W&F 2022/2

Das Sanktionsregime gegen Russland

Friedenspolitische Reflexionen angesichts des Krieges gegen die Ukraine

von Sascha Werthes und Melanie Hussak

Der Krieg der Atommacht Russland gegen die Ukraine hat zu einer Verhängung weitreichender Sanktionsmaßnahmen einer Vielzahl von Staaten geführt. Der friedenspolitische Nutzen von Sanktionen ist jedoch umstritten, da die Einschätzung der Möglichkeiten einer Erreichung intendierter Ziele eher pessimistisch stimmt, die Erwartung nicht-intendierter Folgen problematisch ist und die Gefahr einer durch die Sanktionen stimulierten eskalierenden Dynamik nicht von der Hand zu weisen ist. Wie können wir also die multilateralen Sanktionen gegen Russland friedenspolitisch einordnen?

Sanktionen sind ein beliebtes und viel genutztes Mittel uni-, pluri- und multilateraler Politik – so auch im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine. Nicht nur als Mittel der Interessendurchsetzung einzelner oder weniger Staaten, sondern ebenso in ihrer multilateralen und transnationalen Form werfen Sanktionen jedoch einige frie­dens­politische und friedensethische Fragen auf (siehe hierzu auch die Beiträge von Schweitzer 2019 und Lohrer 2019 in W&F). Die zum Teil hitzig geführten friedenspolitischen Debatten entstehen hierbei nicht nur aufgrund von Überlegungen zu ihrer umstrittenen politischen Wirksamkeit (s. u.a. Peksen 2019). Vielmehr ist mittlerweile gut dokumentiert, dass umfassende wie auch gezielte Sanktionsregime negative sozioökonomische, politische sowie humanitäre Folgen für die Bevölkerung im jeweils adressierten Zielstaat, im Sendestaat als auch in Drittstaaten haben können (anstelle vieler Meissner und Mello 2022; Early und Peksen 2022).

Wir unternehmen daher einige friedenspolitische Reflexionen zu Missverständnissen, Erwartungen sowie den friedensethischen Dilemmata mit Blick auf das multilaterale Sanktionsregime gegen Russland.

Zwangsbewehrung statt Machtmittel

Aus unserer Sicht gilt es zwei miteinander verwobene Diskursstränge über »Sanktionen« als friedenspolitisches Instrument klar zu unterscheiden. Zum einen, die argumentative Fokussierung auf (zumeist uni- oder plurilaterale) »Sanktionen« als Mittel einer interessengeleiteten Machtpolitik, um (die eigenen) Interessen gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Zum anderen, ein Verständnis von Sanktionen als Mittel zur Zwangsbewehrung von Normen, um diese zu erhalten oder auch durchzusetzen.

Im ersteren Falle birgt die vermeintliche »Sanktionspolitik« augenscheinlich ein hohes Risiko der Konflikteskalation. Maßnahmen einer interessengeleiteten Machtausübung werden eventuell mit Gegenmaßnahmen beantwortet, welche wiederum in Reaktion hierauf zu weiteren oder verschärften Maßnahmen führen können. Zudem sind Machtausübungen dieser Art auch nur erfolgversprechend, wenn man aus der Position des vermeintlich Stärkeren eine asymmetrische Kräftekonstellation für sich nutzen kann. Allerdings dokumentiert die »Global Sanctions Data Base« in der Auswertung der zwischen 1950 bis 2019 erfassten Sanktionsepisoden nur rund ein Drittel der Fälle als erfolgreich (vgl. Christen und Felbermayr 2022, S. 70). Entlang dieser Betrachtungen bringt Lohrer (2019) in einem früheren Heft von W&F Sanktionen mit reiner Machtpolitik in einen Zusammenhang und lehnt sie als Instrument einer Friedenspolitik zu Recht ab. Denn „nicht jede Machtausübung ist eine Sanktion, sondern nur die, die mit dem Anspruch auftritt, eine allgemeine Norm [sic] zur Geltung zu verhelfen“ (Daase 2019, S. 28f.). Entscheidend für eine friedensethische Bewertung, so kann man im Anschluss an Daase argumentieren, ist daher die argumentativ überzeugende und nicht nur deklaratorische Berufung auf und die Rechtfertigung von allgemeinen Normen, zu deren Erhalt politische oder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen verhängt werden.

Dies bringt uns zum zweiten Diskursstrang. Hier sollen Sanktionen „als eine Maßnahme der sozialen Kontrolle verstanden werden, also als Reaktionen anderer auf normgemäßes oder von der Norm abweichendes Verhalten eines Sanktionsadressaten“ (Werthes 2019, S. 122f.). Auch wenn hier ebenfalls grundsätzlich die Gefahr besteht, dass Sanktionen zu einer Konflikteskalation beitragen können, so ist die zugrundeliegende Handlungslogik eine fundamental andere. Eine normativ erwünschte Ordnung soll durch die Zwangsbewehrung der entsprechend formulierten Prinzipien und Normen stabilisiert werden. Genau auf dieser Idee beruht auch das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der VN-Charta verankert ist und welches das in der Charta verankerte Gewaltverbot (Art. 2.4) im Sinne einer internationalen Friedensordnung absichern soll. Durch ihre Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen haben Staaten grundsätzlich ihre Akzeptanz zu den in der Charta verankerten Prinzipien und Normen erklärt. Das damit verbundene System kollektiver Sicherheit basiert auf der Vorstellung, dass Akteure von Angriffshandlungen sowie von einer friedensbedrohenden oder friedensbrechenden Politik (Art. 39) abgehalten werden, wenn ihnen sonst kollektive nichtmilitärische (Art. 41) oder gar militärische Zwangsmaßnahmen (Art. 42) drohen.

Folgt man den Ausführungen Daases (2019, S. 15-18), so wird hier eine rechtspazifistische Position sichtbar. Die Chance zur Überwindung von Krieg (und Gewalt) wird hier in der rechtlich gestützten Monopolisierung von Zwangsgewalt bei einer internationalen Organisation gesucht. Die friedensethische Legitimität hängt somit von ihrer Normfundierung sowie ihrer regelbasierten Verhängung ab. Eine solche rechtspazifistische Position akzeptiert also das »traurige Notmittel« Sanktionen als friedenspolitische Option „unter bestimmten Voraussetzungen“ (s. auch Schweitzer 2019).

Friedenspolitische Erfolgsparameter von Sanktionsregimen

Hiermit einher geht eine weitere für eine kritische friedenspolitische Debatte über Sanktionen wichtige Überlegung. Die in einer solchen rechtspazifistischen Argumentation verankerte normative Rechtfertigungsnotwendigkeit von Sanktionen verändert die Erfolgsparameter von Sanktionen (hierzu Daase 2019, S. 28). Denn der Aspekt einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Sanktionen verliert an Bedeutung. Insofern die Bekräftigung einer allgemeinen Norm die Hauptfunktion von Sanktionen ist und nicht unbedingt die Erzwingung eines bestimmten Handelns, können auch macht- und gewaltlose Sanktionen erfolgreich sein. Entsprechend argumentiert dann auch Daase (ebd.): „Sanktionen scheitern nicht dadurch, dass sie eine beabsichtige Verhaltensänderung nicht erreichen, sondern allenfalls dann, wenn die Berufung auf die zugrundeliegende Norm nicht gelingt und die Sanktion zu Recht als illegitimer Zwang angesehen wird.

Aus rechtspazifistischen Überlegungen heraus, stellt damit die Annahme der Resolution zur Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine am 2. März 2022 durch 141 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen eine beeindruckende Missbilligung unter Verweis auf allgemeine Normen (u.a. das allgemeine Gewaltverbot, Recht auf territoriale Integrität, Prinzipien des humanitären Völkerrechts) dar (VN-GA 2022). Auf Grundlage dieser Resolution lässt sich die Zwangsbewehrung dieser Normen mittels Sanktionen friedenspolitisch rechtfertigen.

Aus friedenspolitischen Überlegungen heraus sollte jedoch eine rechtspazifistische Rechtfertigungsmöglichkeit von Zwangsmaßnamen nicht als voraussetzungslose Legitimierung aller beliebigen Zwangsmaßnahmen missverstanden werden. Weitere friedenspolitische Überlegungen sind notwendig.

Friedenspolitische Prüfung der Angemessenheit

Die Zwangsbewehrung von Normen sollte in »friedenspolitischer Absicht« erfolgen. Zwangsmaßnahmen und ihre Aufhebungsbedingungen sollten mit dem Ziel verhängt werden, die Bedingungen eines gewaltfreien Zusammenlebens zu bewahren oder (wieder) herzustellen (Werthes 2019, S. 139ff). Dies bedeutet, Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden, die zu einer Eskalation des Konflikts beitragen und eine Transformation und Konfliktbearbeitung erschweren. Die Verhängung von Sanktionen mit dem expliziten oder impliziten Ziel, einen Regierungswechsel im Zielland herbeizuführen, sind daher friedenspolitisch problematisch, da sie die Fronten verhärten und einen diplomatischen Dialog erschweren. Entsprechend sind auch Reisebeschränkungen – zumindest vorübergehend – aufzuheben, damit Regierungsverantwortliche und ggf. weitere politische Eliten des Landes an diplomatischen Gesprächen teilnehmen können. Die Einbettung von Sanktionsmaßnahmen in eine perspektivisch über Jahrzehnte andauernde Eindämmungsstrategie gegenüber Russland – ganz gleich wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt – wie sie Lake (2022) einfordert, mag aus sicherheitspolitischer Sicht plausibel erscheinen, eine friedenspolitische Absicht ist hier jedoch nur noch schemenhaft zu erkennen.

Die »ultima ratio« der Zwangsbewehrung von Normen muss es sein, unter allen geeigneten Mitteln die jeweils gewaltärmsten Mittel vorzuziehen. Dies beinhaltet auch die beständige Suche nach alternativen, gegebenenfalls positiven oder gewaltärmeren Sanktionen, mit denen die friedenspolitischen Ziele ebenfalls verfolgt werden können. Zwangsbewehrung sollte in diesem Sinne ein Kontinuum ausnutzen, bei dem unterschiedliche soziale, politische, ökonomische Kosten auferlegt werden, um ein bestimmtes Verhalten zu fördern (Daase 2019, S. 24). Eng verbunden ist hiermit das Kriterium der »Verhältnismäßigkeit der Mittel«: Umfang, Dauer und Intensität der Zwangsmaßnahmen sind auf dasjenige notwendige Mindestmaß zu begrenzen, welches eine Aussicht auf Erfolg offeriert. Im Sinne eines »Unterscheidungsprinzips« sind nicht direkt beteiligte beziehungsweise nicht verantwortliche Personen, Gruppen und Einrichtungen soweit es geht zu schonen. Mit Blick auf politisch-institutionelle, ökonomische, soziale, kulturelle, ökologische und insbesondere auch humanitäre Folgen von Zwangsmaßnahmen gilt es eine »Verhältnismäßigkeit der Folgen« zu beachten.

Eine friedenspolitisch akzeptable Sanktionspolitik erfordert in diesem Sinne ein hohes Maß an »Flexibilität«, da auf die Dynamiken des Konflikts schnell und angemessen reagiert werden sollte. Die Entschärfung oder vorübergehende Aufhebung der Sanktionsmaßnahmen gilt es zu überlegen, sofern sich Gelegenheitsfenster, im Sinne von „Reife-Momenten“ (Zartman 2022), für eine diplomatische Bearbeitung des Konflikts abzeichnen.

Schlussbemerkungen

Wladimir Putin hat mit seiner irredentistischen, expansionistischen Aggressionspolitik gegen die Ukraine nicht zum ersten Mal die Gültigkeit der in der VN-Charta verankerten Prinzipien und Normen missachtet und damit eben auch infrage gestellt. Die klare Missbilligung seiner Aggression gegen die Ukraine durch die Generalversammlung war ein wichtiges, überzeugendes und notwendiges Signal mit dem Anspruch, den in friedenspolitischer Absicht formulierten, allgemeinen Normen (u.a. Gewaltverbot) zur Geltung zu verhelfen, die Gültigkeit aufrechtzuerhalten und eine Beachtung einzufordern. Wäre dies nicht erfolgreich gelungen, stünde die Büchse der Pandora weit offen. In allen Regionen der Welt würde sich das Risiko erhöhen, dass andere seinem Beispiel folgen.

Die in Verbindung hierzu stehenden regelmäßig neu zu befristenden multilateral abgestimmten Sanktionsmaßnahmen mit der Forderung nach Einstellung der Kampfhandlungen und Wiederherstellung der territorialen Integrität können somit für sich eine rechtspazifistische Normfundierung in Anspruch nehmen. Die Sanktionen gegen russische Finanzinstitute, den Energiesektor, den Verkehrssektor, den Technologiesektor, gegen die Medien sowie Sanktionen gegen Politiker*innen, Geschäftsleute und Oligarchen sind weitreichend. Ein Sanktionsregime dieser Art gegen eine G-20 Wirtschaftsnation mit einem ausgeklügelten militärisch-industriellen Komplex und einem diversifizierten Korb von Rohstoffexporten hat es bisher noch nicht gegeben (vgl. Mulder 2022). Die sozio-ökonomischen und politischen Folgen dieser Sanktionsmaßnahmen in Verbindung mit den Kosten und Folgen, die Putins Aggressionspolitik als solche produziert, sind schwer genau zu prognostizieren, werden jedoch nicht nur für die russische Bevölkerung gravierend sein. Diesbezüglich beschreibt Mulder (2022) vier Problematiken, die schon mit den bisherigen Sanktionsmaßnahmen einhergehen: Spillover-Effekte in benachbarte Länder und Märkte, Verstärkungseffekte durch Divestment des Privatsektors, Eskalationseffekte in Form russischer Antworten, und (negative) systemische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Hinzuzufügen sind negative politische und humanitäre Folgen in Russland und weiteren Staaten.

Dies stellt ein friedenspolitisches Dilemma dar, welches jedoch nicht dazu führen sollte, die bisherigen gezielten und selektiven Sanktionsmaßnahmen aus friedenspolitischen Erwägungen heraus vorschnell abzulehnen. Sanktionen sind in rund einem Drittel der Fälle erfolgreich und können eben auch die militärischen Fähigkeiten zur Kriegsführung eindämmen sowie angesichts der erzeugten Kosten dazu beitragen, den Druck zur Verhandlungsbereitschaft zu erhöhen. Eine naive Sanktionspolitik jedoch, welche darauf hofft, durch immer neue Sanktionen, also mit der Erzeugung von mehr Druck und mehr Leid beim Adressaten ein Umdenken zu forcieren, ist mit Blick auf die oben genannten Prüfkriterien abzulehnen. Das heißt, bei jeder zu diskutierenden neuen Verhängung oder Verlängerung von Sanktionsmaßnahmen müssen die vorgestellten friedenspolitischen Überlegungen zur Prüfung der Angemessenheit von Sanktionsmaßnahmen berücksichtigt werden, wollen politische Entscheidungsträger*innen mit großer Vorsicht und hoffentlich auch friedenspolitischem Geschick vorgehen.

Literatur

Early, B. R.; Peksen, D. (2022): Does Misery Love Company? Analyzing the Global Suffering Inflicted by US Economic Sanctions. Global Studies Quarterly, 2(2): (Online first).

Christen, E.; Felbermayr, G. (2022): Sanktionspolitik gegen Russland. Wirtschaftsdienst (Zeitschrift für Wirtschaftspolitik), 102(2), S. 70-71.

Daase, C. (2019): Vom gerechten Krieg zum legitimen Zwang. Rechtsethische Überlegungen zu den Bedingungen politischer Ordnung im 21. Jahrhundert. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 13-32.

Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN-GA) (2022): Aggression gegen die Ukraine. UN Doc A/Res/Es-11/1, 2. März 2022. New York: Vereinte Nationen.

Lake, D. A. (2022): Containment 2.0: Sanctions For The Long Haul. Political Violence at a Glance, 9.3.2022.

Lohrer, H. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Kein Instrument der Friedenspolitik. W&F 4/2019, S. 37-39.

Meissner, K. L.; Mello, P. A. (2022): The unintended consequences of UN sanctions: A qualitative comparative analysis. Contemporary Security Policy: (Online first, 1-31).

Mulder, N. (2022): The Toll of Economic War. How Sanctions on Russia Will Upend the Global Order. Foreign Affairs, (Online, 22.3.2022)

Peksen, D. (2019): When Do Imposed Economic Sanctions Work? A Critical Review of the Sanctions Effectiveness Literature. Defence and Peace Economics, 30(6), S. 635-647.

Schweitzer, C. (2019): Sanktionen: Ein friedenspolitisches Instrument – Unter bestimmten Voraussetzungen eine Option. W&F 4/2019, S. 35-36.

Werthes, S. (2019): Politische Sanktionen im Lichte rechtserhaltender Gewalt. In: Werkner, I.; Rudolf, P. (Hrsg.): Rechtserhaltende Gewalt – zur Kriteriologie. Wiesbaden: Springer, S. 121-150.

Zartman, I. W. (2022): Understanding Ripeness: Making and Using Hurting Stalemates. In: Mac Ginty, R.; Wanis-St. John, A. (Hrsg.): Contemporary Peacemaking. Peace Processes, Peacebuilding and Conflict. 3. Aufl., Cham: Springer, S. 23-42.

Dr. Sascha Werthes ist Dozent für Internationale Beziehungen und Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Trier.
Melanie Hussak ist Mitglied der Redaktion von W&F und an der Friedensakademie Rheinland-Pfalz assoziiert.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 18–20