als Sicherheit vor den Deutschen – angeboten, als ob man seiner eigenen Friedfertigkeit nicht mehr traute.

Die Verbesserung der Bundesrepublik

Das Scheitern des Sozialismus ist hier, wenn nicht mit Siegesfeiern, so doch mit einer hemmungslosen Selbstaffirmation begangen worden. Der Blick auf die strauchelnde DDR hat vergessen lassen, daß je in der Bundesrepublik etwas schiefgelaufen ist, daß es Perioden gibt, deren wir uns zu schämen haben, daß die Bundesrepublik selbst verbesserungswürdig ist. Um die Perspektive wieder zurechtzurücken, wäre es heute nötig, daran zu erinnern. Nennen wir wenigstens ein paar Stichworte: Da wäre vor allem an den deutschen Herbst zu erinnern, an die kollektive Neurose fast der ganzen Bevölkerung und an die Ad hoc-Einschränkungen der Rechte von angeklagten Gefangenen und Verteidigern. Da wäre an die beschämende Praxis der Berufsverbote zu erinnern, an die staatlich verhängten Nachteile, die Bürgern aus der Ausübung ihrer Rechte durch Mitarbeit in zugelassenen Parteien und Organisationen erfuhren. Da ist vor allem an das seit Jahrzehnten schwelende Ausländerproblem zu erinnern, der sogenannten »ausländischen Mitbürger«. Auch in der zweiten und dritten Generation wird ihnen nicht das deutsche Staatsbürgerrecht gewährt, d.h. es gibt hier Menschen, die Deutsch sprechen, deren Heimat dieses Land ist und denen noch immer die staatsbürgerlichen Rechte verweigert werden. Da ist auf die Formierung unseres Staates zum Sicherheitsstaat zu verweisen, die das Betreiben von an sich unverantwortlichen und inhumanen Technologien ermöglichen soll. Da ist auch hier – sicherlich auf einem anderen technologischen Niveau als in der DDR – die sträfliche Verschleppung und Vertuschung von Umweltproblemen zu nennen. Und schließlich ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß dieser unser, einer der reichsten Staaten der Welt, es nicht fertiggebracht hat, das Wohnungsproblem zu lösen, eine pädagogisch verantwortbare Ausstattung der Schulen und Universitäten zu ermöglichen und ein sozial und medizinisch ausreichendes Gesundheitssystem aufzubauen. Allerdings – die Bundesrepublik ist verbesserungswürdig, und der Zeitpunkt der Wiedervereinigung wäre die große Chance auch für die Bundesrepublik zu einem Neuanfang.

Nutzen wir diese Chance!

Der Bürger der Bundesrepublik hat von der Wiedervereinigung sonst nichts Großes zu hoffen. Im Gegenteil wird voraussichtlich von ihm ein »Solidarbeitrag« erwartet. Selbst wenn dieser nicht über Steuererhöhungen finanziert wird, sondern über künftige Spielräume der öffentlichen Haushalte, wird jeder einzelne, werden besonders die sozial Schwächeren das spüren. Denn dann werden auch weiterhin jene Vorhaben auf die lange Bank geschoben, deren Realisierung wegen mangelnder Spielräume der öffentlichen Haushalte unterblieb: Schaffung von ausreichend Wohnraum, angemessene Ausstattung des Bildungssektors, Sicherung einer humanen Altenpflege, Lösung des Arbeitslosenproblems, Gewährung einer Grundrente. Wenn also finanziell auch in Zukunft für ihn »nichts drin« ist, dann soll man den Bürger der BRD wenigstens nicht um die Chance betrügen, seine politischen Verhältnisse einer gründlichen Revision zu unterziehen und sie zu verbessern, wo es geht. Man betrüge ihn nicht um die Chance durch eine Wiedervereinigung auf dem Wege des Anschlusses an die BRD mit Hilfe des Artikels 23 GG!

Mehr Demokratie!

„Mehr Demokratie wagen!“ war einmal der Slogan, mit dem Willy Brandt als Kanzler Hoffnungen geweckt hatte. Was ist aus diesem Aufbruch geworden? Damals hatte man entdeckt, daß die demokratischen Möglichkeiten des Einzelnen im wesentlichen auf den periodischen Gang zur Wahlurne eingeschränkt waren. Nach 1945 hatte man das demokratische System quasi über unverändert autokratisch funktionierende Institutionen gestülpt. Dann in den 70er Jahren hatte man vorübergehend »verstanden«, daß nach dem Führer- oder sagen wir nach dem Chef-Prinzip funktionierende Institutionen nicht modern, und das heißt effizient sind. Inzwischen ist der Demokratisierungsprozeß unserer Gesellschaft längst steckengeblieben, ja sogar rückläufig. Hier wäre ein neuer Impuls zu setzen. Er könnte gesetzt werden durch Einführung eines Volksbegehrens und eines Volksentscheides in grundsätzlichen Fragen. Daß diese Möglichkeit fehlt, wurde deutlich im Fall Startbahn West, bei der Nachrüstung und bei der Kernenergiepolitik. Die Achtung für das Volk, die man bis hinauf zum Bundespräsidenten beim Anblick der revolutionären Bewegung in der DDR zum Ausdruck brachte, könnte hier Gestalt gewinnen. Statt dessen sieht man, daß schon jetzt die radikal-demokratischen Kräfte, die in der DDR diese Revolution ermöglicht haben, durch die Verwaltungsdemokratie der Bonner Parteien ins Abseits gedrängt werden.

Mit einem Anteil von fast 10 % Ausländern ohne politische Bürgerrechte nähert sich die Bundesrepublik einer Privilegiendemokratie. Den hier aufgestauten Problemen könnte anläßlich einer so grundsätzlichen Umstellung, wie es die Wiedervereinigung ist, durch einen einmaligen Schritt Abhilfe geschafft werden. Allen Ausländern der zweiten und dritten Generation und allen anderen, die bereits zehn Jahre in der Bundesrepublik leben, wäre die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen. Die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaft wäre einzuführen. Das Wahlrecht wäre allen in Deutschland arbeitenden Ausländern und deren Familienangehörigen mindestens auf kommunaler Ebene einzuräumen.

Es gibt noch andere Probleme, die sich aufgestaut haben und deren man vergeblich durch immer erneute Gesetze und Verordnungen Herr zu werden trachtet. So das Umweltproblem. Gerade das Hinzutreten des Territoriums der DDR macht deutlich, daß es hier nicht mehr um Naturschutz geht und daß man der Probleme nicht mehr durch Verbote Herr wird. Die Natur erneut und ständig in einer Weise zu reproduzieren, daß sie zur menschlichen Lebensgrundlage dienen kann, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Zu ihr ist zuallererst der Staat, ebenso wie zur Bewahrung der äußeren und inneren Sicherheit und der Garantie sozialer Rechte seiner Bürger, zu verpflichten. D.h. also „die Reproduktion von Natur als menschlicher Lebensgrundlage“ sollte in die Verfassung als Staatsziel aufgenommen werden.

An der Angabe solcher gesamtgesellschaftlicher Ziele mangelt es überhaupt im Grundgesetz. Der Staat ist deshalb, abgesehen von Militär und Polizei, in Gefahr, zu einem bloßen Verwaltungsapparat zu degenerieren. Man könnte deshalb die soziale Grundsicherung seiner Bürger durchaus auch als Staatsziel bezeichnen. Jedenfalls sind die sozialen Grundrechte gegenüber dem Grundgesetz zu erweitern, etwa um das Recht auf Wohnung.

Andere Grundrechte müssen modifiziert werden. So ist beispielsweise das Grundrecht der Forschungsfreiheit in unglücklicher Weise mit dem Grundrecht auf Meinungs- und Redefreiheit verbunden worden. Das geht auf die Tradition des Vormärz zurück. Angesichts einer Wissenschaft, die sich zur kollektiven Produktiv- und Destruktivkraft entwickelt hat, kann man aber die Forschungsfreiheit nicht mehr als individuelles Recht formulieren. Die Wissenschaft muß überhaupt ausdrücklicher an die Bewahrung menschlicher Würde und die Reproduktion von Natur als menschlicher Lebensgrundlage gebunden werden.

Ferner ist daran zu erinnern, daß das Grundgesetz heute ja keineswegs einfach das Grundgesetz von 1949 ist, sondern vielmehr eines, das durch die Notstands- und Verteidigungsgesetzgebung wesentlich formiert wurde, und darin die Spuren des Kalten Krieges trägt. Will man diesen Bestand unrevidiert in eine friedliche Zukunft hinübertragen?

Schließlich muß man sich angesichts der Periode der Berufsverbote und der Ad hoc-Verbiegung des Strafrechts und der Strafprozeßordnung fragen, ob die Freiheitsrechte der Bürger im Grundgesetz wirklich schon hinreichend gesichert sind. Und es hatte sich ja auch bei uns im Zuge des Kalten Krieges ein überdimensionales System von Staatssicherheitsdiensten entwickelt, vor deren Tätigkeit die Bürgerrechte den Einzelnen nicht hinreichend schützen. Es wäre grotesk, nach Auflösung der Stasi im Westen die entsprechenden Systeme nicht abzubauen. Jedenfalls sollten wir uns nicht die Möglichkeit entgehen lassen, unsere Erfahrungen mit der Verfassungswirklichkeit in die Debatte um eine gesamtdeutsche Verfassung einzubringen.

Wenn es zu dieser Debatte kommt! Danach sieht es vorläufig nicht aus. Denn die Bundesrepublik – mit allem was dazugehört: DM, Marktwirtschaft Grundgesetz – scheint heute das Selbstverständlichste von der Welt. Kein erklärungsbedürftiges Phänomen mehr, geschweige denn ein Problemfall.

Dr. Gernot Böhme ist Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1990/2 1990-2, Seite