W&F 2009/1

Bundeswehreinsatz im Inland?

von Burkhard Hirsch

Im Jahr 2008 gab es erneut verschiedene politische Versuche, die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Inland auszuweiten; derartige Versuche stellen einen Schritt zur Erweiterung der mit den Notstandsgesetzen erlassenen Möglichkeiten dar. Im Rahmen der Festveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen von »Wissenschaft & Frieden« nahm Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch, ehemaliger NRW-Innenminister und Bundestagsvizepräsident a.D., zu dieser Thematik Stellung. Er hat uns freundlicherweise sein Vortragsmanuskript zur Verfügung gestellt.

Vor über 50 Jahren habe ich versucht, an der Philipps-Universität zu Marburg über den Wandel des Kriegsbegriffs und die Rechtsnatur der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu promovieren. Das misslang, weil die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, die von Frankreich vorgeschlagen worden war, in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Diesmal hat mich die Bundeskoalition mit dem Vorschlag überrascht, sie durch eine Verfassungsänderung zum Einsatz der Bundeswehr im Inland zu ermächtigen.

Um so mehr freut es mich, dass ich heute über die Bundeswehr hier in diesem altehrwürdigen Rathaus reden kann, das ich nach vielen Studentenjahren in dieser großartigen Stadt heute zum ersten Mal betreten konnte.1

Bekenntnis

Wenn man kritische Bemerkungen machen will, sollte man zuvor ein Bekenntnis ablegen. Auch Liberale betrachten den Staat nicht als einen Nachtwächter, der den Mäusen gelassen zusieht, wenn sie auf den Tischen herumtanzen. Denn auf den schwachen Staat folgt immer der Ruf nach dem starken Mann, nach dem Retter im Chaos. Der Bürger fordert, erwartet und verlangt, dass der Staat ihn und seine Rechte wirksam schützt. Gleichwohl gilt die Einsicht des Kirchenvaters Augustinus, dass der Staat sich von einer organisierten Räuberbande nur durch das Recht unterscheidet. Der Staat soll den Bürger schützen, indem er die Rechtsordnung durchsetzt. Er darf sich nur der Mittel bedienen, die ihm die Rechtsordnung zu diesem Zweck einräumt.

Das ist, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betonen musste, auch bei der Bekämpfung schwerer terroristischer Gewaltverbrechen geltendes Verfassungsrecht.2 Es formuliert: „Das gilt auch für die Verfolgung fundamentaler Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung. Die Verfassung verlangt vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Das schließt nicht nur die Verfolgung des Zieles absoluter Sicherheit aus, welche ohnehin faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen wäre. Das Grundgesetz unterwirft auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, rechtsstaatlichen Bindungen, zu denen insbesondere das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grundrechte“ gehört. „In diesem Verbot finden auch die Schutzpflichten des Staates ihre Grenze.“3

Unsere Polizisten und die Bundeswehr sind demokratisch ausgebildet. Sie sind sich bewusst, dass von ihnen Rechts- und Verfassungstreue erwartet wird. Aber das bewahrt sie nicht vor Fehlern, vor Missbrauch und vor politischen oder gesetzgeberischen Fehlentscheidungen.

Nach diesen Bekenntnissen möchte ich nun für eilige Hörer das, was ich sagen will, vorab in wenigen Worten zusammenfassen.

Verfassungswidriges Ermächtigungsgesetz

1. Das Grundgesetz erlaubt den Einsatz der Bundeswehr im Inland nur in wenigen Fällen. Der »war on terror« gehört dazu nicht. Diese Formel und die Ausrufung des Bündnisfalles der NATO belebten eine alte Illusion, man könne den Terrorismus mit einer Art Krieg besiegen. Das ist nie gelungen. Darum war es von großer Bedeutung, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Luftsicherungsgesetz4 ausdrücklich betonte, dass

Art. 87a Abs. 2 GG über den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung nach dem Gebot der strikten Texttreue auszulegen ist, also nicht den üblichen Auslegungskünsten unterworfen werden darf,

die Bundeswehr bei der Katastrophenhilfe nach Art. 35 GG keinen Kampfeinsatz, sondern Unglückshilfe leistet und daher dem Polizeirecht des jeweiligen Bundeslandes unterworfen ist, und schließlich dass

es in einem Rechtsstaat schlechthin undenkbar ist, ihn gesetzlich zur vorsätzlichen Tötung Unschuldiger zu legitimieren. Auch durch eine Verfassungsänderung kann also der Einsatz von militärischen Waffen nicht erlaubt werden, die zur sicheren Tötung Unbeteiligter als zwar bedauerlicher, aber leider unvermeidbarer Kollateralschaden führen würden.

Der Rettungstotschlag ist verboten, auch wenn er mit militärischen Waffen erfolgen soll. Der Verteidigungsminister erklärte zwar ungerührt, er werde notfalls weiter den Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges »befehlen«, ohne zu begreifen, dass er da nichts mehr zu befehlen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat es zu seinem Erstaunen offen gelassen, ob er sonst vor einem Schwurgericht wegen Totschlags landen würde.

Die einfältigste Rede, die dazu im Bundestag gehalten wurde, stammt von dem Abgeordneten Dr. Hans Peter Uhl, der unter dem Beifall seiner Fraktion empört fragte, man müsse doch etwas tun können, wenn sich auf dem Marienfeld zu Köln Hunderttausende in Erwartung des Papstes zu einer Messe eingefunden hätten und sich ein von Terroristen entführtes Flugzeug nähere! Ich habe ihn gefragt, wie er denn entscheiden würde, wenn sich im entführten Flugzeug der Papst befände. Leider hat er mir nicht geantwortet.

2. Seit diesem Urteil wird mit allen rhetorischen Mitteln versucht, einen vermuteten terroristischen Angriff zu einem Fall der Landesverteidigung zu machen, sei es nach den vermuteten Motiven der Täter oder dem Umfang des befürchteten Schadens oder wenn das entführte Flugzeug wenigstens aus dem Ausland eingeflogen ist.5 Das alles scheitert schon an der Feststellung des BverfG, dass ein Attentat dieser Art weder die Rechtsordnung noch die Existenz des Staates gefährde. Wer versucht, das Urteil mit einer Neudefinition des Begriffes Verteidigung zu umgehen, verlässt den Boden der Verfassung.6 Die Verfolgung terroristischer Straftäter ist kein Krieg. Sie sind keine Soldaten, sondern Verbrecher.

3. Die von Vertretern der Koalition kürzlich vorgeschlagene Verfassungsänderung würde zu einer heillosen Vermischung von Unglückshilfe und Kampfeinsatz führen. Sie wäre im Kern ein Ermächtigungsgesetz. Der Verteidigungsminister könnte, wenn er das für notwendig hält, durch kein Gesetz begrenzte Kampfeinsätze der Bundeswehr im Innern anordnen, wenn er einen besonders schweren Unglücksfall befürchtet, ohne jede Kontrolle durch das Parlament oder durch wen auch immer. Das ist ein Bruch mit allen bisherigen Verfassungstraditionen und empörend in seiner Maßlosigkeit.

Wir stehen immer wieder vor der Frage, ob und welche Rechte und Freiheiten wir um der Sicherheit willen aufzugeben bereit sind, ob und wie weit wir uns von den Gegnern unserer Rechtsordnung und unserer Art zu leben, dazu bringen lassen, gerade das aufzugeben, was wir verteidigen sollten. Das möchte ich nun mit Ihnen etwas näher betrachten.

Innenpolitische Aufrüstung

Es gibt offenbar zwei Entwicklungslinien, die für unser Thema bedeutsam sind, nämlich zum Einen das nahezu unbegrenzte Sicherheitsbedürfnis und zum Anderen, die Bundeswehr durch neue Aufgaben als normales politisches Instrument zu legitimieren.

1. Das Sicherheitsbedürfnis des normalen Bürgers steht in keinem realistischen Verhältnis zu den Gefahren durch Kriminalität, sowohl durch Terrorismus wie durch konventionelle Straftäter. Eine breite Öffentlichkeit schätzt die Kriminalität weit überhöht ein und verkennt zunehmend die kriminologische Wirklichkeit. Das hat Gründe.

Wer sich als Retter profilieren und unentbehrlich machen will, der muss sein Opfer davon überzeugen, dass es in einer Welt dräuender apokalyptischer Schrecken und Gefahren lebt. »Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen!« Da ist man verloren, wenn man sich nicht einer tatkräftigen Regierung anvertrauen kann, geborener Retter im »war on terror, on drugs, on organized crime«, überall in einem Krieg, der nicht erklärt wurde und der ohne Frieden sein wird.

Wir haben in den letzten 40 Jahren unter dem Stichwort einer neuen »Sicherheitsarchitektur« eine innenpolitische Aufrüstung ohnegleichen nach immer denselben Regeln erlebt. Ein Staat, der aufgerüstet werden soll, braucht zunächst Gegner. Es sind immer welche da, Mafia, Geldwäscher und kriminelle Schlepperbanden, Pädophile und Rauschgifthändler, Organisierte Kriminalität, Wirtschaftsflüchtlinge und vor allem Terroristen, terroristische Vereinigungen nationaler, internationaler und transnationaler Art, Islamisten, Hassprediger und ganz allgemein »Gefährder« und »Schläfer«, also Noch-nicht-täter vielleicht mit bösen Gedanken. Zu allen diesen Tätern gehören »Sympathisanten«, Mitläufer und »Kontakt- und Begleitpersonen«, ihr eingeweihtes oder ahnungsloses menschliches Umfeld. Terroristen sind die apokalyptischen Reiter der Reaktion.

»Wo die Gefahr wächst, da wächst das Rettende auch«. Die innenpolitische Aufrüstung führte von der ständig wachsenden Ausdehnung heimlicher und präventiver Überwachungsmaßnahmen durch Polizei und »Dienste« bis zur vorbeugenden Verwanzung der PC’s und der Sammlung aller Telekommunikationskontakte aller EU-Bürger, einschließlich der Standorte ihrer stand-by-geschaltenen Handys, auf mindestens sechs Monate ohne konkreten Anlass, nur mal eben so, auf Vorrat, um sie bei Bedarf zur Strafverfolgung, Gefahrenabwehr oder für nachrichtendienstliche Zwecke verwenden zu können.

Natürlich kann die Polizei in ihrer technischen und personellen Ausrüstung nicht auf dem Stand von 1970 bleiben. Eine moderne Kriminalitätsbekämpfung ist ohne Datenverarbeitung nicht mehr möglich. Aber das berechtigt nicht dazu, traditionelle Rechtsgrundsätze über Bord zu werfen oder bis zur Unkenntlichkeit zu durchlöchern, wie die Unschuldsvermutung, die Gedankenfreiheit, das Beichtgeheimnis, das Zeugnisverweigerungsrecht, das Bankgeheimnis, das Post- und Fernmeldegeheimnis, den Schutz der Wohnung vor Lausch- und Spähangriffen und vor heimlichen Durchsuchungen, den Schutz der PC’s vor heimlich installierten Wanzen, also den Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensführung.

Die Diskussion darüber, ob man wenigstens im Notfall ein bisschen foltern dürfe und ob man unser gutes Recht überhaupt auf Feinde des Rechtsstaates anwenden müsse, ist nicht nur deswegen beschämend, weil sie ganz unverhüllt geführt worden ist. Würden wir dem folgen, dann stellten wir nicht nur diese Feinde, sondern uns selbst außerhalb der Rechtsordnung. Offenbar trennt uns nur eine dünne Decke vom Rückfall in brutale Barbarei. Terrorismus ist auch eine Einladung zur Selbstzerstörung.7

2. Bei der Einordnung der Bundeswehre in die inländische »Sicherheitsarchitektur« waren deutsche Verfassungen nicht immer so zurückhaltend wie das Grundgesetz. Die Reichsverfassung von 1871 erlaubte dem Kaiser, jeden Teil des Reiches – natürlich nur außerhalb Bayerns! – als »im Kriegszustand« zu erklären. Immerhin hatte sich der spätere Kaiser Wilhelm schon im März 1848 den Namen »Kartätschenprinz« verdient und ließ das Militär auf Anforderung von »Civilbehörden« wiederholt bei Arbeitskämpfen und zur Bundesexekution auch unter Einsatz von Schusswaffen einsetzen.

Der Weimarer Reichspräsident konnte „erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ und bestimmte Bürgerrechte „außer Kraft setzen“. Dazu bestand mehr Anlass als Bereitschaft. Geholfen hat es nichts. Der dritte Reichspräsident hatte ohnehin andere Vorstellungen über die Anwendung der bewaffneten Macht.

Das Grundgesetz schwieg bis zur Notstandsverfassung von 1969. Die damalige Opposition bestand darauf, den Einsatz der Bundeswehr im Inland auf wenige Fälle zu beschränken, auf die logistische und polizeiliche Katastrophenhilfe, auf bürgerkriegsartige Vorgänge und den Objektschutz im Spannungsfall. Aufgabe der Wehrpflichtarmee sollte die in Art. 115 a GG definierte Verteidigung sein und sonst nur das, was in der Verfassung ausdrücklich zugelassen wird – eine nach dem »Gebot der strikten Texttreue« auszulegende Einschränkung.

Der Sinn ist eindeutig. Die Bundeswehr soll bei innenpolitischen Auseinandersetzungen weder als ungelernte Hilfspolizei noch nach irgendwelchen kunstvollen Auslegungen des Verfassungstextes eingesetzt werden, sondern nur mit dem ausdrücklich in der Verfassung niedergelegten Willen der Rechtsgemeinschaft. Der Bundestag war sich der Möglichkeiten des Missbrauchs bewusst. Die Bundeswehr soll den Staat und nicht die Regierung oder irgendwelche Interessen verteidigen. Man wusste auch, dass es weder die Sicherheit noch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung fördern würde, wenn man bewaffnete Militärposten nach südamerikanischem Vorbild vor U-Bahnstationen, Hotels, Banken und Supermärkte stellen würde.

Motive

Für die Bemühungen, diese Selbstbeschränkung aufzugeben, gibt es ganz unterschiedliche Motive. Da war der Feldwebel, der bei dem ersten internationalen Einsatz der Bundeswehr in Somalia aus dem eben gelandeten Flugzeug mit den Worten kletterte: „Zurück in der Familie“! Er muss eine merkwürdige Familie haben. Es ging ihm darum, endlich als vollwertiger Soldat diesen ganzen elenden historischen Ballast, die lästige »Erinnerungskeule« an Krieg und Verbrechen abzuwerfen und wieder frisch anfangen zu können. Wo die Fahne weht, ist der Verstand in der Trompete.

Andere wollen – angesichts des offensichtlichen Fehlens einer unmittelbaren militärischen Bedrohung – die Bundeswehr mit dem Hinweis auf wachsende internationale Verpflichtungen und überhaupt mit neuen Aufgaben ausstatten, um die Zweifel an der Wehrgerechtigkeit und an den inflationären Kosten der Wehrtechnologie zu beantworten.

Natürlich sollte sich die Bundesrepublik nicht aus ihren internationalen Verpflichtungen lösen. Wenn wir uns isolieren, dann würden wir von unseren Nachbarn sehr schnell nicht als Glücksfall, sondern als Bedrohung empfunden werden. Darum ist es von eminenter politischer Bedeutung, dass die Verpflichtungen aus der NATO der Verteidigung dienen. Sie kann nicht ohne Verlust ihrer Glaubwürdigkeit zu einem weltweiten Interventionsbündnis im Widerspruch zum völkerrechtlichen Gewaltmonopol des Sicherheitsrates der UN ausgedehnt werden. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.

In dem Beschluss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 6. Mai 2008 »Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland« wird jede denkbare Beeinträchtigung der ökonomischen oder ökologischen Interessen der Bundesrepublik, die Störung von Verkehrs-, Energie- und Finanzinteressen, die Offenhaltung des globalen Zugangs zu Kapital-, Absatz- oder Beschaffungsmärkten, die Energie- und Rohstoffversorgung, in gleicher Weise als Sicherheitsfrage behandelt, wie Terrorismus oder militärische Bedrohung. Zu all dem könne der Einsatz militärischer Mittel weltweit notwendig werden, auch vorbeugend. „Um Konflikten und Krisen vorzubeugen“, schreiben die Verfasser, „müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern unsere Fähigkeiten zur Prävention gezielt stärken, um kulturell und religiös angepasste Stabilisierungslösungen anbieten zu können.“ Das soll auf dem Balkan gelten, rund um das Mittelmeer und bei den Ländern „des kaukasischen, kaspischen und des zentralasiatischen Raums“ und im „Nahen und Mittleren Osten“. Auch Asien und Lateinamerika werden nicht ausgelassen. Das Völkerrecht sei diesen zentralen Herausforderungen anzupassen, nicht umgekehrt! Der Beschluss betont zwar die nötige Stärkung der internationalen Bündnisse und der Vereinten Nationen. Aber militärische Einsätze müssten auch ohne Mandat der Vereinten Nationen möglich sein. Das Papier fordert ohne Umschweife den Einsatz der Bundeswehr im Inland, die Transformation der Bundeswehr zu „flexiblen und auf Distanz verlegbaren, durchhaltefähigen Streitkräften“ und einen im Grundgesetz nicht vorgesehenen „Nationalen Sicherheitsrat“ mit Entscheidungskompetenzen.

Die Verfasser spielen mit dem Feuer: Wenn die Gefährdung oder Beeinträchtigung von Interessen zum Verteidigungsfall wird, der militärische Mittel rechtfertigen könnte, dann bedeutet das eine klare Absage an das bisherige Völkerrecht, an den in der UN-Satzung vereinbarten Gewaltverzicht und den offenkundigen Missbrauch des Rechts auf Selbstverteidigung.8

Das Papier beruht auf Überlegungen, die seit Jahrzehnten auch im Verteidigungsministerium angestellt wurden. Schon vor der Veröffentlichung des Weißbuchs 20069 hatte der Minister10 gefordert, den Begriff der Verteidigung um wirtschaftliche Interessen, zum Beispiel die Sicherung von Energielieferungen, zu erweitern und eine zivil-militärische Zusammenarbeit aufzubauen. Er hat inzwischen ohne gesetzliche Grundlage ein mit Reservisten bestücktes, bis in jeden Regierungsbezirk der Bundesländer organisiertes »SKUKdo« – Streitkräfteunterstützungskommando – als »ZMZ« – zivil-militärische Zusammenarbeit – eingerichtet, deren Aufgaben auch beim Katastrophenschutz unklar bleiben.

Entgrenzungen

Auch der Bundesinnenminister kollidiert mit der Verfassung11, wenn er terroristische, also politisch motivierte Verbrechen als »asymmetrischen Krieg« bezeichnet oder die „Auflösung des Gegensatzes von innerer und äußerer Sicherheit“ behauptet, um den Einsatz der Bundeswehr im Inland als »Verteidigung« darstellen und damit den Einsatz militärischer Waffen nach ungeschriebenem Kriegsrecht begründen zu können. „Die Verfassung“, klagte Schäuble schon 1996, „ist immer weniger das Gehege, in dem sich demokratisch legitimierte Politik entfalten kann, sondern immer stärker die Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahm legt.“12 Will er die Verfassung wie eine lästige Kette sprengen? Das ist ein bedauernswerter Offenbarungseid eines bis dahin verdienten Ministers, der für die Verfassung zuständig sein will.

Es ist äußerste Aufmerksamkeit geboten, wenn versucht wird, die Grenzen zwischen Krieg und Frieden zu verwischen und den Einsatz der Bundeswehr mit militärischen Mitteln im Inland zu erlauben. Wer erklärt da wem den Krieg? Sind Terroristen Soldaten oder Verbrecher, bei deren Bekämpfung nicht Polizei- und Strafrecht, sondern zu Lasten der Bevölkerung allgemeines, nicht kodifiziertes Kriegsrecht gelten soll?

Daran ändert nichts, dass sich die Vereinigten Staaten nach dem 11.09.2001 auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta sowie auf zwei Resolutionen des Sicherheitsrates13 und auf die Feststellung des Bündnisfalls durch den Generalsekretär der NATO berufen. Die Resolutionen verurteilen zwar die Anschläge als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, autorisieren aber keine militärische Gewaltanwendung und enthalten keinen Anhaltspunkt dafür, dass nichtstaatliche Gewalt das Selbstverteidigungsrecht auslösen könnte.14 Der Bündnisfall der NATO ist kein Verteidigungsfall nach Art. 115 a GG und befreit die Mitgliedsstaaten natürlich nicht von den Regeln der eigenen Verfassung.

Ebenso ist es schlicht falsch, wenn neuerdings versucht wird, jedenfalls den Einsatz der Luftwaffe damit zu begründen, dass sie auch im Frieden vorsorglich dem Kommando der NATO unterstellt worden ist. Nach den dazu ausdrücklich getroffenen, zum Teil nicht veröffentlichten vertraulichen Vereinbarungen gilt das bei einem sog. »renegade« – also irregulären – Flug nur so lange, wie nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei ihm um ein militärisches Kampfflugzeug oder um einen Kampfhubschrauber handelt.

Handelt es sich um ein nichtmilitärisches Flugzeug, dann muss die Kommandogewalt unverzüglich von den deutschen Behörden angefordert und vor jeder weiteren Entscheidung auf das sog. »NLZFSiLuRa« – Nationales Leit- und Führungszentrum Sicherheit im Luftraum – in Kalkar übertragen werden, das nur nach deutschem Recht handeln kann.

Kriegsrecht oder nicht? Hier geht es nicht um juristischen Formalismus. Völkerrechtlich geht es um die Vorstellung, eigene Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen zu können. Und innerstaatlich geht es um die Loslösung von mühsam erkämpften rechtsstaatlichen Begrenzungen staatlichen Handelns bis hin zu dem Anspruch der Regierung, sogar über das Leben der Bürger verfügen zu können, wenn sie es für sinnvoll hält, also opportunistisch.

Möglicherweise kommt der Innenminister mit dem Vertrag von Lissabon, den der Deutsche Bundestag nahezu im parlamentarischen Blindflug verabschiedet hat, seinem Ziel einen Schritt näher. In der »Solidaritätsklausel« des Art. 222 AEUV versprechen sich die Mitgliedsstaaten auch den Einsatz militärischer Mittel im Inland zur Abwehr und zum Schutz vor terroristischen Bedrohungen, vorbeugend und ohne jede parlamentarische Beteiligung. Bei Anfragen hat die Bundesregierung im wesentlichen auf das Grundgesetz verwiesen. Aber schon wird gefordert, die Bundesrepublik habe sich durch den Vertrag verpflichtet, ihre Verfassung dieser europäischen Regelung anzupassen.15 Denn mit dem Vertrag sei statuiert, dass es sich um ein transnationales, nur gemeinsam zu lösendes Problem handele.

Kommt die Grundgesetzänderung?

Der nächste Schritt ist offenbar die nun von der gegenwärtigen Koalition geplante Verfassungsänderung über den Einsatz der Bundeswehr im Inland in einem neuen Art. 35 Abs. 4 und 5 GG. Man muss ihren juristischen Text in normales Deutsch übersetzen, damit klar wird, was er eigentlich bedeuten würde: Wenn der Bundesverteidigungsminister – oder vielleicht der Bundesminister des Innern? – der Auffassung ist, dass ein besonders schwerer Unglücksfall droht und dass zu seiner Abwehr polizeiliche Mittel nicht ausreichen, dann soll er entscheiden können, ob er die Bundeswehr im Inland mit militärischen Mitteln einsetzen und den Ländern Weisungen erteilen will. Das Parlament oder der Verteidigungsausschuss haben dabei nichts zu suchen.

Es soll weder darauf ankommen, ob der besonders schwere Unglücksfall unmittelbar bevorsteht, noch wie sicher sich der Minister bei seiner Prognose ist, noch darauf, ob er das Unglück als Folge eines konkreten Angriffs oder im Gefolge eines Massenprotestes gegen ein politisches Top-Ereignis erwartet. Es kommt auch nicht darauf an, ob er schwere Maschinengewehre, Raketen oder Sprengkörper einsetzen lässt, Panzer, Tornados oder Kriegsschiffe. Es soll auch nicht darauf ankommen, ob der Einsatz der militärischen Mittel nach Art und Umfang mit großer Sicherheit auch unbeteiligte Bürger töten lassen wird.

Das ist der eigentliche Trick des Vorschlags: Während die Polizei an das Polizeirecht gebunden ist, das exakt bestimmt, welche Mittel die Polizei einsetzen und wann sie von der Schusswaffe als letztem Mittel Gebrauch machen darf, gibt es solche Bestimmungen für Kampfeinsätze der Bundeswehr im Inland und für die Art der dabei einsetzbaren Waffen nicht.16 Es ist eine Ermächtigung auf Leben und Tod.

In Wirklichkeit soll die Verfassungsänderung den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inland von den Voraussetzungen des Inneren Notstands gemäß Art. 87 a Abs. 4 in Verbindung mit Art. 92 Abs. 2 GG lösen und in das Ermessen des Verteidigungsministers stellen, wenn der annimmt, dass jemand – aus welchem Motiv oder Anlass auch immer – ein besonders schweres Unglück herbeiführen will, das polizeiliche Fähigkeiten übersteigt. Die öffentliche Verharmlosung dieses Vorschlages ist unerträglich.

Diesem Vorhaben ist die Möglichkeit des eklatanten Missbrauchs immanent. Die Bundeswehr wird zum innenpolitischen Nothelfer. Die massiven Einsätze der Bundeswehr mit militärischen Mitteln zum Schutz der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 mit 3.200 Soldaten, 24 Spürpanzern »Fuchs« und 8 Pionierpanzern »Dachs«17 und zum Schutz des G8-Gipfels in Heiligendamm mit 2.500 Soldaten, Minenjagdbooten, 9 Panzerspähwagen »Fennek« und 14 »Tornado«-Kampfflugzeugen18 waren unrühmliche Anfänge, nachdem wir bis dahin allen Versuchungen widerstanden hatten und die Bundeswehr im Inland nur mit ihren personellen und ihren pioniertechnischen Möglichkeiten bei Katastrophen oder Unglücksfällen eingesetzt haben.

Es gilt auch hier, nicht erst den Anfängen, sondern dem bitteren Ende zu wehren. Wer Notstand predigt, wird Krieg ernten. Innere Sicherheit ist kein Selbstzweck. Sie muss dem inneren Frieden einer Gesellschaft dienen und nicht dazu, sie in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Die Beschränkung der Bundeswehr als einer Wehrpflichtarmee auf die Aufgabe der Verteidigung gegen militärische Angriffe war eine elementare Grundentscheidung der Verfassung, die man weder tagespolitischen Wünschen, wirtschaftlichen Interessen oder der Haushaltslage der Bundesländer unterwerfen kann. Wir wissen, dass es Terrorismus gibt. Aber wir verlieren deswegen nicht die Fassung. Und wir sollten auch nicht bereit sein, seinetwegen die Verfassung zu verlieren.

Anmerkungen

1) Vortrag in Anlehnung an den Aufsatz »Nothelfer Bundeswehr?« in: Verfassungsreport 2009.

2) BverfG (Rasterfahndung) NJW 06, 1939 ff, TextZ. 126.

3) BverfG (Rasterfahndung) a.a.O. TextZ. 128, 129. Vgl. aus der inzwischen fast uferlosen Literatur insb. Lange (2005): Eckpunkte einer veränderten Sicherheitsarchitektur f.d. Bundesrepublik, Gutachten, Marburg/Duisburg; Linke: Innere Sicherheit durch die Bundeswehr? Zu Möglichkeiten und Grenzen der Inlandsverwendung der Streitkräfte, Arch. D. öff. Rechts 04, 489ff.; Pütter (2008): Im Feld der Inneren Sicherheit. Über den Vormarsch der Bundeswehr in der Heimat, CILIP-Bürgerrechte und Polizei Nr. 2/2008, S.32 ff.

4) BverfGE 115, 118 ff.

5) Vgl. etwa Wiefelspütz, ZRP 07, 19; ders. NZWehrr 05, 146 ff.; Gramm: Die Bundeswehr in der neuen Sicherheitsarchitektur, DV 08, 3275 ff.; 394, 396 u. d. d. Zit.; a.A. überzeugend Kutscha: Terrorismusbekämpfung jenseits der Grundrechte?, Recht und Politik 06, 202 ff.; ders.: »Verteidigung« – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, Krit. Justiz 04, 228 ff.

6) Vgl. Arnold: Die Diskussion über das neue Weißbuch. Verteidigungsfall auch bei Terroranschlägen? RuPol. 06, 136 ff.

7) Daase (2007): Terrorismus als asymmetrische Gewaltstrategie, in: Graulich, Simon (Hrsg.): Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit, Akademie-Verlag, S.91 ff. (96).

8) Vgl. dazu auch Dörr: Gewalt und Gewaltverbot im modernen Völkerrecht, aus politik und zeitgeschichte B 43/2004, S.14 ff.; Paech: Epochenwechsel im Völkerrecht?, ebd. S.21 ff. mit zahlreichen Hinweisen auf die gegenwärtige Völkerrechtspraxis.

9) Vgl. insb. Weißbuch 2006, S.101 ff.

10) So z.B. BMV Jung in der FAZ vom 02.05.2006 und in der Berliner Zeitung vom 16.06.2006.

11) a.A. Münkler (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie.

12) Schäuble: Weniger Demokratie wagen? Die Gefahr der Konstitutionalisierung der Tagespolitik, FAZ vom 13.09.1996, S.12.

13) Resolutionen Nr. 1368 vom 12.09.2001 und Nr. 1373 vom 02.10.2001; Erklärung des NATO-Generalsekretärs Lord Robertson vom 02.10.2001.

14) Vgl. Kutscha: Terrorismusbekämpfung, a.a.O.; Ruffert, ZRP 2002, 247 (250); Paech, Blätter für deutsche und internationale Politik 2001, S.1516.

15) Vgl. Schmidt-Radefeldt: Der europäische Verfassungsvertrag u.d. militärische Terrorismusbekämpfung, UBWV 05, S.1 ff.; ders.: Innere Sicherheit und Streitkräfte, UBWV 06, S.161 ff.

16) Das UzwG gilt nicht für Kampfeinsätze der Bundeswehr und das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Soldaten der Bundeswehr (UZwGBw) lässt den Waffengebrauch überhaupt nur bei Angriffen gegen Einrichtungen der Bundeswehr zu.

17) Vgl. BT-Drucksache 16/1416 vom 10.05.2006.

18) Vgl. BT-Drucksache 16/6317 vom 10.09.2007; Kutscha, Blätter für deutsche und internationale Politik 07, 905. Gramm behauptet, Tornados ohne Bordkanonen seien keine militärischen Mittel! Vgl. Gramm a.a.O., S.390.

Dr. Burkhard Hirsch ist seit 1949 FDP-Mitglied; von 1975 bis 1980 war er Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und von 1994 bis 1998 Bundestagsvizepräsident. Die Humanistische Union, der er seit Jahrzehnten angehört, ehrte ihn 2006 mit ihrem Fritz-Bauer-Preis.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2009/1 60 Jahre Nato, Seite