cbw-Chronologie: Juli – Dezember 1991
von cbw-infodienst
Die folgende Chronologie beruht auf der »Rolling Chronology« der »Sussex-Harvard Information Bank«, die von Dr. Julian P. Perry Robinson (Universität Sussex) erstellt wird, und auf Informationen des »Internationalen Netzwerkes für die Abrüstung chemischer und biologischer Waffen« (Großbritannien) sowie Recherche- und Archivarbeit des »Informationsdienstes zur Abrüstung chemischer und biologischer Waffen« (cbw infodienst) am Berghof-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, Berlin.
16. Juli 1991
Die sieben führenden Industrienationen (B.R.Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die Vereinigten Staaten) verabschieden auf dem Londoner Gipfel eine Erklärung, in der sie sich zur baldmöglichen Vernichtung der chemischen Waffen verpflichten. Außerdem erklären sie ihre Absicht, zu den Erstunterzeichnerstaaten einer CW-Konvention gehören zu wollen. Darüberhinaus wollen sie die Exportkontrollen verschärfen, um die Weiterverbreitung chemischer Waffen einzudämmen. (Wortlaut der Erklärung u.a. in: Europa-Archiv, Nr. 17, 10.9.1991, S. D 411ff.)
30. Juli 1991
Experten der UN-Sonderkommission (UNSCOM) berichten, sie hätten im Irak einen gewaltigen Chemiewaffenkomplex mit mehr als 46.000 Stück Munition und 3.000 Tonnen Chemikalien gefunden, die zur Produktion von chemischen Waffen geeignet seien. Damit ist das irakische CW-Arsenal etwa viermal größer als ursprünglich vom Irak angegeben (Vgl. Informationsdienst 3/91, S. 23, 19. April 1991). Allerdings handelt es sich, nach Angaben des UNSCOM-Leiters Ekeus, bei einem Großteil der entdeckten Kampfstoffe um „relativ ungefährliche“ Reizgase (Tränengase). (SZ, 1.8.91)
1. August 1991
Im Zusammenhang mit der illegalen Lieferung einer Giftgasanlage nach Libyen wird der ehemalige Geschäftsführer der Firma Salzgitter Industriebau GmbH (SIG), Andreas Böhm, festgenommen. Böhm soll von Mitte 1984 bis Ende 1988 an Planung und Errichtung von »Pharma 150« in Rabta „maßgeblich mitgewirkt und die ungenehmigte Ausfuhr von Fertigungsunterlagen sowie von Waren mit veranlaßt“ haben. Die später privatisierte SIG unterstand zur Tatzeit, als bundeseigenes Unternehmen, noch der direkten Aufsicht des Bonner Finanzministeriums. (Taz, 2.8.1991)
2. – 7. August 1991
In Bagdad trifft ein Inspektionsteam der Vereinten Nationen ein, um erstmals zu überprüfen, ob der Irak biologische Waffen besitzt. Das Team wird von der irakischen Regierung dahingehend informiert, daß im Irak ein Forschungslabor für biologische Waffen bestanden habe. Die Arbeiten seien jedoch im Herbst 1990 eingestellt worden. Der Irak verfüge über keinerlei B-Waffen. (Taz, 6.8.1991) Nach Abschluß der Inspektion teilt der Leiter der Gruppe mit, daß der Irak zwar BW-Forschung und -Entwicklung betrieben habe. Es gebe jedoch keine Beweise, daß der Irak B-Waffen besitze. (FAZ, 7.8.1991)
6. August 1991
Nach einer von der UN-Sonderkommission erstellten vorläufigen Liste nehmen bundesdeutsche Firmen einen »Spitzenplatz« bei Lieferungen für das irakische C-Waffen-Programm ein. Die Liste wurde bislang (Ende 1991) von den Vereinten Nationen nicht öffentlich gemacht. Nach eigenen Angaben bemüht sich die deutsche Bundesregierung, sowie verschiedene Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaften um die in der Liste enthaltenen Informationen. (FAZ, 7.8.1991)
22. August 1991
Nach Angaben aus der UN-Expertenkommission hat der Irak vorgeschlagen, seine chemischen Waffen selbst zu zerstören. Dies könne unter Aufsicht der Vereinten Nationen in einer der Fabriken geschehen, in der die Waffen vorher hergestellt wurden. (FR, 23.8.1991) Die UN überprüft diesen Vorschlag. Nach Aussagen des UN-Experten Molander werde die Vernichtung „um so billiger“, je mehr der Irak involviert sei. Andere Experten warnen vor einer eigenständigen irakischen CW-Vernichtung wegen der möglicherweise damit verbundenen Gefahren für Mensch und Umwelt. (Taz, 28.8.1991)
23. August 1991
Bundesumweltminister Klaus Töpfer sagt der iranischen Regierung langfristige Hilfe bei der Beseitigung der Schäden zu, die während des Ersten Golfkrieges durch den CW-Einsatz des Irak im Iran entstanden sind. (SZ, 23.8.1991)
2. September 1991
Wissenschaftler aus Australien und Neuseeland behaupten, daß die 1990 aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogenen chemischen Waffen der USA vorläufig nicht, wie damals angekündigt, vernichtet werden. Die USA benutzten das südpazifische Johnston-Atoll eher zum Lagern als zum Vernichten der C-Waffen. (Der Spiegel, 2.9.1991)
4. September 1991
Die dritte und damit letzte Sitzungsperiode für 1991 der Genfer Abrüstungskonferenz geht zu Ende. Die Aussichten für einen erfolgreichen Abschluß der CW-Verhandlungen werden allgemein optimistisch beurteilt. So seien die Verhandlungen, nicht zuletzt infolge des Golfkrieges, der allen Staaten die Gefahren chemischer Kriegführung deutlich vor Augen geführt hatte, von hoher Produktivität geprägt gewesen. Die Modifizierung der Verhandlungsposition der USA, vor allem in der Verifikationsfrage (vgl. cbw-chronologie, 13. Mai 1991) wurde allgemein als Fortschritt gewertet. Allerdings wurde die neue Position durch später nachgeschobene Erklärungen wieder verwässert. So wollen die USA inzwischen durchsetzen, daß ein Staat bei Verdachtskontrollen „Maßnahmen ergreifen“ kann, um „sensitive Installationen“ vor Inspektionen zu schützen, „soweit diese ohne Relevanz für das Chemiewaffenabkommen sind“. Damit wäre der wichtige Bereich der Verdachtskontrollen wenig effektiv, was letztendlich eine Aushöhlung der gesamten Vertragsüberwachung bedeuten könnte.
Darüberhinaus gibt es noch eine ganze Reihe weiterer offener Punkte: So ist nach wie vor nicht genau geklärt, wie die Inspektionen in der zivilen chemischen Industrie durchgeführt werden sollen und auf welcher Grundlage die zu kontrollierenden Anlagen ausgewählt werden. Einigung muß auch noch in der Frage erzielt werden, wie der sog. »Exekutivausschuß« der internationalen Verifikations-Organisation zusammengesetzt wird, und mit welchen Entscheidungsstrukturen er ausgestattet werden soll. Ungelöst sind auch noch andere Punkte, wie der Einsatz von C-Waffen im Inneren eines Staates und die Frage von Sanktionen gegen Staaten, die die Konvention verletzen.
5. September 1991
Argentinien, Brasilien und Chile unterzeichnen eine Erklärung, in der sie formell auf Einsatz und Herstellung biologischer und chemischer Waffen verzichten. (FR, 7.9.1991)
9. September 1991
In Genf beginnt die Dritte Überprüfungskonferenz zur Konvention über das Verbot bakteriologischer (biologischer) und von Toxinwaffen (BW-Konvention). Es nehmen nur 78 der 118 Unterzeichnerstaaten teil. (Taz 9.9.1991)
11. September 1991
Die Naturwissenschaftler-Initiative »Verantwortung für den Frieden« übergibt der deutschen Delegation auf der Dritten Überprüfungskonferenz einen Offenen Brief, in dem Vorschläge zur Weiterentwicklung der BW-Konvention gemacht werden. (FR, 11.9.1991)
18. September 1991
Seit 1985 wurden mit Genehmigung der Bundesregierung Chemieanlagen und Waren, mit denen auch chemische Kampfstoffe erzeugt werden könnten, in 117 Staaten exportiert. Der Wert der insgesamt 4.796 genehmigten Exporte betrug 2,27 Milliarden DM. Dies teilte das Bundeswirtschaftsministerium auf eine parlamentarische Anfrage von Bündnis 90 / Die Grünen mit. (FR, 19.9.1991)
24. September 1991
US-Soldaten sind beim Einsatz im Golf zum Schutz vor chemischen und biologischen Kampfstoffen mit Medikamenten geimpft worden, die sich noch in der Experimentierphase befinden. Unter anderem soll ein Medikament mit dem Namen »Pyridostigmin« verwendet worden sein; bei einem weiteren Impfstoff soll es sich um gentechnisch hergestellte Antikörper handeln. Nach Aussagen von US-Ärzten sei dies das erste Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs, daß eine Regierung offiziell ohne Einverständnis der Betroffenen Experimente an Menschen durchgeführt habe. (TAZ, 24.9.1991)
27. September 1991
Die Dritte Überprüfungskonferenz zur B-Waffen-Konvention endet in Genf mit der Verabschiedung einer Schlußresolution. Es werden drei weitere Vertrauensbildende Maßnahmen vereinbart; außerdem soll eine Ad-Hoc-Gruppe eingerichtet werden, die Möglichkeiten zur Festschreibung von effektiven Verifikationsmaßnahmen untersuchen soll. Es wurde beschlossen, 1996 eine Vierte Überprüfungskonferenz abzuhalten. Den Teilnehmern der Konferenz gelang es jedoch nicht, sich über allgemeine Absichtserklärungen hinaus auf konkrete Maßnahmen zu einigen, die eine bessere Verifikation des Vertragswerkes ermöglichen würden. (Chemical Weapons Convention Bulletin, Nr. 14, Dezember 1991)
4. Oktober 1991
Ein ranghoher Funktionär der oppositionellen iranischen Volksmudjaheddin beschuldigt die iranische Führung vor Journalisten in New York, die Entwicklung chemischer (und atomarer) Waffen voranzutreiben. (SZ, 5.10.1991)
4. Oktober 1991
Der Leiter des zweiten UN-Inspektionsteams für biologische Waffen, David Huxoll, teilt mit, daß die Inspektoren bislang keine Beweise für die Produktion von B-Waffen gefunden haben. Zur Sicherheit sollen aber einige Anlagen überwacht werden. (FR, 5.10.1991)
9. Oktober 1991
Im Prozeß gegen drei Manager der Imhausen-Chemie (Lahr) werden die Urteile gesprochen. Wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz werden zwei Angeklagte zu Freiheitsstrafen von 14, bzw. 16 Monaten verurteilt. Der dritte Angeklagte erhält eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten. Damit blieb das Gericht erheblich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Das Gericht sieht es als erwiesen an, daß die Angeklagten als „Gehilfen“ des bereits verurteilten Hippenstiel-Imhausen an Planung und Bau der Giftgasfabrik im libyschen Rabta mitgewirkt haben.
Das Gericht sah es ferner als erwiesen an, daß die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik durch die illegalen Exporte „erheblich gestört“ wurden. Es sei die „schwerste außenpolitische Störung der letzten zehn Jahre“ gewesen. In Hinblick auf die Bundesregierung meinte das Gericht, daß „Tatbestände, bei denen nur der Strafrahmen, nicht aber die Effektivität der Strafverfolgung“ erhöht würden, „nichts als Augenwischerei“ seien. Die Staatsanwaltschaft kündigte Revision an. (Taz, 10.10.1991)
11. Oktober 1991
Der parlamentarische Staatssekretär im Bundewirtschaftsministerium, Klaus Beckmann (FDP), geht davon aus, daß noch mehr deutsche Firmen als bisher bekannt an der Aufrüstung des Iraks beteiligt waren. Die Ergebnisse der UN-Inspektionen nannte er in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag „allesamt erschreckend“. Der Stand der Ermittlungen der Staatsanwaltschaften lasse bereits jetzt den Schluß zu, daß die irakische Rüstungsindustrie in erheblichem Umfang Zulieferungen von bundesdeutschen Unternehmen erhalten habe. Es sei „schockierend“, daß die irakischen Aktivitäten nur durch die umfangreiche Ausstattung aus dem Ausland so weit gedeihen konnten. (FR, 12.10.1991)
12. Oktober 1991
Der UN-Sicherheitsrat verabschiedet eine Resolution, die sicherstellen soll, daß der Irak keine Massenvernichtungsmittel herstellt. Neben einer zeitlich unbegrenzten Kontrolle des Irak wird diesem u.a. verboten, Substanzen, Maschinen oder Materialien zu importieren, die für die Herstellung von ABC-Waffen verwendet werden könnten. (Taz, 14.10.1991)
22. Oktober 1991
Die Moskauer Tageszeitung Iswestija veröffentlicht ein Interview mit dem Leiter der sowjetischen chemischen Truppen. General Petrov weist darauf hin, daß die Vernichtung der chemischen Waffen in der Sowjetunion keine Fortschritte mache. Nach seinen Angaben befinden sich „praktisch alle Lagerstätten für chemische Waffen auf russischem Territorium“. (Iswestija, 22.10.1991)
24. Oktober 1991
UN-Experten berichten, daß es während der Produktion der chemischen Waffen im Irak außergewöhnlich viele Unfälle gegeben habe. Nach Angaben irakischer Stellen waren es etwa 100 Zwischenfälle pro Jahr, von denen zehn größeren Ausmaßes gewesen seien. (Washington Times, 25.10.1991)
28. Oktober 1991
Chemische Waffen sollen künftig innerhalb der NATO nicht mehr die Rolle spielen, die ihnen in der bisherigen Strategie (MC 14/3 von 1967) zugewiesen wurde. (FR, 29.10.1991)
8. November 1991
Der sowjetische Delegationsleiter bei der Genfer Abrüstungskonferenz, Batsanov, sieht große Probleme für das sowjetische CW-Vernichtungsprogramm durch den Kollaps der Sowjetunion: „Die neu entstehende Struktur in Rußland ist nicht in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Wir brauchen ein Programm, und ein Programm gibt es nicht.“ Angesichts dieser Probleme sei es unwahrscheinlich, daß die Sowjetunion ihren Verpflichtungen aus dem bilateralen Abkommen mit den USA vom Juni 1990 über die Vernichtung der C-Waffen nachkommen kann.
Hinsichtlich der CW-Verhandlungen vertritt Batsanov die Auffassung, daß, selbst wenn 1992 ein Vertragsabschluß zustandekommt, das Abkommen nicht vor 1996 in Kraft treten wird. (Inside the Pentagon, 14.11.1991)
13. November 1991
Der parlamentarische Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Klaus Beckmann, erklärt vor dem Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestags, daß die Inspektoren der Vereinten Nationen im Irak auf die Namen von 24 deutschen Firmen gestoßen seien, die an der Entwicklung chemischer und biologischer Waffen sowie der Produktion von Scud-Raketen beteiligt waren. (Der Spiegel, 18.11.1991)
18. November 1991
Nach einem Bericht des SPIEGEL legte der Bundesnachrichtendienst (BND) Ende Oktober im Bundeskanzleramt ein Dossier vor, in dem er vor Beschaffungsbemühungen im Bereich von ABC-Waffen durch islamische Staaten warnte. So sei Libyen dabei, eine zweite Giftgasfabrik „nach dem Vorbild von Rabta“ aufzubauen. Ferner gäbe es „Indizien“ dafür, daß der Iran die Pläne der Rabta-Fabrik erhalten habe und nun versucht werde, „eine Kopie dieser Anlage zu errichten“. Die benötigten chemischen Vorprodukte sollen vermutlich von der Pestizid-Fabrik in Ghaswin geliefert werden. An deren Errichtung, die 1994 abgeschlossen sein soll, seien deutsche Firmen seit 1987 beteiligt. (Der Spiegel, 18.11.1991)
4. Dezember 1991
Wie erst jetzt bekannt wurde, hat ein US-Militärgericht bereits im Juli einen US-Soldaten wegen Spionage verurteilt. Der Soldat hatte Jordanien und dem Irak Informationen über die ABC-Schutzanzüge der US-Armee angeboten. (SZ, 5.12.1991)
23. Dezember 1991
Das Nachrichtenmagazin Der SPIEGEL berichtet über Vernehmungen des früheren Geschäftsführers der Salzgitter GmbH (SIG). Böhm soll sich dabei als BND-Informant zu erkennen gegeben haben. Somit wäre es dem BND möglich gewesen, die Bundesregierung wegen der deutschen Beteiligung am Bau der Giftgasanlage in Rabta früher als 1987 in Kenntnis zu setzen. (Der Spiegel, 23.12.1991) Der BND bestreitet, von Böhm über eine deutsche Beteiligung an Rabta informiert worden zu sein. Die Informationen seien „von anderer Seite“ erfolgt. (FR, 23.12.1991)
Die Chronologie wurde zusammengestellt von Joachim Badelt, Berghof-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, Berlin.