W&F 2020/4

Brüchige Waffenruhe

von Jürgen Nieth

„Aserbaidschan will seit zwei Wochen (27.09.20) im Rahmen einer »Konteroffensive« gegen armenische » Provokationen« Nagornyj Karabach und sieben umliegende, armenisch besetzte Gebiete zurückgewinnen.“ (FAZ, 12.10.20, S. 5) In diesen zwei Wochen sollen allein in Bergkarabach „75.000 Menschen aus ihren Häusern geflohen sein, die Hälfte der Bevölkerung dort“ (Silke Bigalke in SZ 12.10.20, S. 2). Unklar ist, wieviele Personen bei den Kämpfen bislang starben.

Seit dem 10. Oktober gilt für den Krieg um Bergkarabach nach Vermittlung Russlands eine Waffenruhe. Während dieser sollen auch die Gefangenen und die Leichname von Soldaten ausgetauscht werden. Der Waffenstillstand ist brüchig. Er wird fast täglich verletzt. Bei Redaktionsschluss dieser Seite (16.10.) waren auch die Gefangenen und Toten nicht ausgetauscht.

Hintergrund

Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Karabach-Gebiet ein ständiger Konfliktherd zwischen den einstigen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan. Die große Mehrheit der Bewohner*innen des völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Bergkarabach sind nach ethnischer Herkunft Armenier*innen, und Armenien sieht sich als deren Schutzmacht. Es „kontrolliert und verteidigt neben Bergkarabach auch sieben umliegende Gebiete. Sie dienen als Puffer und sind inzwischen weitgehend unbewohnt.“ (Silke Bigalke, s.o.) Zu beachten sind auch religiöse Unterschiede: In Armenien und Bergkarabach dominiert der christliche Glaube, in Aserbaidschan der schiitische Islam.

Zwischen 1992 und 1994 führten beide Länder um die nicht anerkannte »Republik Arzach« einen Krieg, in dessen Folge Zehntausende starben und Hunderttausende vertrieben wurden. 1994 kam es zu einem Waffenstillstandsabkommen, das aber immer wieder von beiden Seiten gebrochen wurde. Aber „anders als in früheren Jahren, als es zu einzelnen Gefechten an der Frontlinie kam, hat Aserbaidschans autoritär regierender Präsident Ilcham Alijew sich diesmal offenbar zum Ziel gesetzt, ein für allemal das gesamte Territorium zurückzuerobern“ (Christian Esch in DER SPIEGEL, 10.10.20, S. 98).

Die Türkei zündelt mit

Weiter schreibt Esch: „Das einzige Land, das ihn in seinem Vorgehen offen bestärkt, statt zu einem Waffenstillstand aufzurufen, ist die Türkei […]. Die Türkei hat mindestens tausend syrische Rebellen als Kämpfer gegen Armenien angeworben, türkische F-16-Kampfflugzeuge wurden auf einem aserbaidschanischen Flughafen gesichtet. Der türkische Außenminister sprach offen von »Solidarität« auf dem Schlachtfeld wie am Verhandlungstisch.“ Da passt es ins Bild, dass sich an dem letzten großen Militärmanöver in Aserbaidschan angeblich bis zu 11.000 türkische Soldaten beteiligt hatten.

Russland: Partei oder Vermittler

Russland hat immer wieder seine Vermittlerrolle hervorgehoben. Dafür sprechen wichtige innenpolitische Faktoren. „In Russland leben 1,7 Millionen Armenier , die überwiegend im Besitz der russischen Staatsbürgerschaft sind […]. [Die Aserbaidschaner *innen sind] mit 3,6 Millionen Menschen landesweit eine der größten nationalen Minderheiten.“ (Ute Weinmann in nd, 30.09.20, S. 3) Seit dem erneuten Kriegsbeginn werden gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen beiden Nationalitäten aus Russland gemeldet. Sie würden sicher eskalieren, wenn die Ankündigung des Präsidenten der »Union der Armenier Russlands« wahr würde: „[…] die Entsendung von 20.000 armenischen Freiwilligen aus Russland nach Bergkarabach“.

Auch außenpolitisch spricht vieles für eine Vermittlerposition. Russland unterhält in Armenien einen sehr wichtigen Militärstützpunkt und ist mit diesem Land durch eine strategische Partnerschaft verbunden, bei einem Angriff auf Armenien also zur militärischen Unterstützung verpflichtet. Es kann aber kein Interesse daran haben, Partei in einem weiteren militärischen Konflikt zu sein, bei dem unter Umständen auf der anderen Seite der NATO-Staat Türkei mitmischt. Zur russischen Zurückhaltung Christian Esch (s.o.): „Russlands Präsident hat klargestellt, dass diese Verpflichtungen sich nur auf das Gebiet Armeniens beziehen, nicht auf Bergkarabach.“

Die Waffenlieferanten

Mit Rüstungsexporten bedient Russland übrigens beide Seiten: zum Vorzugspreis Armenien, zum Marktpreis Aserbaidschan.

Eigentlich soll es nach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Waffenembargo für diese Region geben. Aber neben Russland beliefert auch Serbien beide Seiten. Und Aserbaidschan arbeitet militärisch eng zusammen „mit der Ukraine, mit Pakistan und den USA“. Klammheimlich „wurde Israel […] zum zweitgrößten Waffenlieferanten. 2016 hatte Baku langfristige Verträge im Wert von fünf Milliarden US-Dollar geschlossen.“ (Rene Heilig in nd 30.09.20, S. 3)

Lösung nicht in Sicht

„Die Türkei stellt offenbar Russlands Monopol als Ordnungsmacht in den früheren Sowjetrepubliken des Südkaukasus infrage. Aserbaidschan jedenfalls hat sich schon neu orientiert. ‚Die Rolle der Türkei‘, sagte Staatschef Alijew, ‚sollte in unserer Region noch größer sein, auch bei der Regelung dieses Konflikts‘.“ (Stefan Scholl in FR 12.10.20, S. 2) Für Armenien ein Alptraum. Schließlich ist das Verhältnis Armenien-Türkei aufgrund des Genozids, der 1915 vom Osmanischen Reich an der armenischen Volksgruppe begangen wurde – man spricht von anderthalb Millionen ermordeten Armenier*innen – höchst belastet. Hinzu kommt: „[…] beide Seiten vertreten absolut gegensätzliche Positionen zur Zukunft der Region. Aserbaidschans Präsident Ilcham Alijew erklärte, ohne eine Rückkehr von Berg- Karabach in den aserbaidschanischen Staat werde es keinen Frieden geben. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan beschwor das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier und drohte mit der einseitigen diplomatischen Anerkennung der Republik durch Armenien.“ (Reinhard Lauterbach in jw 12.10.20, S. 19)

1994 wurde der Waffenstillstand von der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE vermittelt. Vielleicht liegt dort eine Chance.

Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, nd – der tag, DER SPIEGEL, SZ – Süddeutsche Zeitung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/4 Umwelt, Klima, Konflikt – Krieg oder Frieden mit der Natur?, Seite 4