W&F 2024/1

Das „Patriarchat abbauen“

Eine Reflexion über die »Neue Agenda für den Frieden«

von Liliane Nkunzimana

Anlässlich des 75. Jahrestags der Vereinten Nationen im Jahr 2020 forderten die Mitgliedstaaten vom Generalsekretär einen Bericht an, der aktuelle und künftige Bedürfnisse adressieren sollte. Als Antwort enthielt der Bericht »Our Common Agenda« fast 100 Empfehlungen (und 11 Kurzdossiers), die auf die Anliegen der Mitgliedstaaten eingingen. In einem der elf Kurzdossiers wird eine »Neue Agenda für den Frieden« gefordert, in der der Generalsekretär feststellt: „Wir müssen das Patriarchat und unterdrückende Machtstrukturen abschaffen…“.

Diese Aufforderung des Generalsekretärs stand nun schon im Mittelpunkt einer Reihe von Überlegungen, da das Strategiepapier nicht sehr detailliert darauf eingeht, was mit »Abbau des Patriarchats« gemeint ist. Es hat denjenigen, die mit dem UN-System zu tun haben, die Möglichkeit eröffnet, Analysen anzubieten. Einige Diskussionen der letzten Monate bei den Vereinten Nationen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie wir das Patriarchat definieren und wie wir achtsame und notwendige Diskussionen führen können, die jedes Mitglied der Gesellschaft dazu ermutigen, auszudrücken, wie sich das Patriarchat als unterdrückende Machtstruktur negativ auf Männer und Frauen auswirkt.

Der Aufruf des Generalsekretärs, das Patriarchat zu überwinden, ist eine Anerkennung der gewaltigen Anstrengungen, die notwendig sein werden, um Denk-, Lebens- und Handlungsweisen zu überwinden, die auf Kontrolle und Privilegien beruhen und das Vertrauen untergraben haben – auch in die Fähigkeit des multilateralen Systems, angemessen auf die Bedürfnisse aller Menschen auf der Welt zu reagieren. Keine Gesellschaft kann als Vorbild für die Gleichstellung der Geschlechter gelten; wir leben noch nicht in einer Welt, in der Eingenschaften wie gegenseitiger Respekt, Kooperation, Zusammenarbeit, Fürsorge, Sorge um die Zukunft und Mitgefühl im Zentrum des Diskurses über die Verbesserung der Beziehungen untereinander und mit dem Planeten stehen. Diese Werte werden durch den Ruf des Generalsekretärs nach Vertrauen, Solidarität und Universalität in der »Neuen Agenda für den Frieden« ergänzt.

Obwohl das Wort »Patriarchat« selbst umstritten ist, charakterisieren Normen der Dominanz sowie besitzergreifende und ausgrenzende Formen der Macht, die herkömmlich damit verbunden sind, weiterhin zahlreiche Gesellschaften. Männlichkeit und Männer werden weiterhin als wertvoller angesehen als Weiblichkeit und Frauen, was ersteren Privilegien einräumt, die letzteren verwehrt bleiben. Diese Machtasymmetrie drückt sich häufig im Agenda Setting, bei der Entscheidungsfindung, der Versammlungsleitung und -einberufung und sogar in versteckten Formen von Einflussstrukturen aus, die die Beziehungen zwischen Institutionen und dem Einzelnen regulieren.

Wenn diejenigen Werte in den Mittelpunkt rücken, die in der »Neuen Agenda für den Frieden« verankert sind, trägt dies von sich aus zum Ziel bei, das Patriarchat und Formen der Hierarchie zu überwinden, die einer Minderheit von Völkern, Nationen und Regionen das selbstgegebene Privileg einräumen, folgenreiche Entscheidungen für die Mehrheit treffen zu können. Die Zentrierung solcher Werte könnte eine stärkere Regionalisierung und Lokalisierung von peacebuilding, Friedenssicherung und friedenserzwingenden Maßnahmen ermöglichen und die Bedenken bestimmter Staatenblöcke verringern, was die Finanzierung regionaler Friedensbemühungen angeht. Dies würde den Weg für ein größeres Maß an Vertrauen durch verstärkte Zusammenarbeit ebnen und regionale Blöcke in die Lage versetzen, besser abgestimmte Beiträge zu internationalen Agenda-Setting-Vorhaben zu leisten.

Da der »Zukunftsgipfel« (eine weitere der oben genannten Empfehlungen) nur noch sieben Monate entfernt ist, verhandeln die Mitgliedstaaten derzeit über einen ersten Entwurf des »Pakts für die Zukunft«, dem Ergebnisdokument dieses Gipfels. Es ist anzumerken, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Wahrung der Menschenrechte in dem Dokument gemainstreamed werden und nicht als separate Kapitel behandelt werden.

Aufgrund der globalen Rahmenbedingungen müssen wir heute einen konzeptionellen Rahmen entwickeln, der unsere höchsten Bestrebungen besser widerspiegelt. Wenn wir die obigen Werte bei der Analyse, Planung, Beratung, Politikgestaltung und im Handeln fokussieren, könnten die normativen Fragen im Zusammenhang mit der Verteilung von Macht und finanziellen Ressourcen, den Ursachen von Kriegen und gewaltsamen Konflikten und den Voraussetzungen, die für die Schaffung und Aufrechterhaltung friedlicher Gesellschaften erforderlich sind, sehr wohl neugestaltet werden. Wir können uns dann auf die Verwirklichung des Friedensversprechens zubewegen, das den internationalen Bestrebungen zugrunde liegt. Wir können beginnen ein ganzheitlicheres Friedenskonzept zu formulieren, das nicht nur auf der Ausrottung des Krieges fußt, sondern auf dem Aufbau einer in ihrer Vielfalt geeinten Welt, die in Harmonie mit der Natur lebt und kontinuierliches Lernen fördert, in der die Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen verwirklicht wird – und das Patriarchat abgebaut ist.

Liliane Nkunzimana ist die Vertreterin der Internationalen Gemeinschaft der Baha‘i bei den Vereinten Nationen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 5