W&F 2003/2

Das Rüstungspotenzial im Nahen und Mittleren Osten

von Christian Mölling und Götz Neuneck

Ein neuer Krieg im Nahen Osten erscheint wahrscheinlich. Viel Aufmerksamkeit widmen Zeitungen und Kommentare dem vermuteten Rüstungspotenzial des Irak, das aufgrund der in Kraft befindlichen Sanktionen sicher nicht mehr die militärische Stärke besitzt, die sich Diktator Saddam Hussein vor dem zweiten Golfkrieg 1991 u.a. auch mit westlicher Unterstützung zugelegt hatte. Aber was ist mit den Nachbarn des Irak? Kann ein Krieg mittels der militärischen Überlegenheit der USA auf eine spezifische Region beschränkt werden? Wie steht es mit der Anwesenheit von Massenvernichtungswaffen in der Region? Diese Fragen sind Variablen einer hochkomplexen Gleichung, deren Antworten mit über Krieg und Frieden in einer gewaltträchtigen und mit Waffen angereicherten Region entscheiden können.
Der ehemalige US-Verteidigungsminister William S. Cohen bezeichnete 1997 die Bedrohung im Mittleren Osten als eine „chronische Krankheit“. In dieser Region gab es zwischen 1948 und 1982 fünf große israelisch-arabische Kriege. Am Arabisch-Persischen Golf fanden zwei Golfkriege statt: 1981 bis 1988 zwischen dem Irak und Iran und 1991 – nach der Besetzung Kuwaits – zwischen einer westlichen Allianz, angeführt von den USA, und dem Irak. Ein erneuter Waffengang dürfte weitreichende Auswirkungen auf die Region haben. Eine politische Ordnung für die Zeit nach einem neuen Irakfeldzug ist hingegen nicht in Sicht. Eine Verschärfung der Konfrontation insbesondere zwischen Israel und den Palästinensern wäre wahrscheinlich. Beide Konfliktszenarien, Irak und Israel-Palästina könnten weitere Staaten in schwere Auseinandersetzungen verwickeln. Die Präsenz der US-Truppen am Golf entscheidet dabei mit über die innere Stabilität der arabischen Staaten und die Sicherheit Israels.

Die folgende, im Schwerpunkt quantitative Beschreibung der militärischen Verhältnisse soll das enorme Gewaltpotenzial aufzeigen, das in der Region angehäuft ist. Bei der Summierung von Militärarsenalen und geheimen Programmen ist allerdings Vorsicht geboten. Viele Angaben zu den jeweiligen Streitkräften sind Schätzungen oder entstammen Geheimdienstquellen, die nicht als objektiv angesehen werden können. Zudem genügt für ein umfassendes Bild nicht allein die Feststellung der jeweiligen Kapazitäten. Das strategische Umfeld sowie politische, ökonomische und geografische Faktoren sind weitere wichtige Indikatoren. Auch ist heute nicht nur die Quantität von Waffensystemen ausschlaggebend, sondern auch deren Qualität und Einsetzbarkeit im Rahmen der jeweiligen Militärstrategie und der dahinterstehenden politischen Ziele.

Sicher ist, dass der Grad der Militarisierung in der Region extrem hoch ist, wenn man Faktoren wie die Zahl der Soldaten, die Rüstungsausgaben oder die Waffenarsenale als Indikatoren verwendet. Die Zahl der Soldaten in der Gesamtregion1 beträgt laut IISS ohne Reserven und paramilitärische Verbände ca. 2,9 Millionen. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Soldaten auf 109 Einwohner. Noch höher ist die Dichte in der Kernregion des Nahen Ostens: Dort kommt ein Soldat auf 99 Einwohner.2

Die Militärausgaben in der Region sind in den letzten 10 Jahren (1992-2001) von 52,3 Mrd. US$ auf 72,4 Mrd. US$ gestiegen – dies entspricht einer Steigerung um 20,1 Mrd oder 38%. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht: Israel hat seinen Verteidigungsetat für 2002 um 983 Mio. US$ auf über 10 Mrd. US$ erhöht.3 Die damit verbundene Aufrüstung dürfte von den arabischen Nachbarn nicht unbeantwortet bleiben.Betrachtet man das letzte Jahrzehnt, so ist der Nahe Osten nach Ostasien die schwerstbewaffneste Krisenregion der Welt.4 Die Militarisierung der Region ist bei der Anzahl schwerer Waffen leicht rückläufig – was u.a. daran liegt, dass das Waffenembargo dem zuvor schwer bewaffneten Irak verbietet, neue schwere Waffen zu erwerben. Zudem veralten vorhandene Systeme und sind zunehmend unzuverlässig. Über 6% des BSP werden in der Region in Rüstung investiert. Führend sind hier Saudi-Arabien (11,6%), Israel (8,0%) und Jordanien (9,5%). Die Militärausgaben als Anteil am nationalen BSP sind heute leicht rückläufig, was wohl auf die Überrüstung nach dem 2. Golfkrieg und die schlechte wirtschaftliche Lage einiger Länder zurückzuführen ist.5 Bis heute stellen die großen Arsenale eine erhebliche Belastung für die Haushalte der betroffenen Staaten dar. Ein Krieg um den Irak könnte weitere Belastungen, Rüstungsimporte und Neuanschaffungen nach sich ziehen. Bei einer Neuordnung der Region könnte der Rüstungswettlauf wieder angeheizt werden.Der Nahe Osten ist und bleibt zudem der »größte Waffenmarkt der Welt«. Insbesondere nach den Kriegen 1967 und 1973 gab es Aufrüstungswellen, die erheblich von der Sowjetunion (Irak und Syrien bis Ende der 80er Jahre), den USA sowie Frankreich und Großbritannien unterstützt wurden. Teilweise wechselten die Hauptlieferanten. Bis zum Nahostkrieg 1973 wurde Ägypten von der Sowjetunion, dann von den USA beliefert. Syrien erhält seine Waffen bis heute von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Jordanien, Kuwait und Saudi-Arabien werden heute von den USA beliefert. Israel wurde bis 1967 mit französischen Waffen versorgt, danach im wesentlichen durch die USA finanziell sowie durch Waffenlieferungen unterstützt.6Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 war für Israel der Anlass, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Der israelische Staat besitzt als Einziger in der Region eine eigenständige Rüstungsindustrie. Wenngleich rüstungstechnisch von den USA abhängig, besitzt die Atommacht eine eigene Waffenproduktion (insbes. Panzer, Raketen, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper, Elektronik, Militärfahrzeuge und Kleinwaffen). Israel produziert jedoch nicht nur für den eigenen Markt, sondern gehört zu dem Dutzend der größten Waffenlieferanten. Für Israel ist der Waffenexport und die militärtechnische Zusammenarbeit (u.a. mit der Türkei, und China) ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor. Rund ein Viertel der israelischen Exporte bestehen aus Waffen und anderen Rüstungsgütern. Im Jahre 2000 verkaufte man Rüstungstechnologie im Wert von 3,5 Mrd. US$, das sind 2,2% des weltweiten Gesamtumsatzes.7 Doch weder Israel noch die arabischen Staaten sind rüstungstechnisch unabhängig. Alle Staaten des Nahen Ostens importieren den Großteil ihrer Waffen.Auch die Rüstungseinfuhren geben die fortschreitende Hochrüstung der Region wieder. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes flossen ca. ein Viertel aller Waffentransfers in den Nahen Osten. Alle Staaten im Nahen Osten befinden sich im oberen Drittel der Importeursstatistik. An der Spitze der Importeure, und dabei unter den drei weltweit größten Waffenkäufern liegt Saudi Arabien, das 2001 für ca. 4,8 Mrd. US$ importierte, gefolgt von der Türkei. Der Schwerpunkt der Importprodukte liegt bei schweren Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Panzerabwehrwaffen, mobiler Luftabwehr, Kampfhubschraubern und Kampfflugzeugen. Das wichtigste Rüstungsziel ist die allgemeine Modernisierung der vorhandenen Rüstungen. Das Gesamtvolumen der Importe in die Region betrug 2001 2,1 Mrd. US$. Diese Zahl übersteigt die Rüstungseinfuhren nach Südasien (2,0 Mrd.). Zum Vergleich: Europa führte für 3,9 Mrd. US$ Waffen ein.8

Konventionelle Streitkräfte der wichtigsten Staaten im Nahen Osten

Hier sollen kurz die schweren Landwaffen und die Luftstreitkräfte vorgestellt werden, die bei großen Militäraktionen ausschlaggebend sind.9

Irak

Entgegen der öffentlichen Meinung ist der Irak nachhaltig geschwächt. Die Sanktionen und Embargos haben ein Wiedererstarken verhindert. Die Republikanischen Garden stellen nur einen Macht(erhaltungs)faktor nach innen dar. Bei anderen Teilen der 400.000 Mann starken Armee liegt die Kampfeffektivität nur bei ca. 50%. Das Material ist weitgehend veraltet und es fehlen Ersatzteile. Die Luftwaffe kann laut IISS deswegen nur ca. 55% ihrer knapp 350 Maschinen nutzen. Die Artillerie umfasst ca. 2.200 Geschütze und 200 Raketenwerfer. Die Zahl von 2.600 Panzer erscheint zwar beeindruckend, doch sind diese veraltet (u.a: T-55). Insgesamt stellt der Irak keine konventionelle Gefahr wie noch 1991 dar.10

Syrien

Die syrische Armee (319.000 Mann) leidet, wie viele andere Armeen in der Region, unter einer schweren Modernisierungskrise. Quantitativ der israelischen Armee ebenbürtig, sind ihre Waffensysteme (3.700 Artilleriegeschütze; ca. 500 Raketenwerfer, 4.700 Panzer) veraltet. Eine moderne Luftabwehr ist ebenso wenig anzutreffen, wie eine funktionstüchtige Luftwaffe (ca. 600 Kampfjets).11

Isarel

Die israelische Armee (160.000 Mann) Armee ist ohne Frage die modernste der Region. Dies bezieht sich insbesondere auf den Großteil der 3.700 Panzer und auf die Luftwaffe. Auch die 2.800 Artilleriesysteme, 400 Raketenwerfer und 1.300 Startgeräte für die Panzerabwehr werden als relativ modern angesehen. Israel strebt nach der Verbesserung seiner Marine und seiner Aufklärungsfähigkeiten sowie nach der Schaffung des »battlefield management«. Ebenso genießt in Tel Aviv das »Arrow«-Abwehrsystem gegen Scud-Raketen hohe Priorität. Insgesamt will man dafür ca. 1,3 Mrd. US$ ausgeben. Außerdem besteht der Wunsch, die Marine stärker in die Kriegführung zu integrieren.12

Saudi Arabien

Die mit 124.000 Mann nicht sehr große Armee des Königreiches Saudi Arabien wird ebenfalls als sehr modern angesehen: 315 moderne »Abrams«-Panzer summieren den Bestand auf gut 1.000 solcher Fahrzeuge. Die Artillerie ist mit ca. 300 Geschützen und 60 Raketenwerfern eher von untergeordneter Bedeutung. Die Luftwaffe besteht aus 600 Maschinen unterschiedlichen Alters.

Iran

Im Iran wird auf der Basis des positiven ökonomischen Wachstums langfristig eine Modernisierung der Armee angestrebt. Insbesondere sollen Luftabwehrsysteme, Kampfflugzeuge und Panzer aus Russland erworben werden. Derzeit verfügt der Iran über ca. 1.500 Panzer mittleren Alters, eine große Anzahl von Artillerie (2.300), 900 Raketenwerfer, kaum Panzerabwehrraketen sowie eine veraltete Luftabwehr und eine größtenteils veraltete Luftwaffe. 520.000 Soldaten stehen unter Waffen. Jedoch ist die Wartung und damit die Einsatzfähigkeit nicht immer gewährleistet.

Ägypten

Ägypten modernisiert seine Streitkräfte (443.000 Mann) – insbesondere die Panzerstreitmacht – mit starker Unterstützung der USA (z.B. »Abrams«, »Apache«).13 Die Armee verfügt über ca. 3.900 Panzer (T-55, Abrams), die Zahl der Geschütze ist dagegen gering.

Kleinere Golfstaaten

Die kleineren Golfstaaten14 fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht – nimmt man all diese Staaten zusammen, so erreichen die quantitativen Kapazitäten kaum die der arabischen Ringstaaten15 oder Israels. Auch für die Zukunft sind hier keine entscheidenden Veränderungen zu erwarten. Ausnahme bilden die Vereinigten Arabischen Emirate, die u.a. 390 Panzer und ca. 140 Kampfflugzeuge bestellt und z.T. schon erhalten haben. Kuwait hat eine beträchtliche Zahl von Panzerabwehrraketen (728) bestellt.16

In Reaktion auf diese individuelle Schwäche haben sich die kleinen Golfstaaten mit Saudi Arabien zum Golf-Kooperationsrat (GCC) zusammengeschlossen. Ziel ist u.a. der Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. In der Hauptsache konzentriert man sich hier auf die Errichtung eines »supreme defence council«, einer schnellen Einsatztruppe von bis zu 20.000 Mann und den Aufbau gemeinsamer C317- Fähigkeiten.18

USA

Bereits in »Friedenszeiten« stellen die US-Kräfte ein beträchtliches militärisches Potenzial in der Region dar. Die Zahl der US-Truppen in der Region beläuft sich auf ca. 20.000, die sich hauptsächlich auf Basen in der Golfregion und der Türkei aufhalten. Sie stieg nach Schätzungen von »Global Security« im November auf ca. 48.000 Mann. Enthalten sind hier um die 400 Flugzeuge sowie auch zwei Flugzeugträgerkampfverbände. Die Bodentruppen sind ein Mix aus Spezialeinheiten und Expeditionstruppen. Eine genaue Zahl so wie qualitative Bewertung ist jedoch aufgrund der vielen unsicheren Informationen schwer möglich.19

Vergleich Israel – arabische Nachbarstaaten

Der wahrscheinlichste innerregionale Konflikt wäre der Israels gegen seine Nachbarstaaten. Zwar gibt es offene Feindseligkeit zwischen Israel und anderen arabischen Staaten – doch eine direkte militärische Bedrohung stellen diese Staaten z.Z. nicht dar. Denn auch wenn bei den wichtigsten Vergleichszahlen, diese zu Gunsten einer Allianz der arabischen Staaten stehen, kann Israel auf qualitativen Ausgleich setzen. Rechnet man z.B. die Truppenstärken der arabischen Ringstaaten zusammen, so kommt man auf ein Verhältnis von ca. 1:5 zu Ungunsten Israels. Bei den wichtigsten Waffensystemen sieht es ähnlich aus (Panzer: 1: 2.6; Artillerie 1: 2,8; Flugzeuge: 1: 2.7; Helikopter. 1: 1,6).20 Die Qualität der israelischen Armee wird aber als sehr hoch eingeschätzt. Sie ist sehr gut ausgebildet, verfügt über erstklassige Ausrüstung und steht permanent im Kampfeinsatz. Außerdem hat sich Israel die Entwicklungen der »Revolution in Military Affairs« weitaus extensiver zu Nutze gemacht, als seine Nachbarn. So verfügt die Armee als einzige in der Region über ein integriertes System, das von der Datensammlung bis zur Zielbekämpfung und dem Führen der Einheiten auf dem Schlachtfeld alle wichtigen Elemente vereint – inklusive präziserer Waffen. Darüber hinaus stehen neue Hightechwaffen auf der Bestellliste.21

Diese Fähigkeiten sind nicht nur auf den Import solcher Systeme zurückzuführen. Israel gibt als einziger Staat der Region einen signifikanten Teil seiner Militärausgaben für militärische F&E aus: Im Jahr 2000 ca. 10% ( USA: 13%, BRD: 4,3%).22 Hinzu kommt, dass man auf eine hohe Zahl an Reservisten zurückgreifen kann, die im Gegensatz zu den Reserven der arabischen Staaten als hochwertige Verstärkung gelten. So kann in Kriegszeiten von einer realistischen Relation von ca. 1: 1,3 angegangen werden.23 Die israelische Armee hat in allen Kriegen gezeigt, dass Qualität die quantitative Überlegenheit des Gegners kompensieren kann. Hinzu kommt die permanente Professionalisierung der Armee durch die andauernden Kampfhandlungen und die Vernetzung der Funktionseinheiten der Armee. Mit all diesem kann kein anderer Staat in der Region aufwarten. Trotzdem deuten die stationierten Truppen einiger arabischer Länder darauf hin, dass diverse auch gerade kleinere Militäraktionen möglich sind. Opfer wird in der dicht besiedelten Region stets die Zivilbevölkerung sein.

Massenvernichtungswaffen

Im Mittleren Osten gibt es zahlreichen Aussagen zufolge diverse Staaten, die Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen (MVW) betreiben bzw. bereits über einsatzfähige Arsenale verfügen. C-Waffen wurden vom Iran (1984-1988) und dem Irak (1983 und 1978-1988) bereits eingesetzt. Wie in Syrien, Ägypten und Libyen ist das Vorhandensein von C-Waffen-Arsenalen in diesen Ländern in Form von Artilleriemunition, Raketensprengköpfen und an Bord von Flugzeugen sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es auch Anschuldigungen, Ägypten (1963-1967) und Libyen (1987) hätten ebenfalls C-Waffen eingesetzt. Israel besitzt sicher die Fähigkeit, die Produktion von B- und C-Waffen in kurzer Zeit aufzunehmen.

Ein einsatzfähiges israelisches Nukleararsenal gilt als gesichert. Die jeweilige Regierung hat weder die Existenz eines Nuklearwaffenprogramms noch sein Potenzial an Raketen bestätigt. Anderen Staaten wie z.B. dem Iran wird die Entwicklung einer eigenen Nuklearwaffe nachgesagt. Der Irak besaß ein Crash-Programm zur Entwicklung von Nuklearwaffen, das während des 2. Golf-Krieges und aufgrund der UNSCOM-Mission weitgehend zerstört bzw. eliminiert wurde.

Einige Staaten der Region verfügen schließlich über importierte, umgebaute oder selbstproduzierte Kurz- und Mittelstreckenraketen, die in der Lage sind, B- und C-Waffen zu transportieren.

Iran und Irak haben im Krieg Raketen extensiv gegeneinander eingesetzt. Iran, der als möglicher militärischer Antagonist für Israel angesehen wird, aber auch einige Nachbarstaaten, wie Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Libyen, besitzen ballistische Raketen kurzer Reichweite. Diese fußen im wesentlichen auf der sowjetischen Scud-Technologie.

Israel

Israel ist die führende Raketenmacht in der Region und besitzt eine eigenständige technologische Basis, um Boden-Boden-Raketen von mittlerer Reichweite zu produzieren, sowie auch dislozierte Systeme, die nuklear bestückt werden können. Die israelische Rüstungsindustrie besitzt weitreichende Kenntnisse über den Bau von Marschflugkörpern und Drohnen und kann solche Systeme mit Reichweiten von 200 bis 400 km produzieren. Die Jericho-Rakete gibt Israel die Möglichkeit, Ziele in allen Nachbarländern sowie im Iran und in Teilen der Türkei, Griechenlands und Libyens zu treffen. Auf der anderen Seite ist Israel von Ländern umringt, die über ballistische Raketen mit geringer Reichweite verfügen oder von denen angenommen wird, dass sie Mittelstreckenraketen entwickeln. Das Raketenabwehrprogramm »Arrow« sowie die amerikanische »Patriot« soll einigen Bevölkerungszentren zusätzlichen Schutz gegen Scud-Raketenangriffe gewähren.

Irak

Während der UNSCOM-Inspektionen, die die UN-Resolution 687 von 1991 dem Irak auferlegte, wurde klar, in welchem Umfang das Land an verschiedenen nuklearen, sowie B- und C-Waffen bzw. dazugehörigen Trägersystemen gearbeitet hat. Wie schon der Golfkrieg von 1991 gezeigt hatte, verfügte der Irak über eine umfangreiche Raketenstreitmacht kleiner Reichweite (300-600km), hauptsächlich aus sowjetischen Importen. Es war gelungen, die Reichweite der importierten Scuds auf 600 km zu steigern sowie Raketenkomponenten selbständig zu entwickeln. Es wird nicht ausgeschlossen, dass der Irak auch heute noch Komponenten für Mittelstreckenraketen (Al-Hussein) eingelagert hat, da die Vernichtung der Raketen nicht vollständig nachgewiesen werden konnte. Die IAEO hat das irakische Crash-Programm (seit 1991) zur Entwicklung einer Nuklearwaffe weitgehend aufgedeckt und die dazugehörigen Anlagen und Materialien zerstört. Erst 1995 wurde durch die Flucht eines Schwiegersohnes von Saddam Hussein die Größe des B-Waffenprogramms bekannt.24 Der Verbleib einiger importierter Nährstofflösungen und nicht zerstörter Anthrax-Kampfstoffe ist z.Z. noch nicht geklärt und Gegenstand der geplanten UN-Inspektionen.

Der Irak hatte bis zum Beginn des 2. Golfkrieges die C-Kampfstoffe Senfgas, Sarin, Tabun und VX hergestellt, insgesamt ca. 3.850 Tonnen. Die irakischen Streitkräfte hatten ca. 2.900 Tonnen C-Waffenkampfstoffe beim Krieg (1981 – 1988) gegen den Iran eingesetzt. Spezielle Raketensprengköpfe und Artilleriegranaten zum Verteilen dieser Substanzen wurden entwickelt und getestet. Im Rahmen der UN-Inspektionen wurden große Teile dieser Bestände und Herstellungsanlagen unter Aufsicht zerstört, so dass nach UN-Angaben der Irak heute keine C-Waffen mehr herstellt. Der Verbleib von Vorproduktionen, insbesondere des sehr gefährlichen C-Kampfstoffs VX ist z.Z. noch nicht vollständig geklärt. Zwischen 1981 und 1985 war der Irak einer der größten Importeure von militärischer Ausrüstung.

Iran

Abgesehen von Israel und dem Irak, rückt verstärkt der Iran in das Zentrum rüstungspolitischer Diskussionen. US-amerikanische und israelische Experten und Politiker warnen vor einem »aggressiven Programm« zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen sowie von ballistischen Raketen mit einer Reichweite bis zu 2.000 km. Kooperationsbeziehungen im zivilen Nuklearbereich mit China und Russland geben der Spekulation Auftrieb, der Iran könne als Land mit reichen Ölvorkommen auch auf eine Nuklearoption abzielen. Seit 1992 besteht ein russisch-iranischer Vertrag über den Bau zweier Atomkraftwerke. Während die russische Atomindustrie auf den Export ihrer Nukleartechnologie setzt, protestieren die USA immer wieder gegen die Kooperation, da sie dadurch einen Schub in den iranischen Nuklearambitionen befürchten.

Ein weiterer Anlass zur Sorge waren 1997 israelische Berichte über die eigenständige Entwicklung einer ballistischen Rakete (Shihab-3) mit einer Reichweite von 1.300 km, u.a. mit russischer und nordkoreanischer Hilfe. Weiterhin besitzt der Iran zwei Versionen von Scud-Raketen mit 300 bzw. 500 km Reichweite. Es wird auch angenommen, dass der Iran seit 1986 in der Lage ist, Giftgas zu produzieren und mindestens zwei Produktionsstätten errichtet hat. Mit der Produktion von Nervengas soll ca. 1994 begonnen worden sein. Im B-Waffenbereich werden dem Iran Forschungsaktivitäten und die Fähigkeit nachgesagt, im Bedarfsfall Anthrax und Botulin herstellen zu können. Die Bedrohungsanalyse der US-Geheimdienste NIE 2001 verweist darauf, dass der Iran mit Hilfe Nordkoreas auch Langstreckenraketen entwickelt. Die Ähnlichkeiten der Shihab-3- und der Nodong-Rakete scheinen dies zu bestätigen. Auch die teilweise zivilen Startplattformen Shihab-4, -5, -6 weisen einige bemerkenswerte Übereinstimmungen mit entsprechenden nordkoreanischen Raketenprojekten auf.

Ägypten

Ägypten besitzt neben Israel das am weitesten entwickelte industrielle Potential in der Region und produziert einige konventionelle Waffen selbst. Sowohl in den 50er (mit deutscher Hilfe) als auch in den 80er Jahren (mit Unterstützung durch Argentinien, Irak) wurde versucht, eigenständig ballistische Raketen (bis 1.000 km Reichweite) herzustellen. Die Streitkräfte verfügen über importierte Raketen (Frog-7, Scud-B) und über Antischiffsflugkörper aus China (HY-2 Silkworm). Produktionskapazitäten und begrenzte Bestände von Senf- und Nervengas werden vermutet. Im B-Waffenbereich und bei den Nuklearwaffen werden kleinere Forschungsaktivitäten angenommen.

Syrien

Die syrischen Raketenpotentiale und die militärische Ausrüstung waren lange Zeit abhängig von den Lieferungen aus der Sowjetunion. Syrien investierte viel Geld in seine Raketenprogramme und vernachlässigte seine Luftwaffe. Das sowjetische Regime hat Syrien mit Frog-7, Scud-B und SS-21 Raketen beliefert. Berichte sprechen davon, dass Syrien von Nordkorea auch eine begrenzte Zahl von Scud-Raketen mit größerer Reichweite erhalten hat. Syrien kann möglicherweise Nervengas selbst herstellen, was eine schwere Bedrohung für Israel darstellen würde. Syrien allerdings bestreitet die Entwicklung von C-Waffen. Es gibt auch Quellen, die annehmen, dass an B- Waffen im eingeschränkten Maße geforscht wird.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien ist besonders durch den Ankauf von chinesischen Mittelstreckenraketen hervorgetreten. 1988 erwarb die saudische Regierung eine unbekannte Anzahl von modifizierten CSS-2 von China. Die CSS-2 ist ein chinesischer Nuklearwaffenträger mit einer maximalen Reichweite von 3.500 km. Die CSS-2 könnte in der Lage sein, Städte mit einem konventionellen Sprengkopf anzugreifen. Mit der Rakete ist es der Ölmonarchie möglich, direkte Nachbarn sowie Teile von Iran und Türkei zu bedrohen. Der Staat ist Mitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV) und hat mehrmals bekannt gegeben, keine nuklearen oder chemischen Sprengköpfe auf seinen Raketen zu installieren. König Fahd erklärte, dass Saudi-Arabien die CSS-2 lediglich zur Selbstverteidigung, nicht jedoch für einen Erstschlag verwenden wird. Israel hat sich stets darüber beunruhigt gezeigt, dass die CSS-2 mit chemischen Sprengköpfen ausgerüstet sein könnte.

Schlussbetrachtung

Im Kontrast zu den im Nahen und Mittleren Osten vorhandenen Militärpotenzialen, sind in der Region Ansätze zur Rüstungskontrolle bisher nicht zu erkennen. Sowohl der am 11. April 1996 in Kairo unterzeichnete Vertrag von Pelindaba, der eine Nuklearwaffenfreie Zone (NWFZ) in Afrika errichtet, als auch weitere multilaterale Abkommen wie der NVV oder das Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ) geben Möglichkeiten, erste Rüstungskontrollmaßnahmen zu etablieren. Eine Lösung in Bezug auf die angehäuften Raketenarsenale auf der Basis von ersten Vertrauensbildenden Maßnahmen ist ebenfalls überfällig.

Die Resolution 687 von 1991, die die Abrüstung des Irak beinhaltet, enthält auch die Aussage, dass die Schritte zur Überwachung und Zerstörung der MVW im Irak im Hinblick auf die „Errichtung einer Zone, die frei von Massenvernichtungswaffen und allen dafür vorgesehene Trägerraketen“ getroffen worden ist und dass das Ziel eines weltweiten Verbots von C-Waffen angestrebt wird. Hervorhebenswerte Anstrengungen, dies zu erreichen, hat es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Im Gegenteil, insbesondere die USA als de facto regionale Ordnungsmacht hat sich aus dem aktiven Rüstungskontrollprozess zurückgezogen. Sie exportiert lieber Waffen in die Region, als Stabilität, stimuliert die Nachfrage durch neue Kriege und setzt auf klassische Allianzpolitik. Auf globaler Ebene wurde ein Rüstungskontrollvertrag gekündigt, weitere treten erst gar nicht in Kraft. Für die Region existieren von keiner Seite aus ernsthafte Initiativen zur Regulierung des vorhanden Militärpotentials, geschweige denn zur Abrüstung. Lösungen werden wohl auf absehbare Zeit mit der Waffe nicht mit der Diplomatie gesucht werden.

Anmerkungen

1) Diese umfasst die Regionen Maghreb, Mashrek, Persisch-Arabischer Golf.

2) Details siehe: Margret Johannsen (2002): Rüstung und Rüstungskontrolle im Nahen Osten, in: Uta Klein/Dietrich Thränhardt (Hrsg.): Gewaltspirale ohne Ende? Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen Osten, Schwallbach/Ts., 190-229. Weltweit beträgt die Relation 1: 269 und für die europäische NATO-Region 1: 195, ebenda, S. 191.

3) SIPRI: http://projects.sipri.se/milex/mex_wnr_table.html (11.11.02); SIPRI Yearbook 2002 (2002): Armaments, Disarmament, and International Security, Oxford: 234, 266 . Berechnungsgrundlage: konstante US$ (1998); BICC (2002) Conversion Survey 2002 Global Disarmament, Demilitarization and Demobilization, Baden-Baden: 41.

4) Ebenda. Detaillierte Angaben dazu: Cordesman 2001: The Arab-Israeli Military Balance in 2001 A Graphic Analysis. Download: www.csis.org (11.11.02).

5) SIPRI 2002: 286 (eigene Berechnung). Weltweit sind dies 2,6 Prozent (SIPRI 2002: 231) und im europäischen NATO-Bereich 2,1 Prozent, IISS (2002): The Military Balance 2002-2003: 231. BICC 2002: 41.

6) Siehe Margret Johannsen 2002: 200.

7) SIPRI 2002: 356, 407. Vergleichsgrundlage: „konstante“ US$ (1990); Margret Johannsen 2002: 200.

8) SIPRI 2002: 376, 407; IISS 2002: 341.

9) Ein systematischer und tiefgehenderer Vergleich bietet Cordesman 2001.

10) IISS 2002: 103 ff. Die Flugstunden der Piloten liegen nicht über 120 h/ Jahr; BICC 2002: 41.

11) BICC 2002: 42; IISS 2002: 118.

12) SIPRI 2002: 413; IISS 2002: 96 ff., 283; BICC 2002: 41.

13) Cordesman 2001; IISS 2002: 278; SIPRI 2002: 422 f.

14) Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Vereinigte Arabische Emirate.

15) Syrien, Libanon, Jordanien, Ägypten.

16) IISS: 2002: 283 ff.

17) Command, Control, Communication.

18) IISS 2002: 98 f.

19) Ebenda: 23, 97; Siehe aktuell: GlobalSecurity.org: US-Forces Order of Battle – 11. November: www.globalsecurity.org/military/ops/iraq_orbat_021111.htm (13.11.02); Nicht hinzu gezählt wurden Truppen in unmittelbarer Nähe wie die 6. US-Flotte und europäische Verbände.

20) Berechnungen: Johannsen 2002: 194, auf der Grundlage von Cordesmann 2000: The Arab-Israeli Military Balance in 2000. Download: www.csis.org (15.11.02); BICC 2002: 40 ff.

21) Eine ausführliche Bewertung bei: Cordesman 2001.SIPRI 2002: 432; IISS 2002: 284.

22) BICC 2002: 46 – Die eigentliche Zahl könnte deutlich höher liegen, da das Nuklearwaffenprogramm hier wahrscheinlich nicht enthalten ist.

23) Johannsen 2002: 192 ff.

24) Ca. 50 – 100 Beschäftigte hatten sieben B-Waffentypen hergestellt und getestet. Anthrax, Botulin und Aflatoxin wurden in großen Mengen produziert und in Bomben, Granaten und Sprühbehältern abgefüllt. Feldtests wurden durchgeführt. 1995 gab der Irak erstmalig zu, B-Waffen in größeren Mengen hergestellt, diese aber 1990 vernichtet zu haben.

Christian Mölling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Friedens- und Sicherheitspolitik (IFSH)
Dr. Götz Neuneck ist Leiter des Arbeitsbereiches »Abrüstung und Rüstungskontrolle« am IFSH

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2003/2 Machtfragen, Seite