W&F 1989/4

Bundesdeutsche Parteien & Europäische Sicherheit

von Berthold Meyer

Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger hat am 11.11.1988 in drei Sprachen (deutsch, englisch, französisch) ein Manuskript zum Thema „Sicherheit für Europa und das Atlantische Bündnis“ verteilen lassen, in dem er für die „Politische Union Europas“ auf der Grundlage des EG-Vertragswerks und für die „Europäische Sicherheitsunion“ als „notwendigen Bestandteil der politischen Union“ auf der Grundlage des WEU-Vertrages plädierte, und in dem es auf S. 10 heißt: „Wenn ich bisher von Europa gesprochen habe, habe ich Westeuropa gemeint.“

Dregger gebraucht danach in bezug auf die Überwindung der Teilung Europas Sätze wie: „Ein vereinigtes Europa, das alle Völker umfaßt, die nach ihrem kulturellen und historischen Selbstverständnis zum Abendland gehören, könnte so zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden.“ „Je geringer Umfang und Stärke der (Gesamt-)Europäischen Union wären, umso mehr wäre diese als Zusammenschluß europäischer Demokratien auf die militärische Präsenz der USA in Europa angewiesen…“ Die Sowjetunion sollte sich überlegen, was für sie von größerem Nutzen sei, „die Kooperation mit freien und leistungsfähigen europäischen Staaten, die ihren Rückhalt in einer eigenständigen (Gesamt-)Europäischen Union finden oder die Aufrechterhaltung einer unerträglichen Konfliktsituation im Herzen Europas und eines von ihr erzwungenen Bündnisses mit den Staaten Ost-Mittel-Europas…“ „…je früher und besser sich das freie Westeuropa zu einem faszinierenden Modell für die Völker in Mittel-, Ost- und Südeuropa entwickelt; zu einem Modell für ein Gesamteuropa…“

Spätestens hier wird deutlich, daß für Dregger das Gravitationszentrum Europas im westeuropäischen Einigungsprozeß liegt. Klar wurde aber auch schon, daß für ihn Europa, das Abendland, nur bis zum Bug und nicht zum Ural reicht. Ohne in diesem Moment auf die inhaltliche Problematik dieses Beitrages einzugehen, läßt sich eines sehr gut an ihm aufzeigen: Sprachschludrigkeit ist es nicht allein, was den Westeuropazentrismus ausmacht, vielmehr ist der verwirrende Sprachgebrauch, für den ja nicht nur Dregger steht, typisch für eine politische Rhetorik, die nicht alles sagen will, was sie denkt und nicht alles bedenkt, was sie dennoch sagt.

Im folgenden sollen die Positionen der Parteien des Deutschen Bundestages zu fünfzehn verschiedenen Aspekten der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa, zum geamteuropäischen Verständigungsprozeß und – weil diese Problematik stets damit verwoben ist – zur Deutschlandpolitik miteinander verglichen werden. Der Rahmen des Referates erlaubt es dabei leider nicht, auf die innerparteilichen Diskussionen, die es zu einzelnen Fragestellungen gibt, näher einzugehen oder die Entwicklung bestimmer Positionen nachzuzeichnen. Vielmehr beschränkt sich die Synopse weitgehend auf die offiziellen Parteilinien und auf ihren Stand in der 11. Legislaturperiode des Bundestages.

Faßt man diese Linien zusammen, so läßt sich feststellen, daß es im Bundestag keine Gruppierung gibt, die sich dafür stark machen würde, auf dem Weg nach Europa in eine nationalstaatliche Richtung umzukehren. Im Gegenteil: alle Parteien geben sich pro-europäisch, jedoch wollen sie nicht alle dasselbe Europa, schon gar nicht in der Sicherheitspolitik.

Jede Partei hat einen spezifischen Zugang zum Fragenkomplex der europäischen Sicherheit entwickelt, verfolgt im Detail unterschiedliche Zielvorstellungen und bevorzugt dementsprechend auch von den anderen abweichende Methoden der Sicherheitspolitik. Der vielbeschworene sicherheitspolitische Konsens in der Bundesrepublik ist nicht in ein schwarz-blau/gelbes Lager einerseits und ein rot-grünes andererseits zerfallen. Vielmehr verlaufen bei einigen Sachgebieten Trennungslinien quer durch die politischen Parteien, bei anderen gibt es unterschiedlich breite „Koalitionsmöglichkeiten“.

Die Einstellung zum NATO-Bündnis

Eine zentrale Frage für das Ob und Wie einer stärkeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa ist die nach der Einstellung zum NATO-Bündnis und zur deutschen Mitgliedschaft darin. Diese wird in den traditionellen Parteien weitgehend übereinstimmend positiv beantwortet. Allerdings gibt es bei der SPD und FDP schon seit langem Hinweise darauf, daß dieses Bündnis weder Selbstzweck noch für die Ewigkeit gedacht ist, sondern durch eine gesamteuropäische Friedensordnung abgelöst werden soll. Die von Oskar Lafontaine Mitte der 80er Jahre vertretene Auffassung, die Bundesrepublik sollte die NATO-Integration verlassen, wurde von ihm nach der Bundestagswahl 1987 zurückgenommen. Einzig die Grünen meinen, Frieden in Europa könne eher durch einen einseitigen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO oder auf dem Wege der Blockauflösung erreicht werden. Hier hat Joschka Fischer 1987 jedoch eine neuerliche Standortdiskussion ausgelöst.

Westeuropäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik

Die traditionellen Parteien befürworten allesamt eine Verstärkung der westeuropäischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der NATO. Die Unionsparteien halten dies für notwendig, um den zweiten Pfeiler im NATO-Bündnis auszubauen und um gleichzeitig zu verhindern, daß sich die USA von Europa zurückziehen, denn sie wollen das Bündnis insgesamt gegenüber der nach wie vor als bedrohlich erlebten Sowjetunion und dem Warschauer Pakt stärken. Fraktionschef Dregger strebt darüber hinaus an, die WEU zur Europäischen Sicherheitsunion auszubauen, wobei er sogar daran denkt, daß diese eines Tages als dritte Macht gemeinsam mit den beiden Weltmächten an Rüstungskontrollverhandlungen beteiligt sein könnte. SPD und FDP geht es bei der Verstärkung der westeuropäischen Sicherheitskooperation primär um die Rahmenstruktur, d.h. darum, die Mitsprachemöglichkeiten der Westeuropäer im Bündnis zu verbessern und ihr Gewicht zu vergrößern. Die Sozialdemokraten wollen zum Teil auch durch eine Politik der Selbstbehauptung Europas die Abhängigkeit von den USA verringern, um in Zeiten einer konfrontativen US-Politik in Europa eigenständig auf einem Entspannungskurs bleiben zu können. Während die Unionsparteien und die Liberalen auch aus Gründen der Koproduktion und Standardisierung im Rüstungsbereich die Wiederbelebung der WEU betrieben haben, wogegen die SPD 1984 sanft opponierte, ist es gerade dieser Aspekt, der die Grünen zu jeder Art des sicherheitspolitischen Ausbaus Westeuropas Nein sagen läßt.

Kompetenzerweiterung der EG

Alle drei traditionellen Parteien sind dafür, die EG zu einer Europäischen Union fortzuentwickeln, der dann auch sicherheitspolitische Kompetenz (im Rahmen der EPZ und auf den Ebenen der Kommission und des Europäischen Parlamentes) zuwächst. Über das Maß des Zusammenschlusses wie auch der sicherheitspolitischen Kompetenz gibt es allerdings Unterschiede zwischen den Regierungsparteien und der SPD. Die Grünen wollen demgegenüber den Zivilcharakter der EG auf alle Fälle gewahrt wissen und lehnen deshalb eine sicherheitspolitische Kompetenzerweiterung wie auch jede institutionalisierte Zusammenarbeit der EG mit der WEU und der NATO ab.

Achse Bonn – Paris?

Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik wird in den Parteiprogrammen höchstens beiläufig erwähnt. Sie unter der Zielsetzung zu vertiefen, Frankreich zu einem für die Bundesrepublik berechenbaren Partner zu machen, forderten Mitte der 80er Jahre jedoch Politiker verschiedener Couleur. Unterschiede ergeben sich dabei vor allem vor dem Hintergrund der jeweiligen Einstellung zur Nuklearrüstung (vgl. 7). Wie weit das Ziel der Einbindung Frankreichs durch den neu geschaffenen Sicherheits- und Verteidigungsrat erreicht worden ist, muß abgewartet werden. Dem Zusatzprotokoll zum Elysée-Vertrag stimmten 1988 sowohl die Koalitionsparteien als auch die SPD zu, während die Grünen erklärten, die „historisch beispiellose Verständigung im Zeichen von Aussöhnung und Frieden“ werde „militärisch vergiftet“ (Mechtersheimer). Helmut Schmidts 1984 erhobene Forderung nach einem „französisch-deutschen Tandem“ in der Sicherheitspolitik, das dann auch die politische Führung in der EG übernehmen sollte, läßt sich parteipolitisch nicht mehr zuordnen, den sie stieß weder in seiner eigenen noch in den anderen Parteien auf ein eindeutiges Echo, fand aber noch am ehesten in Dreggers Überlegungen zu einer europäischen Sicherheitsunion unter deutsch-französischer Führung einen Widerhall.

US-Präsenz

Ein sicherheitspolitisches Eckdatum der Unionsparteien ist die Vorstellung, die Sowjetunion könnte zu einer militärischen Expansion neigen, wenn der Westen nicht stark genug gerüstet sei. Deshalb plädieren sie dafür, auch im Falle der Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO die Truppenpräsenz der USA vollständig beizubehalten. Die Selbstbehauptungsperspektive der SPD kommt logischerweise zu dem Ergebnis, daß, wenn die Stärkung Westeuropas erfolgt ist, ein teilweiser Rückzug der Amerikaner – aber auch der Sowjets auf der anderen Seite – möglich wäre. Die FDP ist in diesem Punkt programmatisch über allgemeine Aussagen zugunsten einer »ausgewogenen Rüstungsverminderung« hinaus nicht festgelegt, während für die Grünen der Abzug aller ausländischen Truppen essentiell ist.

Atomare Abschreckung und Modernisierung

Sicherheit kann aus der Sicht der CDU/CSU – zumindest bis zur Installierung eines funktionierenden und auf die europaspezifische Bedrohung zugeschnittenen Abwehrsystems – nur durch atomare Abschreckung gewährleistet werden. Diese Aufgabe kommt bis auf weiteres noch den USA zu, könnte aber nach Auffassung einiger Unionspolitiker auch von einer europäischen Atomstreitmacht wahrgenommen werden. Auch SPD und FDP halten die nukleare Abschreckung bis auf weiteres noch für notwendig, möchten sie aber durch Rüstungskontrollmaßnahmen und durch die Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ (SPD) längerfristig überwinden. Welche und wieviele Atomwaffen für die Abschreckung weiterhin notwendig sind, ist ein Streitpunkt, der quer durch die traditionellen Parteien geht. Aus der „Nachrüstungs“debatte wie auch aus der Auseinandersetzung zwischen den Koalitionsparteien um die doppelte Null-Lösung haben CDU/CSU und FDP den Schluß gezogen, daß gegenwärtig nicht über eine Modernisierung im nuklearen Kurzstreckenbereich gesprochen werden sollte. Dabei spielen sowohl wahltaktische Gesichtspunkte eine Rolle als auch die Überlegung, daß keine Waffen allein in der Bundesrepublik aufgestellt werden sollen (Singularisierung). Die FDP hat darüber hinaus wie die SPD auch entspannungspolitische Bedenken gegen eine Modernisierung. Die Grünen lehnen mit der Atomrüstung auch die Abschreckungsstrategie ab und sind infolgedessen auch grundsätzlich gegen jede Modernisierung.

Deutsche Mitsprache über Kernwaffen

Das Problem der Bundesrepublik, möglicherweise sehr früh zum Schauplatz einer nuklearen Auseinandersetzung zu werden und darauf keinen Einfluß zu haben, wird von Politikern aller Parteien gesehen. Die Lösungsansätze fallen jedoch höchst unterschiedlich aus. In den Unionsparteien wird eine positive Mitentscheidung der Bundesrepublik über den Einsatz der Kernwaffen der Verbündeten befürwortet. Einzelne Unionspolitiker halten dabei eine eigenständige westeuropäische Atomstreitmacht unter französischer Beteiligung für erstrebenswert. Alle anderen Parteien haben sich eindeutig gegen eine solche Atomstreitmacht wie auch dagegen, daß die Bundesrepublik selbst über Kernwaffen verfügt, ausgesprochen. Bei der SPD und FDP konzentriert sich die Frage der Mitsprache auf das Problem, eine Vetomöglichkeit gegen den Einsatz von Kernwaffen der NATO oder Frankreichs auf deutschen Boden oder von deutschem Boden aus zu erhalten. Die Grünen wollen die gesamte Bundesrepublik in eine ABC-waffenfreie Zone einbezogen wissen, in die dann auch nicht mit derartigen Waffen hineingeschossen werden darf.

Atom- und Chemiewaffenfreie Zonen

Zu solchen regionalen Konzepten der Rüstungsverminderung verhalten sich die traditionellen Partein sehr unterschiedlich. Die SPD hatte 1982 das Palmesche Korridor-Konzept befürwortet. Sie legte 1986 einen entsprechenden Vorschlag gemeinsam mit der SED vor, nachdem sie mit ihr 1985 auch schon ein Konzept für eine C-waffenfreie Zone ausgearbeitet hatte. Der Willensbildungsprozeß in der FDP ist in der Frage der atomwaffenfreien Zonen nicht eindeutig. Sie hat sich verschiedentlich für ein atomwaffenfreies Europa unter der Bedingung des konventionellen Gleichgewichts ausgesprochen, hat diesen Punkt jedoch nicht in ihr Schwerpunktprogramm von 1986 aufgenommen, obwohl einige Landesverbände diese Position bzw. Korridorkonzepte weiterhin vertreten. C-waffenfreie Zonen lehnt sie ab und setzt mit ihrem Außenminister seit Jahren auf den baldigen Abschluß einer globalen Übereinkunft in dieser Frage im Rahmen der Genfer Verhandlungen. Die Unionsparteien halten hingegen (mit Ausnahme der „Christlichen Demokraten für Schritte zur Abrüstung“) alle regionalen Abrüstungskonzepte und damit auch alle derartigen Entnuklearisierungsvorschläge für unakzeptabel. Ein Teil der Koalition (von Rühe bis Feldmann) ist jedoch bereit, die nukleare Artillerie um 80% einseitig abzurüsten.

Westeuropäische Rüstungskooperation

Eine westeuropäische Rüstungskooperation wird von den Unionsparteien uneingeschränkt begrüßt. Sie hatte im bayrischen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß auch einen der wichtigsten Promotoren auf diesem Gebiet. Die SPD hat als Regierungspartei Kooperationsprojekte gefördert und kann deshalb als Oppositionspartei nur graduell von dieser Position abrücken. Die FDP heißt eine Rüstungskooperation innerhalb Westeuropas vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rüstungsstandardisierung gut. Die Grünen lehnen aufgrund ihrer generell rüstungskritischen Position Kooperationsprojekte grundsätzlich ab.

Beteiligung an SDI

Eine deutsche bzw. europäische Beteiligung an der US-amerikanischen strategischen Verteidigunginitiative (SDI) wurde von den Unionsparteien befürwortet. Dabei ging sie davon aus, daß dieses Programm auch den westeuropäischen Sicherheitsinteressen Rechnung trage (Wörner), was von den anderen Parteien bestritten wurde. Zugleich versprachen sich führende Unionspolitiker durch die Beteiligung deutscher Unternehmen eine Teilhabe am technologischen Fortschritt. Eine ursprünglich als Ergänzung zu SDI gedachte Europäische Verteidigungsinitiative (EVI) wurde daraufhin in der Union nicht mehr weiterverfolgt. Die FDP nahm zwar nie grundsätzlich Stellung gegen SDI, warnte jedoch aus bündnis- und entspannungspolitischen Gründen vor einer staatlichen Beteiligung der Bundesrepublik an diesem Programm, und setzte deshalb einen Vertrag durch, mit dem die wirtschaftlich-technologischen Interessen der westdeutschen Industrieunternehmen gesichert werden sollten, die sich an SDI beteiligen wollten. Die SPD äußerte stets grundsätzliche Bedenken gegen SDI und trat auch im Bundestagswahlkampf 1987 mit der Forderung auf, den Kooperationsvertrag zu lösen. Die Grünen waren sowohl gegen SDI als auch gegen EVI und von daher selbstverständlich auch gegen eine deutsche Beteiligung – und sei es nur von Industrieunternehmen – an derartigen Programmen. Die Praxis der drei seit dem Abschluß des Kooperationsvertrages vergangenen Jahre zeigt überdies, daß das Interesse der USA an einer deutschen Beteiligung recht gering war, so daß das ganze Unternehmen mehr oder weniger zum Flop wurde.

EUREKA

Die FDP sah im europäischen Technologieprogramm EUREKA eine Möglichkeit, die europäische Kooperation über die EG-Grenzen hinaus zu fördern. EUREKA wurde auch von der CDU/CSU eindeutig befürwortet, während in der SPD nur insofern Bedenken geäußert wurden, daß es zu sehr auf die Großtechnologie und zu wenig auf Forschungsanstrengungen zum Umweltschutz und zur Humanisierung der Arbeitswelt angelegt ist. Die Grünen halten die bei EUREKA angelaufenen Forschungsprogramme für militärisch nutzbar und sprechen sich deshalb auch gegen dieses Programm aus.

Defensivorientierung der Militärstrategie

Parallel zur Frage der Entnuklearisierung wird in der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte die Möglichkeit einer eindeutiger defensiv orientierten konventionellen Militärstrategie diskutiert. Sowohl die Unionsparteien als auch die FDP gehen davon aus, daß die NATO rein defensiv orientiert sei. Während die CDU/CSU deshalb schon die Frage für überflüssig hält, spricht die FDP die Gefahren, die von der Wechselseitigkeit der Bedrohungswahrnehmung ausgehen, in ihrem jüngsten Programm zumindest an. Die SPD ist insgesamt zwar auch noch nicht so weit, sagen zu können, wie ein wirksames und unmißverständliches Defensivkonzept auszusehen hat, aber sie hat immerhin schon den Wegweiser aufgerichtet, der zu einer „Strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ weist. Bei den Grünen herrscht in der Frage der Defensivverteidigung insofern noch kein Konsens, als es eine alte Vorliebe für die soziale Verteidigung als eindeutig defensivem Gegenstück zu allen Formen der militärischen Verteidigung gibt, jedoch auch eine Strömung, die eine sozialdemokratische Militärreform akzeptieren könnte, wenn dabei sichergestellt wäre, daß die Atomwaffen beseitigt würden.

Gesamteuropäische Perspektiven

Alle Parteien neigen zu einem verschwommenen Europabegriff, so daß nicht immer gleich klar ist, wann von West- oder von Gesamteuropa die Rede ist. Alle sehen aber auch das Problem, daß der westeuropäische Integrationsprozeß allein den Frieden in Gesamteuropa nicht bringen oder sichern wird. Die Brüche zwischen der west- und gesamteuropäischen Perspektive werden jedoch unterschiedlich deutlich wahrgenommen und sehr verschiedenartig „gekittet“, wobei obendrein das Problem der deutschen Teilung und des Umgangs mit der deutschen Frage noch mit hineinspielt. Die Unionsparteien halten die Ausstrahlung des westeuropäischen Zusammenschlusses – und nicht nur des kommenden Binnenmarktes – für so groß, daß eines fernen Tages ganz Europa davon angezogen und die europäische Teilung dadurch überwunden werden wird, daß sich die noch nicht zur EG gehörenden ost-, mittel- und südeuropäischen Länder der Gemeinschaft anschließen werden, die dann zu einer gesamteuropäischen Union wird, die es den USA und der UdSSR ersparen könnte, sich „in Europa hautnah und hochgerüstet gegenüberzustehen“ (Dregger). Die FDP glaubt demgegenüber, durch „Stabilisierung und Vertrauen, Kooperation und gegenseitige Interessenverflechtung“ zu einer europäischen Friedensordnung gelangen zu können. Nicht sehr weit davon entfernt ist auch das Modell der „Gemeinsamen Sicherheit“ angesiedelt, das die SPD mit Blick auf Gesamteuropa und die beiden Supermächte vertritt. Die Grünen schließlich wollen die Ost-West-Spannungen durch die Auflösung der Blöcke überwinden.

»Deutschlandpolitik«

Für alle Parteien haben die auf Gesamteuropa bezogenen Überlegungen auch deutschlandpolitische Implikationen. Während sich die drei traditionellen Parteien noch so weit einig sind, daß es ohne eine Überwindung der Teilung Europas und die Herstellung einer gesamteuropäischen Friedensordnung keine Fortschritte in der „Deutschen Frage“ geben könne, verlangen die Grünen von der Bundesrepublik die Selbstanerkennung als Staat bei gleichzeitiger Anerkennung der DDR, d.h. die Schließung der „Deutschen Frage“. Für die Unionsparteien gibt es eine verschwommene Vision, in der gleichzeitig die Teilung Europas überwunden und die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt wird, was in etwa einem Gesamteuropa der Vaterländer gleichkäme, obwohl man vorher in Westeuropa auf eine eher bundesstaatliche Ordnung hinsteuert. Die Sozialdemokraten haben demgegenüber die Vision eines Gesamteuropas, in dem die Grenzen, also auch die zwischen den beiden deutschen Staaten, bedeutungslos werden. Die FDP nimmt insofern eine Mittelstellung ein, als sie einerseits im Rahmen der KSZE das Ziel erreichen will, die Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten „überflüssig zu machen und damit die Trennung für die Menschen zu überwinden“, und weil sie in demselben Programm „für ein geeintes Deutschland in einer europäischen Friedensordnung“ eintritt.

Status von West-Berlin

Eng verbunden mit der Deutschlandpolitik ist auch die Frage nach dem zukünftigen Status von West-Berlin. Aus der Einheitsvision der Unionsparteien ergibt sich logisch, daß sie die Option, Berlin wieder zur Hauptstadt zu machen, hierin einbettet. Bis dahin soll die Viermächteverantwortung und die Präsenz der westalliierten Streitkräfte erhalten bleiben. Die SPD sucht nach Bedingungen, durch die West-Berlin trotz seiner exponierten Lage den Status eines elften Bundeslandes erlangen könnte. Egon Bahr sieht als Voraussetzung hierfür, daß die ehemaligen Kriegsgegner mit der Bundesrepublik und der DDR Friedensverträge schließen. Die FDP möchte der Stadt eine neue Rolle zuteilen: sie soll eine „Brückenfunktion“ zwischen EG und RGW wahrnehmen. In dieser Brückenfunktion ist sich die West-Berliner Alternative Liste mit der FDP einig, ansonsten will sie im Gegensatz zur CDU die Hauptstadtoption fallen lassen, will West-Berlin auch nicht zum elften Bundesland, in dem die Bundeswehr die Aufgaben der Alliierten Streitkräfte übernähme, werden lassen, sondern will diese Streitkräfte ersatzlos auf einen symbolischen Rest reduziert haben.

Konsens und Dissens

Lassen Sie mich nun ein Fazit aus dieser Synopse ziehen und überlegen, welche Folgerungen wir aus der Bestandsaufnahme für die Realisierbarkeit einer zukunftsweisenden Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und durch sie in Europa ableiten können: In einer Zeit, in der in der breiten Öffentlichkeit das Unbehagen über die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik zunimmt, zeigen die Bundestagsparteien ein breites Spektrum von Vorstellungen, wie die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik verbessert werden könnten. Zugleich wird deutlich, daß in einer Reihe von Fragen Mehrheit und Minderheit bzw. Minderheiten nicht dem Schema hie Regierungskoalition, dort Oppositionsparteien entsprechen. In einigen Punkten reicht der Konsens – stärker als zur Zeit der „Nachrüstungs“-Debatte – über die Koalition hinaus und umfaßt weite Teile der SPD, wenn nicht gar diese Partei ganz. In anderen Punkten stehen nicht die Grünen, sondern der rechte Flügel der Unionsparteien sozusagen im „Abseits“. In wieder anderen – und das sind nicht wenige – liegen SPD und FDP auch sechs Jahre nach dem Ende der sozialliberalen Koalition noch näher beieinander als die Liberalen und ihre vorwiegend aus wirtschaftspolitischen Gründen gewählten Koalitionspartner. Wechselnde Mehrheiten hat es dennoch bisher nicht im Bundestag gegeben. Allerdings scheint dies nach der Debatte um die Tornado-Exporte am 27. Januar 1989 nicht mehr völlig ausgeschlossen. Vor allem könnte die FDP nach ihrer West-Berliner Wahlniederlage dazu veranlaßt sein, sich außen- und sicherheitspolitisch wieder stärker zu profilieren.

Konturen einer »mehrheitsfähigen« Sicherheitspolitik

Welches könnten nun aufgrund der Bestandaufnahme die Inhalte sein, die sowohl dem Kriterium zukunftsträchtig als auch dem Kriterium prinzipiell mehrheitsfähig zu sein entsprächen? Dabei heißt „prinzipiell mehrheitsfähig“, wenn das in Art. 38,1 GG niedergeschriebene freie Mandat der Abgeordneten von diesen auch wahrgenommen würde.

  1. Die Bundesrepublik bleibt in der NATO, setzt dort ihr Gewicht aber für eine Linie ein, die das abrüstungspolitische Entgegenkommen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten positiv beantwortet und z.B. solange keine Modernisierungsvorbereitungen oder Kompensationsmaßnahmen akzeptiert, wie mit den WVO-Staaten erfolgversprechend über die konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung verhandelt wird.
  2. Die WEU wird als ein primär politischer westeuropäischer Pfeiler der NATO ausgebaut. Hierzu werden auch die bisher noch nicht daran beteiligten europäischen NATO-Partner zur Mitarbeit eingeladen. Es wird davon abgesehen, Eingreifstreitkräfte der WEU für Einsätze außerhalb des NATO-Bereichs zu schaffen. Es sollte allerdings überlegt werden, inwieweit gemeinsame WEU-Streitkräfte der UNO unterstellt werden könnten, an denen dann auch die Bundesrepublik beteiligt wäre.
  3. Demgegenüber wird die politische Integration der EG/EPZ nicht auf den Verteidigungsbereich ausgedehnt. Diese Beschränkung erfolgt vor allem, um später den neutralen Rest-EFTA-Ländern oder auch RGW-Staaten die Mitgliedschaft bzw. die Assoziierung zu ermöglichen.
  4. Bei den Beziehungen zu Frankreich sollte darauf geachtet werden, daß keine Exklusivität entsteht, sondern daß die verschiedenen Gremien etc. stets für weitere westeuropäische Länder offen bleiben.
  5. Sofern die sowjetischen Ankündigungen zur Reduzierung ihrer Truppenkontingente in Ost-Mitteleuropa realisiert werden, braucht sich die Bundesrepublik amerikanischen Überlegungen zur Verringerung ihrer Truppenpräsenz in Westeuropa nicht zu verschließen. Ob sich eine Mehrheit fände, die eine solche Verringerung als westliche Gegen-Vorleistung empfehlen würde, erscheint jedoch zweifelhaft.
  6. Was die nukleare Abrüstung betrifft, so spricht vieles dafür, daß wenigstens im Bereich der nuklearen Artillerie eine Null-Lösung mehrheitsfähig wäre und eine 80-prozentige Reduzierung in diesem Bereich sogar als einseitige Maßnahme des Westens vorgeschlagen werden könnte.
  7. Der oben genannten WEU-Perspektive entspricht es, wenn diese keine atomaren Ambitionen verfolgt. Die Bundesrepublik verzichtet auch über das Jahr 1955 hinaus auf Atomwaffen und engagiert sich in diesem Sinne auch für eine Verlängerung des NV-Vertrages.
  8. Hinsichtlich der Schaffung von atom- oder chemiewaffenfreien Zonen in Zentraleuropa ist keine Mehrheit absehbar. Möglicherweise werden diese Konzepte jedoch auf andere Weise obsolet.
  9. Der Trend zu einer westeuropäischen Rüstungskooperation scheint nicht umkehrbar zu sein. Die Debatte um die Tornado-Exporte und deren bayrische Finanzierung zeigt jedoch, daß es eine Mehrheit gäbe, um Richtlinien zu verabschieden, die die deutschen Exportrestriktionen wieder verschärfen und darauf abzielten, ihre Umgehung durch Kooperation zu verhindern.
  10. Die Frage einer deutschen Beteiligung an SDI hat sich wohl von selbst erledigt, möglicherweise aber nicht die einer erweiterten europäischen Luftabwehr. Hier dürfte es allerdings eine Mehrheit geben, die sich gegen Vorbereitungen auf diesem Feld wendet, solange die KRK-Verhandlungen Anlaß zur Hoffnung geben, daß dort auch die Luftangriffskapazitäten reduziert werden.
  11. Es liegt sicher im Sinne einer breiten parlamentarischen Mehrheit, daß EUREKA ein ziviles Programm bleibt. Fraglich ist allerdings, ob die Kontrollmöglichkeiten des Parlaments ausreichen, um dies sicherzustellen.
  12. Allgemeine Erklärungen, daß die Militärstrategie beider Seiten ausschließlich defensiv orientiert sein sollen, gehören zur gängigen Münze auf allen Seiten des Parlaments. Konkrete Veränderungen dürften allein schon deshalb auf absehbare Zeit ausbleiben, weil noch viel zu viele Konzepte dafür im Gespräch sind, so daß sich gar nicht abschätzen läßt, welches davon mehrheitsfähig sein könnte.
  13. Die gesamteuropäischen Perspektiven dürften sich auf den weiteren Ausbau des KSZE-Prozesses konzentrieren. Es ist jedoch absehbar, daß daneben im wirtschaftspolitischen Bereich die EG mit dem in vier Jahren kommenden Binnenmarkt schon jetzt eine Magnetwirkung ausübt, die auch die RGW-Staaten erfaßt hat. Wenn auf diesem Wege die Teilung Europas überwunden und nicht vertieft werden soll, muß zweierlei geschehen, das auch im Bundestag mehrheitsfähig sein könnte: zum einen darf, wie schon unter 3. ausgeführt, die EG und die EPZ nicht mit der Verteidigungspolitik überfrachtet werden; zum anderen sollte die Bundesrepublik darauf hinwirken, daß im Rahmen der KSZE ein von der EG ausgehendes strukturelles Modernisierungsprogramm für die RGW-Länder geschaffen wird.
  14. Es ist davon auszugehen, daß das Ziel der nationalen Einheit Bestandteil der Präambel des Grundgesetzes und damit die „Deutsche Frage“ zumindest verbal offen bleibt. Ein Konsens in Richtung Anerkennung der Zweistaatlichkeit dürfte umso schwerer fallen, je mehr sich die Unionsparteien veranlaßt sehen, nationalkonservative Wählerschichten nicht nach rechtsaußen abdriften zu lassen. Unbeschadet dessen können die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten weiter ausgebaut werden. Allerdings wird die für alle Nachbarstaaten positive Signalwirkung, die von einer endgültigen Anerkennung der Zweistaatlichkeit ausginge, weiterhin auf sich warten lassen.
  15. Was West-Berlin betrifft, so ließe sich ein innenpolitischer Konsens wohl am ehesten dahingehend erreichen, der Stadt im KSZE-Rahmen eine Brückenfunktion zukommen zu lassen. Die Organisation des oben genannten strukturellen Modernisierungsprogramms für die RGW-Länder könnte sogar am sinnvollsten von West-Berlin aus geleistet werden.

Ein Wunschprogramm zukunftsweisender Sicherheitspolitik würde zweifellos mehr und zum Teil auch andere Punkte enthalten. Doch diese fünfzehn scheinen mir auf die Westeuropa-, Gesamteuropa- und Deutschlandpolitik bezogen diejenigen zu sein, für die sich innerhalb des Bundestages Mehrheiten finden ließen, wenn – wie gesagt – die Abgeordneten bereit wären, ihre Einsichten höher zu bewerten als die Fraktions- und Koalitionszwänge.

Bei vorstehendem Beitrag handelt es sich um einen Vortrag, den B. Meyer bei der Tagung der VDW-Studiengruppe »Europäische Sicherheit« am 13. Februar 1989 in Hamburg gehalten hat. Einiges mag durch die jüngste Entwicklung überholt sein; es bleibt eine nützliche Übersicht.

Dr. Berthold Meyer arbeitet bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite