Das böse Erwachen kommt noch
Zum 50. Geburtstag der NATO
von Andreas Zumach
Strategiedebatten der NATO sowie tatsächliche Korrekturen ihrer Doktrin wurden in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens bis zum Fall der Berliner Mauer immer von den USA ausgelöst. Anlass war jeweils eine oft durch neue waffentechnologische Möglichkeiten bestimmte Veränderung der nationalen Atomwaffendoktrin der Bündnisvormacht. Sie wurde dann immer sehr bald zur gemeinsamen Doktrin der Allianz. Wobei den Bündnispartnern – mit Frankreichs Ausnahme – jeweils die Illusion gelassen wurde, sie hätten tatsächlich mitentschieden. Bekanntestes Beispiel ist der Wechsel von der »massiven Vergeltung« hin zur »flexiblen Antwort« Ende der 60er Jahre. In der Regel fanden die Diskussionen hinter verschlossenen Türen der NATO-Militärs statt; manchmal wurden elitäre Zirkel »sicherheitspolitischer Experten« aus Politik, Wissenschaft und Medien beteiligt. Die Debatte um die Atombewaffnung der Bundeswehr Ende der 50er Jahre und die dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 folgende scharfe und lang anhaltende öffentliche Kontroverse um die Stationierung neuer Atomraketen sind die einzigen Fälle, in denen relevante, (über)lebenswichtige Fragen der Sicherheitspolitik in der partizipatorischen Breite und Intensität diskutiert wurden, wie sie für parlamentarische Demokratien eigentlich selbstverständlich sein sollten. Dass die öffentliche Kontroverse der 80er Jahre nicht nur von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern von weiten Teilen der damaligen politischen Eliten in den NATO-Staaten als ärgerlicher Betriebsunfall verarbeitet wurde und die schließliche Durchsetzung der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles als »Sieg der Politik über die Straße«, zeugt von einem gefährlichen Demokratiedefizit.
Zehn Jahre später ist die Lage im Grunde wenig verändert. Entgegen allen Voraussagen hat die westliche Militärallianz den Wegfall ihres östlichen Gegenübers und »raison d`etre« bislang prächtig überstanden. In den ersten Jahren nach 89 mit wiederholter Verkündung der »politischen Rolle«, die sie fortan zu spielen gedenke – eine hohle Phrase, die nie mit konkreten Inhalten gefüllt, aber auch in keinem der 16 Mitgliedsstaaten ernsthaft hinterfragt wurde. Es folgte die Diskussion um die Ausdehnung nach Osten – mit all ihren Vorspielformen wie der »Partnerschaft für den Frieden« oder dem NATO-»Kooperationsrat«.
Nachdem sich der Beschluss des Pariser KSZE-Gipfels vom November 1990, die KSZE , das „Herzstück der europäischen Architektur“ (Kohl in seinen Thesen zur deutschen Vereinigung vom Herbst 89) nun zur gemeinsamen, kollektiven Sicherheitsinstitution für das Gebiet vom Atlantik bis zum Ural auszubauen, als leeres Versprechen der NATO-Staaten erwiesen hatte, gab es für die Ostausdehnung auch die »Partner«, auf deren »legitime Sicherheitsbedürfnisse« und Beitrittswünsche sich die NATO berufen konnte.
Schließlich der Krieg in Bosnien: geradezu ein Glücksfall für die Neulegitimierung der NATO, nachdem sich zuvor die EU mit ihrem Anspruch auf eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik blamiert hatte und die UNO insbesondere von NATO-Regierungen zum Sündenbock für ihr eigenes Scheitern in Bosnien gemacht wurde. Wenn bis April nichts Wesentliches mehr schief läuft, kann die Allianz zum 50. Geburtstag in Washington ihre »friedensstiftende Rolle« im Kosovo feieren.
Dann besteht erst Recht die Gefahr, dass die beiden erneut in erster Linie von den USA angestrebten Änderungen der NATO-Strategie auch vollzogen werden – ohne größere Debatte. Obwohl diese Änderungen – einmal ganz abgesehen von ihrer eindeutigen Völkerrechtswidrigkeit – weit gravierender sind als alle Korrekturen der Jahre 1949-89: Die NATO soll zum weltweit einsatzfähigen Interventionsinstrument werden, auch ohne UNO-Mandat; per Atomwaffendrohung der NATO sollen sogenannte »Schurkenstaaten« künftig von der Anschaffung und dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln und ballistischen Raketen abgeschreckt werden.
Das böse Erwachen kommt gewiss. Spätestens wenn es in einigen Jahren nicht mehr um Konflikte in Bosnien oder dem Kosovo geht, wo die NATO-Staaten und Russland – trotz aller öffentlichen Kontroversen – nicht wirklich substanzielle und gegensätzliche Interessen verfolgen. Sondern zum Beispiel, wenn es um Konflikte im Kaukasus geht, einer Region mit riesigen, geostrategisch bedeutsamen Öl- und Gasvorkommen, um deren Ausbeutung der Streit zwischen westlichen und russischen Ölkonzernen bereits voll entbrannt ist.
Andreas Zumach arbeitet als freier Journalist in Genf