W&F 2001/1

Dammbruch mit ungeahnten Folgen?

Die Bedeutung des ABM-Vertrags für die strategische Stabilität

von Wolfgang Liebert

Die Verwirklichung der US-Pläne für eine National Missile Defense (NMD) werden früher oder später zur Aufkündigung des Anti Ballistic Missile Treaty (ABM-Vertrag) führen. Daher ist es wichtig, sich die Stellung des ABM-Vertrages im Geflecht der internationalen Vereinbarungen zu Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung genauer vor Augen zu führen.
In den letzten Jahrzehnten ist ein vielfältiges Geflecht von Vertragswerken entstanden, das durch gegenseitige Verstärkung eine Gesamtstabilisierung der prekären weltweiten Rüstung im Bereich von Massenvernichtungswaffen realisiert. Auf der Seite der Nichtweiterverbreitung finden sich der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) mit seinen weiteren Regelwerken und das Missile Technology Control Regime (MTCR). Daneben steht der Comprehensive Testban Treaty (CTBT), der bereits eine rüstungskontrollpolitische Komponente enthält. Ähnliches würde gelten, wenn der angestrebte Cutoff-Vertrag abgeschlossen wäre, der die Produktion von spaltbaren Materialien für Waffenzwecke unterbinden soll. Auf der Seite der Abrüstung finden sich die bekannten Vertragswerke zur strategischen Abrüstung, wie die START-Verträge, sowie die älteren Vereinbarungen aus dem SALT-Prozess. Ebenso findet sich hier der Vertrag zum Bann der Mittelstreckenraketen (INF) und die B- und C-Waffenkonvention. Eines Tages wird hier auch eine Nuklearwaffenkonvention auftauchen, die sich allerdings noch nicht im Aushandlungsprozess befindet. In der Mitte dieses Bildes würde sich unter dem Stichwort Rüstungskontrolle mit Ausstrahlung zur Abrüstung und zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen der ABM-Vertrag lokalisieren lassen.

Der zwischen den USA und der damaligen UdSSR ausgehandelte ABM-Vertrag trat 1972 in Kraft und hatte die Aufgabe, für den Erhalt strategischer Stabilität zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion zu sorgen. Das Ziel war ebenso die Vermeidung eines nuklearen Wettrüstens, das durch eine Kombination von offensiven und defensiven Systemen angeheizt worden wäre. Der ABM-Vertrag begrenzt die Raketenabwehr drastisch. Beide Seiten dürfen maximal 100 Systeme aufstellen und diese müssen an einem Ort lokalisiert sein und sollen nicht die Fähigkeit zur landesweiten Verteidigung besitzen. Weiterhin besitzt der ABM-Vertrag eine präventive Komponente, da er die Entwicklung, Erprobung und den Aufbau von see-, luft- oder weltraumgestützten ABM-Systemen ausschließt. Allerdings bestehen hier Grauzonen: Zum einen ist das Entwicklungsverbot selbst in gewissem Sinne umstritten und zum anderen sind taktische Abwehrsysteme nicht untersagt, wobei die Schwierigkeit der Abgrenzung zu strategischen Systemen besteht.

Der Prozess der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist international in große Schwierigkeiten geraten. Zur Zeit geht so gut wie nichts mehr voran. Nun entsteht eine weitere Schwierigkeit, indem ein wesentlicher und unverzichtbarer Baustein im Geflecht der internationalen Vereinbarungen in Frage gestellt wird. Der ABM-Vertrag ist aber unverzichtbar, solange Nuklearwaffen in der Welt existieren.

Reaktionen auf US-Raketenabwehrpläne

Man kann sich die Frage stellen, wie andere Staaten auf die Pläne der USA reagieren werden. Die beste Rückversicherung gegen den Aufbau eines zunächst begrenzten – oder gar nicht wirksamen – Raketenabwehrsystems der USA wäre der Ausbau vorhandener eigener Nukleararsenale auf ausreichend hohe Stückzahlen. Das liegt in der Logik nuklearer Abschreckung, denn letztlich geht es um so genannte gesicherte Zweitschlagskapazitäten. Ein begrenzt wirksamer Abwehrschirm der USA würde dazu führen, dass sich Kernwaffenstaaten außerhalb der USA um diese gesicherte Zweitschlagskapazität Sorgen machen müssten. Die Reaktion in Richtung eigener nuklearer Aufrüstung könnte prinzipiell für alle Staaten gelten, die nicht mit den USA verbündet sind. Insbesondere ist hier China zu nennen. Es heißt, China besitze nur 20 interkontinental einsetzbare Systeme. Das Worst-Case-Szenario für China hieße also, dass bereits eine partielle Funktionstüchtigkeit eines US-Abwehrsystems zur Entwertung der eigenen Nuklearpotenziale führen könnte. Die einzig vorstellbare Antwort für die Militärplaner in China wäre die nukleare Aufrüstung.

Daraus kann eine nukleare Kettenreaktion in Südostasien folgen. Nach der offiziellen Überschreitung der nuklearen Schwelle durch Indien und Pakistan sind weitere Länder in der Region als Kernwaffenstaaten ernst zu nehmen. Eine zusätzliche Bedrohungswahrnehmung in Indien durch chinesische nukleare Aufrüstung und eine entsprechende Wahrnehmung in Pakistan (in Reaktion auf Indien) wären willkommene Anlässe für eine nächste Runde der nuklearen Aufrüstung in der Region. Man kann befürchten, dass dies ebenfalls Auswirkungen auf Taiwan und möglicherweise sogar Japan haben könnte.

Auch Länder in anderen Weltregionen könnten versucht sein, auf die US-Pläne mit nuklearer Aufrüstung zu reagieren. Letztlich gilt auch für Staaten, die neu auf Nuklearwaffen zugreifen wollen oder können, dass sie in der schnellen nuklearen Aufrüstung die letzte Chance sehen könnten, bevor ein US-Raketenabwehrsystem funktionstüchtig wird. Auch wenn es sehr zweifelhaft erscheint, ob die USA jemals mit ihren NMD-Plänen zu einen Erfolg kommen werden, ist davon auszugehen, dass die militärischen Planer jedenfalls befürchten, dass die nuklearen Arsenale kleinerer Kernwaffenstaaten damit entwertet werden könnten. Die USA würden mittelfristig fähig zum nuklearen Erstschlag. Dies hätte erhebliche weltpolitische Konsequenzen.

Wie reagiert Russland auf die US-Aufrüstungspläne? Bekanntlich gab es bereits Drohungen, den INF-Vertrag zu kündigen oder die Verhandlungen über weitere konventionelle Abrüstung in Europa (KSE) zu blockieren. Naheliegend wäre auch die Wiedereinführung von Mehrfachsprengköpfen (MIRV) in die bestehenden Arsenale. Über die diplomatischen Bemühungen zwischen USA und Russland kann man interessante Überlegungen anstellen. Doch muss sich Russland bereits durch die jetzigen NMD-Pläne ernsthaft bedroht fühlen?

Strategische Stabilität

Die ersten Untersuchungen zur Frage strategischer Stabilität beim Aufbau von ABM-Systemen liegen bereits Jahrzehnte zurück. Horst Afheldt und Philipp Sonntag haben bereits 1970 in der »Weizsäcker-Studie« gezeigt1, wie wesentliche Bereiche der Instabilität im strategischen Verhältnis der USA und der damaligen UdSSR entstehen können. Unter der Voraussetzung, dass beide Seiten 1.000 Interkontinentalraketen und im Falle der USA 700 seegestützte ballistische Raketen und die UdSSR 200 solcher Systeme besitzen und gleichzeitig beide Staaten 4.000 ABM-Systeme aufstellen, wurde deutlich, dass ausgedehnte Bereiche der Unsicherheit durch einseitige Überlegenheiten oder reduzierte Zweitschlagsfähigkeiten entstehen. Die stabilen Zonen der Abschreckung, die auf der wechselseitigen Möglichkeit der totalen Vernichtung besteht, würden durch den Aufbau von ABM-Systemen erheblich reduziert. Aus solchen Untersuchungen wurde die Erkenntnis abgeleitet, dass ABM-Systeme jedenfalls destabilisierende Wirkung haben. Damit ist die Unverzichtbarkeit des ABM-Vertrages betont.

Wenn man allerdings die oben genannten Zahlen mit den heute relevanten vergleicht, fällt auf, dass im Bereich der strategischen Offensivsysteme der Vergleich möglich erscheint, aber die geplanten ABM-Systeme quantitativ weit hinter den damals benutzen Zielzahlen zurückbleiben. Daraus kann gefolgert werden, dass bei Aufbau von »nur« 200 ABM-Systemen das strategische Gleichgewicht zwischen USA und Russland heute noch nicht berührt wäre. Dennoch bedeutet dies keine Entwarnung für die russische Seite. Das alte Worst-Case-Denken im Nuklearwaffenbereich muss eher zu Überlegungen Richtung Aufrüstung als Abrüstung in Russland führen. Zudem sind die jetzigen Pläne der USA eher als ein erster Schritt anzusehen. Ein Weiterentwicklung von NMD mit weltraumgestützten Abwehrwaffen gegen einfliegende Raketen ist bereits in der Planung. Wenn, wie erwartet, in den nächsten Jahrzehnten eine Aufrüstung des Weltraums stattfindet, dann ist auch das strategische Verhältnis zwischen USA und Russland betroffen. Daher kann man davon ausgehen, dass die seit Ende der 80er Jahre begonnene strategische Abrüstung zum Erliegen kommt und eine Umkehrung zu neuen Plänen gezielter Aufrüstung stattfinden wird. Für die russische Seite bliebe als Alternative nur der Versuch übrig, durch den eigenen Aufbau von ABM-Systemen mitzuhalten und gegebenenfalls bei einer Bewaffnung des Weltraums in defensiver und offensiver Weise mit den USA gleichzuziehen oder durch Aufrüstungsmaßnahmen im Nuklearbereich die so genannte strategische Stabilität zu erhalten. Auch wenn Russland nicht gemäß der inneren Logik der nuklearen Rüstung reagieren will oder kann (aus ökonomischen Gründen), wäre der Prozess der nuklearen Abrüstung bedroht.

In den letzten Jahrzehnten sind auch weitere Fragen der strategischen Stabilität im Bereich der Einführung von ABM-Systemen untersucht worden. Eine wichtige Frage war, ob das Ziel der alten Raketenabwährpläne (SDI), aus der gegebenen Situation stabiler Abschreckung zu einer ebenfalls stabilen wechselseitigen Unverwundbarkeit zu kommen, erreichbar erscheint. Entsprechende »Trajektorien« des Aufbaus von ABM-Systemen konnten genauer untersucht werden.2 Dabei stellte sich heraus, dass es höchst schwierig ist, einen Übergang bei Erhalt der strategischen Stabilität zu erreichen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass man in Zonen der Instabilität mit hohen Risiken für einen denkbaren Einsatz nuklearer Arsenale optieren wird.

Nun ist umgekehrt die Frage, wie der Prozess der nuklearen Abrüstung durch den Aufbau von ABM-Systemen beeinflusst würde, von großem Interesse. Modellrechnungen zeigen, dass der schrittweise Abrüstungsprozess auf Null durch den Aufbau von ABM-Systemen ähnlich bedroht ist wie der Versuch, bei einem hohen Stand von nuklearer Rüstung durch eine entsprechend große Stückzahl von ABM-Systemen zu einer wechselseitigen Unverwundbarkeit zu kommen. Der Prozess der vollständigen nuklearen Abrüstung ohne Gefährdung strategischer Stabilität erscheint unter Existenz einer umfangreichen Raketenabwehr weit schwerer, vielleicht gar nicht erreichbar. Damit ist die Unverzichtbarkeit des ABM-Vertrages nochmals betont.

Konsequenzen

Es gibt Bemühungen um einen Kompromiss mit Russland.3 Man kann sich aber fragen, was damit erreicht wäre, wenn der ABM-Vertrag fällt oder aufgeweicht würde. Ein diplomatisches Problem zwischen Moskau und Washington würde zwar vordergründig gelöst, aber nicht die fundamentalen langfristigen Probleme für Abrüstung und Nichtweiterverbreitung, wie skizziert. Der Gesamtprozess nuklearer Abrüstung und internationaler Bemühungen um Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen würde negativ beeinflusst und man kann befürchten, dass ein regionales Wettrüsten im Nuklearbereich stimuliert würde.

… für Abrüstung

Die NMD-Pläne der USA hätten negative Folgen für den Abrüstungsprozess. Eine völlig überflüssige neue Runde des Wettrüstens könnte die Folge sein. Anstatt den weltweiten Abrüstungsprozess im Nuklearbereich konsequent weiterzuführen, können regionale Aufrüstungsschritte die Folge sein. Insgesamt muss eine Verewigung des Besitzes von Atomwaffen befürchtet werden, anstelle eines eindeutigen und klaren Pfades zur totalen nuklearen Abrüstung. Dieser eindeutige Weg zur Null wäre durch ABM-Systeme zusätzlich verkompliziert bzw. prinzipiell bedroht.

… für Rüstungskontrolle

Die Rüstungskontrolle, die in der Vergangenheit eine strategische Partnerschaft bedeutete, die zur Begrenzung der Aufrüstung führte, würde durch eine Aufweichung oder eine Aufkündigung des ABM-Vertrages weiter entwertet. Die Konzeption der Rüstungskontrolle insgesamt würde massiv beschädigt. Versuche, rationale Prozesse der Stabilisierung der nuklearen Potenziale und ihrer Abrüstung zu bewerkstelligen, würden grundsätzlich in Frage gestellt. Anstatt die alten Konzepte der Rüstungskontrolle ad acta zu legen, brauchten wir dringlich eine Erneuerung des Rüstungskontrollgedankens. Die Einführung von Raketenabwehr bedeutet eine technische Neuerung, die zu einem qualitativen Wettlauf im Rüstungsbereich führen kann. Vorbeugende Rüstungskontrolle, die die technologische Dynamik berücksichtigt und mit der Konzeption von Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung kombiniert, wäre erforderlich.

… und Nichtweiterverbreitung

Eine etwas tiefergehende Analyse der Konsequenzen für die Nichtweiterverbreitung erscheint angebracht. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein ganzes Spektrum von Maßnahmen oder Konzepten der Nichtweiterverbreitung entwickelt (vergleiche Tabelle). Auf der einen Seite dieses Spektrums steht der globale Verzicht auf A-, B- und C-Waffen inklusive des Verzichtes auf ballistische Raketen. Was im B- und C-Waffenbereich zunehmend realisiert wird, erscheint leider für die A-Waffen und die Trägersysteme erst in fernerer Zukunft realisierbar. Eine weitere Schattierung im Spektrum ist das Konzept der Proliferationsresistenz. Dies bedeutet eine Verhinderung zivil-militärischer Übergänge auf der Ebene der Technologien selbst. Konkreter soll dies bedeuten, durch eine entsprechende Gestaltung zivil genutzter Technologien ihren militärischen Gebrauch massiv zu behindern bzw. weitgehend auszuschließen. Auch dieses Konzept ist bisher so gut wie nicht realisiert. In der Mitte des Maßnahmenspektrums findet sich der Verzicht der Mehrheit. Dieser Verzicht realisiert den Status Quo und versucht ihn zu erhalten. Der Status Quo bedeutet, dass auf der einen Seite wenige Staaten existieren, die Kernwaffen besitzen, und auf der anderen Seite die Mehrheit der Staaten den Verzicht auf Kernwaffen bereits realisiert hat. Es handelt sich um eine Abhaltestrategie vom Typ des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Damit sind auch Regeln für den zivilen Technologiezugang verbunden. In der Regel bedeutet dies eine Art von »Tauschgeschäft«: Unterstützung beim Zugang zu zivil nutzbaren Technologien wird bei erklärtem Verzicht auf militärische Programme gewährt. Perspektivisch ist aber auch hier bereits die Abrüstung auf Null, auf der Ebene internationaler Verträge, festgelegt. Als weitere Möglichkeit im Spektrum der Maßnahmen ist die Technologiekontrolle anzusprechen. Diese strebt an, den Zugang auf sensitive Technologien, die für militärische Programme nutzbar sind, durch die potenziellen Lieferländer zu kontrollieren. Eine typische, konkrete Maßnahme ist die Etablierung von Exportkontrolle, die einen Druck der Länder mit entsprechendem Technologiezugang auf andere Länder, denen militärische Absichten unterstellt werden, zur Folge hat. Den letzten Platz im Spektrum nehmen die militärischen Gegenmaßnahmen ein. In den neunziger Jahren wurde in den USA eine Strategie der Counter-Proliferation entwickelt, die bis zu militärischem Vorgehen reicht. Der Aufbau von Raketenabwehrsystemen wäre ebenfalls eine militärische Maßnahme gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Das Spektrum der Konzepte und Maßnahmen zur Nichtweiterverbreitung (vergl. Tabelle) ist dadurch gekennzeichnet, dass auf der linken Seite eine symmetrische Welt entsteht, in der die Möglichkeit des Technologiezugangs für alle Länder der Welt prinzipiell gleich wird. Auf der rechten Seite verstärkt sich die heute bereits vorhandene Asymmetrie, die in der Teilung der Welt in Nuklearwaffenbesitzer und -nichtbesitzer besteht. Die linke Seite beschreibt das Ziel der Abrüstung auf Null. Die heute etablierten Maßnahmen der Nichtweiterverbreitung zielen in der Perspektive auf eine vollständige Abrüstung im Bereich von Massenvernichtungswaffen. Das Vorgehen der US-Regierung der letzten Jahre, das in den aktuellen Plänen für NMD kulminiert, bedeutet einen Richtungswechsel. Der Blick nach rechts kehrt sich von den Zielen der Abrüstung prinzipiell ab. Zunehmend wird auf eher militärische als diplomatische Maßnahmen gesetzt. Die Pläne für Raketenabwehr sind ein weiterer gefährlicher Schritt in diese Richtung. Wird damit nicht geradezu die Weiterverbreitung von Kernwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen in einigen Regionen der Welt stimuliert? Glauben die Planer in den USA nicht mehr daran, dass die Weiterverbreitung selbst eingedämmt werden kann? Oder wird der Traum der Unverwundbarkeit weiter geträumt? Sind weitere Absichten hinter NMD verborgen?

Entgegen den Bemühungen um militärische Kontrolle der Probleme, die aus der Weiterverbreitung von Kernwaffen entstehen können, ist eine Rückkehr zu Maßnahmen der Diplomatie und der Einigung innerhalb der Weltgemeinschaft geboten. Das Ziel einer schrittweisen Abrüstung auf Null unter Vermeidung von strategischen Instabilitäten ist vorteilhafter als das Setzen auf einen nur sehr zweifelhaft erreichbaren Schutz vor Offensivsystemen anderer Staaten.

Schlussfolgerungen

Die NMD-Pläne der USA sind kontraproduktiv für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung. Es ist in deutschem, europäischem und globalem Interesse, dass die USA zum Verzicht auf Ihre Pläne gedrängt werden. Bündnistreue mit den USA kann auch bedeuten, diesen einen fundamentalen Fehler auszureden. Es ist von großer Bedeutung, dass europäische Staaten standhaft in ihrer Kritik an NMD bleiben. Es wird immer wieder über Kompromisse geredet. Ich sehe aber in der Frage der Einführung von Raketenabwehr keine möglichen, vernünftigen Kompromisse. Ein wenig ABM-Aufweichung und einige Raketenabwehrsysteme aufzustellen ist genauso bedenklich wie den ABM-Vertrag zu kündigen und ausgedehnte Pläne für eine Raketenabwehr in einem längerfristigen Plan zu realisieren. Beides wären Dammbrüche mit ungeahnten Folgen. Entscheidend ist, dass die im ABM-Vertrag bis heute vorgesehenen Schwellen nicht überschritten werden. Das ist wesentlich für strategische Stabilität, die erhalten bleiben muss solange Atomwaffen existieren und ebenso für die Beförderung eines internationalen Prozesses zur Abrüstung sowie für die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Anmerkungen

1) C. F. v. Weizsäcker (Hrsg.): Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München: Hanser, 1971.

2) Vergl. z.B. J. Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability, Marburg 1989.

3) Vergl. Beitrag von Bernd Kubbig in diesem Heft.

Dr. Wolfgang Liebert, Wissenschaftlicher Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2001/1 Von SDI zu NMD, Seite