W&F 2023/3

Das globale Dorf

Plädoyer für eine Erneuerung der VN-Friedensordnung

von Klaus Schlichtmann

Um heute zu einer etablierten und stabilen Friedensordnung zu gelangen, die mehr ist als nur ein Provisorium, bedarf es einer fundamentalen Revision des VN-Friedenssystems. Doch welche organisatorischen und rechtlichen Rahmen müssten dafür geschaffen werden, um dies möglich zu machen? Welche Bedingungen müssen erfüllt werden und welche Mittel stehen vielleicht sogar schon bereit, welche Institutionen gibt es schon? In der übertragenen Idee eines »globalen Dorfes« als einer klassenlos friedlich organisierten Gesellschaft soll hier ein Plädoyer für den friedlichen Wandel entfaltet werden, der das internationale Friedensorgan des Sicherheitsrates effektiver gestalten könnte.

Gedanken dazu, wie sich eine Gesellschaft organisieren ließe, die den Frieden dauerhaft sichern könnte, gibt es schon sehr lange – in der Geschichte gab es zahlreiche Wegbereiter dieser Überlegung. Schon zur »Achsenzeit« (Höhepunkt ca. 500 bis 200 v. Chr.) lassen sich in den gleichzeitig erscheinenden Friedensbotschaften in drei Weltregionen solche Tendenzen beobachten – Karl Jaspers war dies „ein Wunder“ (Jaspers 1952), weshalb er auch den Begriff der Achsenzeit schuf. Heutige Interpretationen dieser Zeit stärken darin auch die Idee, dass der Friedensgedanke und die Überzeugungen seiner Umsetzbarkeit keineswegs aus einem westlich liberalen Weltverständnis entstammen müssen – eine Dezentrierung vom nordisch-europäischen Friedensmodell. Auch die viele Jahrhunderte später in der Aufklärung entwickelten Zukunftsmodelle – liberalen, anarchistischen oder christlichen Zuschnitts – sind Bestandteil dieser Geschichte. Für die Aufklärung war der Freiheits- und Friedensgedanke ein wesentliches Element und bedeutender Anstoß. In diesen Konzepten war die friedliche »Organisation der Welt« (Schücking 1909) eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung eines dauerhaften Friedens.1

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kulminierten all diese Ideen im internationalen Staatenverband der Haager Friedenskonferenzen. Zweifellos hatte das Bewusstsein der Menschheit gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Stufe erreicht, das die politische Einheit der Welt möglich erscheinen ließ. Trotzdem hatte das in Den Haag begonnene Weltordnungsprojekt fast unüberwindliche Herausforderungen zu bestehen. Das Timing war perfekt, aber der große Erfolg blieb aus.

Der Haager Staatenverband, der mit den Friedenskonferenzen 1899 und 1907 begründet wurde, zerbrach an Deutschland. Die für 1914 geplante dritte Friedenskonferenz, für die Andrew Carnegie den Friedenspalast im Haag gestiftet hatte, fand nicht mehr statt. Auch die Folgeorganisation, der Völkerbund, scheiterte. Und die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Organisation der Vereinten Nationen ist zumindest friedens(ordnungs)politisch noch immer ein unvollendetes Projekt, das seiner Erfüllung harrt.

Eine Hoffnung sind die basisdemokratischen Elemente der Volkssouveränität, die es ermöglichen sollen, dass „Wir, die Völker“ (Präambel, VN-Charta) eine entscheidende Rolle spielen können, indem wir „unsere Kräfte vereinen […][,] internationale Einrichtungen in Anspruch nehmen […][,] Bedingungen schaffen [und] Grundsätze annehmen und Verfahren einführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird.“

Um die Bedeutung dieser Weltorganisation zu verstehen, müssen Historiker*innen und Völkerrechtler*innen allerdings aufhören, ein falsches Bild zu vermitteln und wichtige Informationen unter den Teppich zu kehren. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Wissenschaft und Politik den internationalen Staatenverband der Haager Konferenzen als Vorgänger des Völkerbundes und der Vereinten Nationen anerkennen würden (Schlichtmann 2003) – und die daraus stammenden friedenspolitischen Impulse als tragende Ideen für eine heutige Umsetzbarkeit globalen Friedens ernstnehmen würden. Dazu gehört die Idee der Übertragung souveräner Rechte an die Vereinten Nationen, inklusive aller Folgen, die damit zusammenhängen.

1. Das Friedensmodell der Vereinten Nationen — der Übergangsprozess

Für die Sicherung und Wahrung des Friedens ist nach der Charta der Vereinten Nationen der Sicherheitsrat zuständig – oder sollte es eben sein. Denn ein Übertrag souveräner Rechte an den Sicherheitsrat ist nicht erfolgt. Gemäß Artikel 106 der VN-Charta (»Übergangsbestimmungen betreffend die Sicherheit«) sind die Befugnisse des Sicherheitsrates dem eigenen Ermessen anheim gestellt; die Institution ist streng genommen immer noch nicht „per Gesetz“ befähigt worden, ihre Aufgaben effektiv wahrzunehmen.

Welche Missverständnisse und Irreführungen haben die jetzige Situation verursacht und dazu geführt, dass der Sicherheitsrat noch immer nicht in der Lage ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden? Erst das Inkrafttreten von Sonderabkommen der in Artikel 43 bezeichneten Art“ würde den Sicherheitsrat befähigen, „mit der Ausübung der ihm in Artikel 42 zugewiesenen Verantwortlichkeiten zu beginnen.“ (Art. 106) Das ist aber bislang nicht geschehen. Kurz: Der Sicherheitsrat braucht ein Grundgesetz. John Foster Dulles schrieb dazu schon in seinem 1950 erschienenen Buch »War or Peace«: „Der Sicherheitsrat ist kein Gremium, das vereinbartes Recht durchsetzt. Er ist sich selbst Gesetz.“ Dulles weiter: „Es sind keine Rechtsgrundsätze festgelegt, an denen er sich orientiert; er kann entscheiden, was er für zweckmäßig hält.“ (Dulles 1950, S. 194) Dabei hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, potentiell zumindest, „eine erheblich größere Machtfülle als sie der Völkerbundrat besaß.“ (Grewe 1948, S. 20)

Artikel 24 der VN-Charta sieht eigentlich vor, dass die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen – dies muss durch nationale Entscheidungen der Übertragung souveräner Rechte geschehen. Der Sicherheitsrat geht für die Zwischenzeit davon aus, dass er, wenn nötig, befugt ist, im Namen seiner Mitglieder „schnelle und wirksame Maßnahmen“ zu ergreifen, vorausgesetzt, dass neun der 15 Mitglieder und alle ständigen Sicherheitsratsmitglieder zustimmen. Diese Zwischenzeit dauert mittlerweile über 70 Jahre.2

Die tatsächliche Bedeutung des Auftrags in Artikel 24 VN-Charta wird jedoch heruntergespielt und seine Verbindlichkeit in Frage gestellt, mit der Folge, dass die Bestimmung nicht umgesetzt wird. Jurist*innen weltweit sollten die Phantasie haben, sich vorzustellen, was alles in so ein Übertragungsgesetz an friedenssichernden Vorschlägen hineingeschrieben werden könnte. Es wäre sinnvoll, um den Zweck der Bestimmung zu erfüllen, wenn die Mitgliedstaaten es unternehmen würden, Gesetze und Grundsätze zu definieren und zu formulieren und Vorschläge für Zuständigkeiten zu machen, die dem Rat als Anleitung dienen könnten.

Davor aber schrecken die Regierungen zurück, insbesondere wenn Teile ihrer nationalen Souveränität betroffen sind, die sie aufgeben müssten, nämlich ihre kriegerischen Befugnisse und das Recht, mächtige und kostspielige militärische Institutionen zu unterhalten, die darauf ausgerichtet sind, sich gegen mutmaßliche Feinde zu rüsten und die eigene Bevölkerung in Schach zu halten.

Das ist weit entfernt von dem, was die Verfasser*innen der Charta beabsichtigten. Wenn Artikel 24 umgesetzt worden wäre, so sollte man annehmen, wären die Staaten inzwischen größtenteils entwaffnet und das kollektive Sicherheitssystem in Betrieb. Lässt sich dieser ursprüngliche Plan der Vereinten Nationen überhaupt noch durchsetzen?

2. Der normative Fluss

Zahlreiche Bestimmungen in nationalen Verfassungen komplementieren den Art. 24 der VN-Charta. Der in Kiew geborene Jurist Boris Mirkine-Guetzévitch sprach schon vor Verabschiedung der VN-Charta von einem »Friedensverfassungsrecht« („droit constitutionnel de la paix“, Mirkine-Guetzévitch 1933); das sind Verfassungsartikel, die heute der Wirkungsabsicht der VN-Charta zuzurechnen sind und intendieren, mit ihr auf scheinbar »geheimnisvolle« Weise zusammenzuwirken (Mirkine-Guetzévitch 1951; für Beispiele siehe Kasten 1).

Diese sich ergänzenden Antikriegsbestimmungen könnten geeignet sein, die offensichtlichen Mängel der Vereinten Nationen zu beheben und die noch nicht realisierten Bestimmungen umsetzen zu helfen. Äußerungen von Politikern, wie die Rede des US-Präsidenten Harry S. Truman am 26. Juni 1945 bei der Unterzeichnung der Charta in San Francisco, bestätigen, dass eine solche Veränderung der Charta immer aktiver Plan war: „Die Charta […] wird im Laufe der Zeit erweitert und verbessert. Niemand behauptet, dass sie jetzt ein endgültiges oder perfektes Instrument ist. Sie wurde nicht in eine feste Form gegossen. Sich verändernde Weltbedingungen werden Neuanpassungen erfordern […]“ (Truman 1945). Der so vorgestellte »peaceful change« wird möglich, so das Argument in diesem Text, wenn das »Friedensverfassungsrecht« umgesetzt wird. Mehr als ein Dutzend weitere nationale Verfassungen sehen vor, dass der Gesetzgeber Schritte unternimmt, um einen auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden auf den Weg zu bringen (u.a. siehe Kasten 1).

3. Vom Scheitern und Fortführen

Der US-Kongress hatte 1949 eine Resolution verabschiedet, welche die „Entwicklung der Vereinten Nationen zu einer Weltföderation“ ins Auge fasste. Das amerikanische Interesse an einer föderalen, den Frieden sichernden Weltunion hatte Tradition und war gleich nach dem Krieg noch groß. Diese amerikanische Absicht wurde in der damaligen Bundeshauptstadt leider nicht wahrgenommen. Jost Delbrück (1935-2020), ehemaliger Direktor des renommierten Walther-Schücking-Instituts für Völkerrecht an der Universität Kiel bedauerte, dass schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chancen für eine substanzielle „nachhaltige Änderung der [deutschen] Haltung gegenüber einer friedenssichernden Weltorganisation […] nicht positiv“ waren, da die deutsche Realpolitik vor allem am Hegelschen Konzept der Machtpolitik festhielt, das der Idee einer ,internationalistischen‘ Friedensorganisation mit Skepsis begegnete.“ (Delbrück 1991, S. 212f.)

Die Folgen sind weithin sichtbar: Das Scheitern des ursprünglichen Plans der Vereinten Nationen in den ersten Jahren nach dem Krieg kann durchaus als Grund für die Rolle der Vereinigten Staaten als Weltpolizei gesehen werden. Auch scheint dadurch die militärische »Friedenssicherung« wieder akzeptierter und prominenter in den Vordergrund gerückt zu sein.3 Kann nun aber handlungspraktisch unter den derzeitigen Bedingungen der Übergang von einer USA als Weltpolizei zu den VN als Weltpolizei heute noch gedacht und bewerkstelligt werden? Insbesondere: Welche materiellen Schwierigkeiten jenseits rechtlicher Bedenken müssen überwunden und welche Bedingungen erfüllt werden?

Um dies an einem Beispiel möglichst konkret zu machen: Die ca. 800 US-amerikanischen und die übrigen auf der ganzen Welt verstreuten Militärbasen müssten beispielsweise in praktische Friedens- und Abrüstungszentren umgewandelt werden. Diese dem Selbstverständnis vieler Nationen dem Frieden oder zumindest der Friedenssicherung dienenden Stützpunkte müssen den Vereinten Nationen unterstellt und letztendlich abgebaut werden. Engagierte, gut ausgerüstete Friedensbrigaden, bestehend aus „Wir, die Völker,“ sollten den Vorgang begleiten.

Bereits 1961 hatten die USA und die UdSSR „die Auflösung militärischer Einrichtungen einschließlich aller Stützpunkte“ sowie „die Abschaffung der militärischen Ausbildung und die Schließung aller militärischen Ausbildungsstätten“ gefordert und vorgeschlagen, „eine internationale Abrüstungsbehörde im Rahmen der UNO zu errichten.“ Das nach den Unterhändlern John McCloy und Walerian Sorin benannte McCloy-Sorin-Abkommen wurde im Dezember 1961 einstimmig in der Vollversammlung der UNO verabschiedet. Es gibt also sogar schon Abkommen für die praktische Umsetzung dieser Vision.

Wenn meine Interpretation der VN-Charta also richtig ist, hat der Sicherheitsrat sich nach dem Zweiten Weltkrieg den Mitgliedstaaten geöffnet, damit diese gesetzgeberisch tätig werden können, um das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen auf den Weg zu bringen. Der Völkerbund hatte diese Möglichkeit nicht. Den nationalen Parlamenten sollte damit die Möglichkeit eröffnet werden, die Ausarbeitung einer Verfassung für die zukünftige Weltorganisation in Angriff zu nehmen.

4. Das globale Dorf als Vision

Der Gedanke der politischen Vereinigung der Menschheit lag am Ende des 18. Jahrhunderts in der immer enger zusammenwachsenden Weltgemeinschaft „in der Luft.“ Zu den Bemühungen, die Entwicklung des Völkerrechts voranzutreiben, gehörte auch eine Konferenz der Interparlamentarischen Union (IPU), auf der die Staaten überlegten, den „Verzicht auf das Mittel des Krieges in ihre Verfassung aufzunehmen“ (Wehberg 1930, S. 142).4

Immer mehr wurde die Erde im 20. Jahrhundert zu einem »globalen Dorf«. Diese Vorstellung von der politischen Einheit der Welt wurde im Weltsystem der Vereinten Nationen weitgehend realisiert. Überzeugend hatte der Kanadier Herbert Marshall McLuhan schon in den 1960er Jahren in seinem Buch »Understanding Media« dargelegt, wie die Vernetzung durch Technologie eine »neue Welt« in ein globales Dorf verwandelte, eine Verbundenheit, die sich auch politisch positiv und friedensfördernd auswirken müsste (McLuhan 1964). Insbesondere nach Aufkommen des Internets brach sich dieser Trend massiv Bahn.

Um die Idee des »globalen Dorfes« mit ihren friedenspolitischen Implikationen noch etwas weiter auszubauen, will ich hier auf die Arbeiten des Internationalen Komitees für Intellektuelle Zusammenarbeit des Völkerbundes (International Committee for Intellectual Cooperation, ICIC), der Vorgängerorganisation der UNESCO, mit Sitz in Paris, eingehen. Es ist möglich, dass der indische Vertreter im ICIC, Sarvepalli Radhakrishnan, bekannte Vorstellungen des indischen politischen Systems zur Sprache brachte, die mit der zukünftigen Organisation des Sicherheitsrates zusammenhängen könnten. Bei der ICIC standen schon in den 1930er Jahren friedenspolitisch weitreichende Themen wie „die Möglichkeit und Bedingungen einer Organisation kollektiver Sicherheit und friedliche Methoden des Wandels“ auf der Agenda (Zimmern 1936, Bourquin 1936). Diese Themen und Planungen erlangten gerade auch mit Adolf Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 und dem darauffolgenden Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund eine über die Zeit des Nationalsozialismus hinausreichende, zukunftsweisende Bedeutung.

Sarvepalli Radhakrishnan galt damals in den Augen westlicher politischer Denker als „ein überzeugender Interpret der Rolle östlicher Institutionen in heutigen Gesellschaften“ und als „die anerkannte hinduistische Autorität für [bestimmte] indische Vorstellungen“ (Mackenzie Brown 1970, S. 153). Für eine zukünftige internationale Organisation könnte Radhakrishnan damals die traditionelle Institution des Dorf-Panchayat, eines Systems der Selbstverwaltung, das in den Dörfern Indiens praktiziert wird, bestehend aus einem fünf Mitglieder umfassenden Ältestenrat, ins Gespräch gebracht haben.5 Ich gehe davon aus, dass dieses basisdemokratische indische politische Konzept nicht unbekannt war; zudem ist es ein Konzept, dessen Wirksamkeit empirisch nachgewiesen werden kann. Der »Panchayati Raj« ist das wohl älteste, grundlegendste und weitreichendste demokratische politische Konzept, das Indien jemals hervorgebracht hat. Für Mahatma Gandhi war es das „Fundament des indischen politischen Systems.“ (Mohan 2012) Entscheidungen des Dorf-Panchayat beruhen auf dem Einstimmigkeitsprinzip, ähnlich wie es bei den fünf Vetomächten der UN, den »P5« der Fall ist. Das für unseren Zusammenhang einzig Relevante ist, dass dieses System funktioniert. Dieser Gedanke einer dorfähnlich, basisdemokratisch-konsensuell organisierten globalen Staatengemeinschaft, die sich das Ringen um den Frieden zur dominanten Aufgabe macht, soll hier als Leitvision für eine Transformation der heute gültigen VN-Friedensorgane dienen.

5. Transformation des Sicherheitsrates

Neben den Hindernissen aus den historischen, verfassungs- und völkerrechtlichen Gegebenheiten und Voraussetzungen (Nicht-Übertragung der Hoheitsrechte, Nichtvollendung der globalen Friedensunion) spielen natürlich auch die Mächte- und Kräfteverhältnisse in den Organen eine entscheidende Rolle, um sicherzustellen, dass optimale Bedingungen für Problemlösungen auf Weltebene gewährleistet werden können.

Gerade dies stellt uns natürlich vor erkennbare Herausforderungen. Wir müssen erkennen, dass das Vetorecht nur die negative Kehrseite des für eine friedliche Streitlösung und eine effektive Exekutive unerlässlichen Konsensprinzips ist. Vielleicht wird es uns dann leichter fallen, eine solche nach internationalen Rechtsprinzipien organisierte Entscheidungsfindung zu akzeptieren.

Es ist leicht einzusehen, dass kleine Gruppen, die Entscheidungen nach dem Konsensprinzip fällen sollen, aus nicht zu vielen Personen bestehen dürfen. Jede Zahl größer als fünf würde es erschweren, einen Konsens zu erzielen. Eine geringere Zahl würde die Einhaltung des Grundsatzes der angemessenen geografischen Verteilung – eine Bedingung des Artikels 23 der VN-Charta – nicht gewährleisten können. Um einer angemessenen Repräsentation etwas näher zu kommen, sollten die europäischen Sitze neu organisiert und der Kreis der Entscheider*innen um einen Repräsentanten des Globalen Südens ergänzt werden.

Wir haben jedoch einstweilen kaum eine andere Wahl, als die »P5« für unsere Zwecke als hinreichend qualifiziert anzuerkennen. Es sind dieselben Mächte, die sich schon im Haag für die Abrüstung und die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten eingesetzt hatten. Aufgrund ihrer gemeinsamen Erinnerungskultur sind sie, gewissermaßen, eine verschworene Gemeinschaft, die einem gemeinsamen Ziel verpflichtet ist: Alle zwei Wochen kommen die Vertreter*innen des Generalstabsausschusses (»military staff committee«) der »P5« zu Beratungen zusammen. Der Vorsitz rotiert monatlich. Die durch Kriege und zahllose enttäuschte Hoffnungen geschmiedete Gemeinschaft der »P5« ist einander andererseits in vielerlei Hinsicht verpflichtet und verbunden.

Schluss

Offenbar lag und liegt es jedoch im Interesse einiger Staaten, die pazifistischen Ausrichtungen der Vereinten Nationen zu diskreditieren und zu boykottieren, um einseitig nationalen Interessen und langfristig revanchistischen Zielen Vorschub zu leisten.

Dass das »Panchayati Raj«, gegründet auf dem Prinzip der Einstimmigkeit, in der Realität wirklich funktioniert, müsste als empirischer Beweis ausreichen, um deutlich zu machen, dass dieses System auch auf Weltebene Anwendung finden kann. Der internationale Friede und die internationale Sicherheit können nicht gewährleistet werden, solange der Sicherheitsrat nicht effektiv funktioniert und seine Autorität und sein Ansehen allein auf Macht, politischem Opportunismus, nuklearer Abschreckung, Erpressung und willkürlichen Entscheidungen beruht.

Um den Prozess des Übergangs zu echtem Frieden und Sicherheit einzuleiten, müssen die europäischen Verfassungsbestimmungen, die eine Übertragung der „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ an die Vereinten Nationen ermöglichen, umgesetzt werden.

Es war Radhakrishnan, der schrieb:

„Wir müssen einen Teil unserer Souveränität abgeben, zusammenarbeiten, um jede Art von Ungerechtigkeit zu beseitigen […]. Die Vereinten Nationen sind der erste Schritt zur Schaffung einer maßgeblichen Weltordnung. Sie haben aber noch nicht die Befugnis, die Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen […]. Die Herausforderung, die uns offen steht, ist das Überleben oder die Vernichtung […]. Sind wir bereit, einen Bruchteil unserer nationalen Souveränität aus Gründen einer Weltordnung aufzugeben?“ (Radhakrishnan 1980, S. 45, 52, 135)

Vielleicht braucht die Welt so etwas wie ein neues »Göttinger Manifest«, um gegen die Möglichkeit eines Atomkrieges und für die sofortige Realisierung des Sicherheitssystems der Vereinten Nationen ein machtvolles Wort einzulegen. Die hier skizzierten historischen und völkerrechtlichen, sowie die konzeptionellen Linien der Übertragung der Hoheitsrechte und der Umgestaltung bzw. Umbesetzung des Sicherheitsrates könnten dafür den Rahmen bieten – so dass das globale friedliche Dorf endlich entstehen darf.

Beispiele für Verfassungsartikel zur Beschränkung der Souveränität

  • Artikel 24 des Bonner Grundgesetzes ist eine wesentliche Bestimmung des Friedensverfassungsrechts, welche den Übergang zu echter kollektiver Sicherheit und Abrüstung im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen „durch Gesetz“ ermöglichen soll.
  • Eine ganz ähnliche Verfassungsbestimmung ist der italienische Artikel 11 von 1948, in dem Italien „Beschränkungen seiner Souveränität zu(stimmt),“ nämlich solchen, „die für eine Organisation erforderlich sind, die Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Nationen gewährleistet.“
  • Auch Dänemarks Artikel 20 aus dem Jahr 1953 ermöglicht es dem Gesetzgeber, Befugnisse auf internationale Behörden „durch einen Gesetzentwurf zur Förderung der internationalen Rechtsordnung und Zusammenarbeit“ zu übertragen.
  • Artikel 115 der norwegischen Verfassung von 1965 lässt Beschränkungen der nationalen Souveränität mit dem Ziel zu, „den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten“ sowie „das internationale Recht und die internationale Ordnung und die Zusammenarbeit zwischen den Nationen zu fördern.“
  • Ähnlich die Demokratische Republik von Ost-Timor, welche „die allgemeine, gleichzeitige und kontrollierte Abrüstung“ und die „Einrichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit“ anstrebt. (2002)
  • Exemplarisch ist die französische Verfassung von 1946, die „Beschränkungen der Souveränität akzeptiert, die für die Organisation und Verteidigung des Friedens notwendig sind,“ allerdings, wohl mit Hinblick auf Deutschland, „unter der Bedingung der Gegenseitigkeit.“
  • Relevant ist auch der japanische Kriegsverzichtsartikel 9 (A9), den der pazifistische Premierminister der Nachkriegszeit, Kijuro Shidehara, vorschlug. Die Bestimmung postuliert eine Hoheitsbeschränkung und im Schlußsatz eine allgemeine Regel: „Das Recht des Staates auf Kriegführung wird nicht anerkannt.“ Das Prinzip der »Nicht-Anerkennung« richtet sich in erster Linie und vor allem auch an die demokratische Basis.

Quelle: Eigene Zusammenstellung des Autors

Anmerkungen

1) Das Buch, in dem Schücking sich für eine Weltföderation ausspricht, ist 1918 auch in englischer Übersetzung erschienen, mit dem Titel »The International Union of the Hague Conferences«. In den USA hatte der Quäker Benjamin Franklin Trueblood 1899 ein Buch mit dem Titel »The Federation of the World» veröffentlicht.

2) Eine wichtige und lesenswerte Abhandlung über die politischen Bedingungen der »Übergangszeit« stammt von Quincy Wright von 1942. Sie könnte uns auch heute noch Anregungen geben, wie dieses Dilemma zu überwinden sein könnte.

3) Offen ist in der Bewertung dieser Entwicklung, welche ursächliche oder maßgebliche Rolle das Säbelrasseln und der virulente Antikommunismus und Militarismus christ-demokratischer westdeutscher Regierungen gespielt haben, die sich in den ersten Nachkriegsjahren von ehemaligen prominenten Nazis wie Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts unter Konrad Adenauer von 1953 bis 1963, beraten und leiten ließen.

4) Es gab offizielle diplomatische Bemühungen, ein allgemeines Kriegsverbot in die nationalen Verfassungen zu schreiben. Das war Thema und Ziel der Konferenz. Die Idee hatte „[b]ei den Verhandlungen der juristischen Kommission der Interparlamentarischen Union […] keinen Widerspruch gefunden“ und selbst in den USA wurde 1926, angeregt von der »Women’s Peace Union«, eine Änderung der amerikanischen Verfassung in Aussicht gestellt, um den Krieg zu ächten (Wehberg 1930).

5) Sarvepalli Radhakrishnan spielte eine bedeutende Rolle bei der Weiterentwicklung des Panchayat-Systems, als er Vorsitzender des 1960 gegründeten Panchayat- Komitees wurde. Dieses Komitee ist allgemein als Radhakrishnan-Komitee bekannt.

Literatur

Bourquin, M. (Hrsg) (1936): A record of the seventh and eighth International Studies Conferences. Paris, 1934–London 1935. Paris: International Institute of Intellectual Co-operation.

Delbrück, J. (1991): Deutschland und die Vereinten Nationen – Rückschau und Perspektiven. In: Koch, E. (Hrsg.): Die Blauhelme. lm Einsatz für den Frieden. Frankfurt a.M. und Bonn: Report Verlag, S. 211-219.

Dulles, J. F. (1950): War or peace. New York: Macmillan.

Grewe, W. G. (1948): Die Satzung der Vereinten Nationen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Jaspers, K. (1952): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München: Piper.

Laqua, D. (2011): Transnational intellectual cooporation, the League of Nations, and the problem of order. Journal of Global History 6(2), S. 223-247.

Mackenzie Brown, D. (1970): The nationalist movement: Indian political thought from Ranade to Bhave. Berkeley und Los Angeles: University of California Press.

McLuhan, M. (1964): Understanding media. The extensions of man. London u.a.: Routledge & Kegan Paul.

Mirkine-Guetzévitch, B. (1933): Le droit constitutionnel et l’organisation de la paix (droit constitutionnel de la paix). Recueil des Cours, III, 45, o.S.

Mirkine-Guetzévitch, B. (1951): La Renonciation à la Guerre dans le Droit constitutionnel moderne. Revue Héllenique de Droit International 4(3-4), o. S.

Mohan, A. (2012): Utopia and the village in South Asian literatures. London: Palgrave Macmillan.

Radhakrishnan, S. (1980): Towards a new world. New Delhi and Bombay: Orient Paperbacks.

Schlichtmann, K. (2003): Japan, Germany and the idea of the two Hague peace conferences. Journal of peace research 40(4), S. 377-394

Schücking, W. (1909): Die Organisation der Welt. Leipzig: Alfred Kröner Verlag.

Trueblood, B. (1899): The federation of the world. Boston und New York: Houghton, Mifflin and Co.

Wehberg, H. (1930): Die Aechtung des Krieges. Eine Vorlesung an der Haager Völkerrechtsakademie und am „Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales“ (Genf). Berlin: Verlag von Franz Vahlen.

Wright, Q. (1942): Political conditions of the period of transition. Second Report of the Commission to Study the Organization of Peace. International Conciliation, no. 379, S. 264-279.

Zimmern, A. (1936): Neutrality and collective security., Chicago: University of Chicago Press.

Klaus Schlichtmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der SA9-Kampagne, die sich für die Umsetzung des Artikel 9 der japanischen Friedensverfassung einsetzt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/3 Gesellschaft in Konflikt, Seite 46–50