W&F 1989/4

Die Schwierigkeit, den Geist zurück in die Flasche zu zwingen:

Chemische Abrüstung im Zwielicht

von Werner Dosch

Die chemischen Waffen müßten längst verschwunden sein! Keiner will sie, immmer mehr haben sie. Es ist nicht einfach, den Geist in die Flasche zurückzuzwingen. Denn anders als bei den atomaren Vernichtungsmitteln sind es nur kleine Sprünge, die von ziviler Chemie zu den Waffen führen. Bereits unbeabsichtigte Entgleisungen von Chemie können verheerend sein. Chemie ist Wandlung. Es gibt meist verschiedene Synthesewege, um eine Substanz A in B zu verwandeln und aus A und B kann X entstehen. Wegen dieser Vielfalt und Mehrdeutigkeit hat man in Genf sinngemäß definiert: Chemische Kampfstoffe sind alle Chemikalien, soweit sie nicht friedliche verwendet werden. Kontrolle von C-Waffen heißt daher unter anderem auch Kontrolle ziviler Chemie, die zu ihrer Herstellung imstande sein könnte.

Chemie ist überall, pulst in den Handelsströmen und die Mittel zur Weiterverbreitung pulsen mit. Probleme können unbeherrschbar werden, wenn sie nicht rasch genug gelöst werden. Ein gordischer Knoten löst sich nicht dadurch, daß man sich auf eine möglichst detaillierte lexikalische Beschreibung und Verstrickung einigt. Über der sachlichen steht die menschliche Dimension. Bei den C-Waffen geht es um den Willen sie abzuschaffen und sich an keinem künftigen Mißbrauch von Chemie zu beteiligen, weil man so etwas nicht will. Mehr Sicherheit gibt es nicht. Wenn man sich an scheinbare Sachzwänge verliert, wird man sachblind scheitern. Ein Vertrag ist gut – der in Genf erarbeitete Text reicht aus –, aber ein Vertrag kann nicht ersetzen, daß das Nein zu ungerechtem Tun immer wieder neu gesprochen werden muß.

In der Öffentlichkeit gilt das Problem der chemischen Waffen als im Prinzip gelöst, offen scheint nur noch, wie lange es dauert bis sie beseitigt sind und wann endlich der Sperrvertrag und von welchen und wieviel Nationen unterzeichnet wird. Abrüstung steht derzeit in einem Zwielicht, während sich die Weltbühne schnell zu ungeahnten neuen Konstellationen verändert, die ökologischen Folgen menschlicher Tätigkeit konkreter werden und zugleich neue Fronten für zukünftige Verteilungskämpfe aufbrechen. Abrüstung scheint in manchen Bereichen fast geschäftsmäßig zu funktionieren. Doch die Fassade täuscht. Bei näherem Hinschauen klaffen Anschein und Wirklichkeit auseinander.

Bei der Ächtung der C-Waffen kann über echte Fortschritte nicht berichtet werden. Ich stelle Entwicklungen, vor allem aus diesem Jahr, bewußt in ihrer Zweideutigkeit dar.

Die Pariser Konferenz Januar 1989

Januar 1989. Die Pariser Konferenz „zur Stärkung des Genfer Protokolls von 1925“, zugleich Auftaktveranstaltung des französischen Revolutionsjubiläums, wurde als glänzender Erfolg gefeiert. 149 Staaten waren hochrangig, meist durch ihre Außenminister, vertreten. Den 129 Signatarmächten des Vertrags von 1925 schlossen sich weitere 11 an. Zusätzlich zu den bisherigen 40 versicherten 20 weitere Staaten ihren Nichtbesitz an chemischen Waffen.

Aber in Genf wird seit 20 Jahren darüber verhandelt, daß an Stelle des in Paris nostalgisch beschworenen schwachen und mehrfach verletzten Ersteinsatzverbots für chemische Waffen endlich deren vollständige Abschaffung treten muß. Der Rückschritt nach Paris sollte darüber hinwegtäuschen, daß es in Genf kurz vor dem Ziel zur Stockung gekommen war und daß nach zu viel vertaner Zeit das Problem der Weiterverbreitung, C-Waffen in der 3. Welt, dringlicher geworden ist als die Quadratur der perfekt kontrollierten Abrüstung zu lösen. Auch der Irak, der sich in der Kette grausamer Verstöße gegen das Genfer Protokoll als letzter schuldig gemacht und nach dem gerade beendeten Golfkrieg Restbestände seiner Giftwaffen noch gegen die eigene kurdische Bevölkerung eingesetzt hatte, war in Paris durch seinen Außenminister vertreten. Der ließ sich im Verhandlungssaal beim Lösen von Kreuzworträtseln fotographieren und erklärte, daß er sich der Annahme des Schlußdokuments, das den chemischen Völkermord feierlich verurteilt, nicht widersetzen werde.

Paris hat den Weg nach Genf zurück immerhin offengelassen. Dort wird über das vollständige C-Waffenverbot weiter verhandelt, jetzt sogar mit 68 anstatt 40 Teilnehmernationen, was die Gespräche aber nicht einfacher macht.

Die beiden Supermächte, deren bilaterale Abmachungen schwerer wiegen können als Verhandlungen der übrigen Welt, haben gerade letzte Hindernisse vor dem Genfer Ziel aus dem Weg geräumt. Ausdrücklich auch zu Ansporn für die anderen Nationen haben sie sich über letzte Kontrolldetails geeinigt und vorvertragliche vertrauensbildende Maßnahmen eingeleitet, so den Datenaustausch über ihre C-Potentiale und die gegenseitige Überprüfung entsprechender militärischer und ziviler Anlagen.

Die Bush-Offerte

Aber das Renommé der Großen ist lädiert. Die Vereinigten Staaten hatten 1987, das Genfer Hoffnungsjahr, mit dem Beginn einer massiven chemischen Aufrüstung beschlossen. Sie wollen ihr Potential an 20 Jahre alten (unitären) Nervenkampfstoffen durch neue binäre Nervenkampfstoffe in etwa gleicher Menge ersetzen. Der Chefunterhändler Kampelmann hatte 1988 über die Unmöglichkeit der Kontrolle von chemischer Abrüstung laut nachgedacht. Die iraklastige US-Politik vor und nach dem Waffenstillstand am Golf hat dem Vertrauen auf internationale Solidarität geschadet. Wie soll man sich auf Völkerrecht verlassen, das ungestraft mit Füßen getreten wird, und woran sich eine Großmacht auch noch delektiert? Neuerdings setzen die Vereinigten Staaten nicht mehr auf internationale Sanktionen, sondern auf nationale Maßnahmen. Der Kongreß bereitete 1989 gesetzliche Grundlagen für Wirtschafts- und Handelssanktionen vor, mit denen die USA künftig Giftgas-Aktionen von Einzelpersonen, Firmen und Staaten bestrafen wollen.1 Freilich kaum die eigene Verstrickung in dieses Unrecht! Der neue Präsident Bush, als Vice noch die wichtigste Figur bei Reagans Durchsetzung der binären Aufrüstung gegen den Widerstand der Kongresses, will jetzt „die Erde von der Geißel der C-Waffen befreien“. Vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen bot er im September an, 80% der amerikanischen C-Waffen zu vernichten, wenn sich die Sowjetunion zu dem gleichen Schritt bereit fände. Bis auf 2% will er die Potentiale sogar bis 1992 abbauen, falls der internationale Sperrvertrag und zwar mit einer ausreichenden Teilnehmerzahl zustande kommt. Ein großer Schritt für die Menschheit – würde in Amerika nicht gerade frisch aufgerüstet und hätte der Kongreß nicht schon 1985 festgelegt: die Binaries dürfen nur Neu für Alt produziert werden; bis 1997 (zunächst wurde 1994 genannt) müssen die unitären Waffen verschwunden sein. Vernichtung ist nicht nur etwa 10 mal teurer, sondern auch viel langsamer als die Produktion neuer Giftwaffen. Zuerst wird der Schrott abgebaut werden, Kampfstoffe noch aus dem Umfeld des 1. Weltkriegs (S-Lost, Lewisit). Die weit wirksameren Nervenkampfstoffe bleiben länger erhalten. 20% der Vorräte sind schrecklich viel! Bei dem geschätzten US-Potential von ca. 30.000 Tonnen Giften2 sind aber selbst 2% mehr als die geschätzten 400-500 Tonnen an Nervenkampfstoffen, die von den USA in Form von Artilleriemunition in der BRD gelagert werden. Es war also kein frischer Ölzweig, mit dem Bush gewinkt hatte.

Die Haltung der UdSSR

Die Sowjetunion hat sich nach langer Erstarrung auf chemische Abrüstung hin bewegt. Die wichtigsten Entscheidungen fielen schon 1987: 1. Die Zustimmung zu Verdachtskontrollen ohne Rückweisungsrecht. 2. Der von Gorbatschow im April verkündete Produktionsstop für chemische Waffen-– 18 Jahre nach den Amerikanern, ein tragisches Versäumnis, wie von sowjetischer Seite jetzt eingeräumt wird. 3. Im Oktober führten die Sowjets ihre C-Waffen, Kampfstoffe und die von ihnen geplante Vernichtungsmethode in Shichany vor. 4. Im Dezember erklärte Gorbatschow, daß die Sowjetunion über nicht mehr als 50.000 Tonnen Kampfstoffe verfüge, also nicht viel mehr als man davon bei den Amerikanern vermutet, die ihre absoluten Mengen geheimhalten aber offenbarten, in welchen prozentualen Mengen soch welche Waffen mit welchen Giften in 9 bekannten Lagern der USA befinden (Über das 10. Lager in der Bundesrepublik gibt es keine offiziellen Angaben.) Die sowjetischen Lager sind dagegen noch geheim, es wird nur erklärt, daß sie sich ausschließlich auf sowjetischem Territorium befinden. Auf der Pariser Konferenz verkündete Außenminister Shevardnaze die einseitige Abrüstung der C-Waffen der Sowjetunion. Im September wurde aber bekannt, daß die einzige und noch im Bau befindliche Fabrik zur C-Waffenvernichtung in Tschabajewsk auf Einspruch der Bevölkerung zu Zwecken einer ökologisch verträglicheren Chemie umgewidmet werden mußte-– Glasnost macht auch dies möglich! So sind die Sowjets den Amerikanern nur darin voraus, daß sie keine neuen Waffen produzieren und auch an der Binärtechnologie noch kein erkennbares Interesse zeigen.

C-Waffen in der 3. Welt

Im gesamten Golfkrieg (1980-1988) hatte der Irak, Signatarmacht des Genfer Protokolls, Giftgas gegen den Iran, ebenfalls Signatarmacht, eingesetzt. Die Hinnahme dieses anhaltenden Verbrechens durch die Völkergemeinschaft und die Beteiligung insbesondere von Industrieländern wie der Bundesrepublik an der Weiterverbreitung hat vor allem in den Ländern der Dritten Welt einen Schock ausgelöst. Was nützt ein Vertrag, dessen Unterzeichner im Ernstfall zum Freiwild werden? Chemiewaffen wirken in tropischen Klimata besonders verheerend, sie sind relativ billig und ihre Weiterverbreitung schreitet schnell voran.

Die Vertreter armer Länder hatten ihrem Ärger, Frust und Ängsten zum erstenmal 1987 im Genfer Abrüstungskomitée Luft gemacht, als der Abschluß der Konvention unmittelbar bevorzustehen schien. Welches sind die Bedenken dieser Länder, die von den Industriestaaten nicht mehr übergangen werden können?

  1. Die armen Länder wollen kein Abkommen akzeptieren, das an den Nichtweiterverbreitungsvertrag für Atomwaffen von 1968 erinnert, der 2 Klassen von Staaten geschaffen hat. Isolierte Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung wie Exportkontrollen und auch Chemiewaffenfreie Zonen finden daher keine Sympathie.
  2. Die Konvention darf die gerade beginnende und daher besonders empfindliche technologische Entwicklung in der 3. Welt nicht hemmen.
  3. Für den Fall eines chemischen Überfalls werden Vereinbarungen über militärischen Beistand und die Beschaffung von Schutzausrüstungen erwartet.
  4. Die armen Länder wollen und können sich nicht an den erwarteten immensen Kosten der Kontrollmaßnahmen eines Sperrvertrags beteiligen.
  5. In der Kontrollbehörde des Sperrvertrags wird eine paritätische Sitzverteilung gefordert. Der Verband der europäischen chemischen Industrie hatte 1987 eine Sitzverteilung angemahnt, die seiner »Bedeutung« entspricht.
  6. Wegen des vermuteten israelischen Besitzes von A-Waffen haben Mittel-Ost-Staaten erstmals auf der Pariser Konferenz die Kopplung von chemischer und atomarer Abrüstung gefordert.
  7. Nur sehr wenige Länder, im April 1989 Ägypten, sprechen sich für wirksame internationale Sanktionen im Falle des Vertragsbruches aus.

Anmerkungen

1) Dunn, L.A.: „Making Chemical Weapons Users Pay A Price“, Chemical Weapons Convention Bulletin August 1989, 2-3 Zurück

2) Robinson, J.P.: „World CW Armament, Part I: The United States“, Chemical Weapons Convention Bulletin Autumn 1988, 12-17 Zurück

Dr. Werner Dosch ist Hochschullehrer am Institut für Geowissenschaft der Universität Mainz.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/4 Die 90er Jahre: Neue Horizonte, Seite