Das Völkerrecht in der Entwicklung als Friedensordnung
von Bernhard Gräfrath
Die Entwicklung des Völkerrechts vollzieht sich in Abhängigkeit von der Entwicklung der internationalen Gesellschaft – und zwar nicht linear oder unmittelbar, sondern über die Vereinbarungen von Staaten. Sie ist daher sehr stark mit der Entwicklung der internationalen Beziehungen verbunden. Unser Autor geht ein auf die Ereignisse im letzten Jahrhundert, die sich auf die Entwicklung des Völkerrechts entscheidend ausgewirkt haben, und untersucht anschließend die aktuellen Tendenzen.
In dem vergangenen „kurzen Jahrhundert“1 hat es zwei einschneidende Ereignisse gegeben, die sich auf das Völkerrecht als Rechtsordnung bestimmend ausgewirkt haben: Das war zum einen die sozialistische Oktoberrevolution mit dem Dekret über den Frieden und der Veröffentlichung der Geheimabmachungen über die Aufteilung der imperialistischen Beute nach dem ersten Weltkrieg. Sie ebnete den Weg zur Ächtung des Krieges als Mittel der internationalen Politik, orientierte auf die Gleichberechtigung und friedliche Zusammenarbeit aller Staaten und die Entfaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Mit ihr endete eine Periode, die mit dem Westfälischen Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg begonnen hatte. Sie war wesentlich durch die Vorherrschaft Europas in den internationalen Beziehungen gekennzeichnet, setzte zwar den »Religionskriegen« ein Ende, beschränkte das Völkerrecht aber auf die so genannten »zivilisierten Völker«, d. h. die christlich dominierten Staaten. Das »Europäische Völkerrecht« sanktionierte den Kolonialismus der imperialistischen Mächte, die Intervention und den Krieg als Mittel zur Durchsetzung nationaler Interessen. Es ist fast in Vergessenheit geraten, dass bis 1917 das Recht zum Kriege als Kriterium staatlicher Souveränität galt und die nichteuropäischen Völker und ihr Territorium als Objekt kolonialer Ausbeutung und Eroberung angesehen wurden.
Das zweite Ereignis war der Sieg der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg, aus dem die Organisation der Vereinten Nationen hervorging. In ihrer Charta wurde zum ersten Mal in der Geschichte die souveräne Gleichheit aller Staaten als grundlegendes Prinzip des Völkerrechts anerkannt. Es wurden grundlegende Rechtsprinzipien zwischen allen Staaten vereinbart, darunter die souveräne Gleichheit der Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Drohung mit und der Anwendung von Gewalt sowie die Pflicht zur friedlichen internationalen Zusammenarbeit und Streitbeilegung. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der brutalen menschenvernichtenden Gewalt, mit der die deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg versucht hatten ihre Vorstellungen von der Neuordnung Europas und die Weltherrschaft durchzusetzen, war man entschlossen sicherzustellen, dass zukünftig nicht mehr die Gewalt der Mächtigen, sondern das Recht die Beziehungen zwischen den Staaten bestimmen und den Frieden gewährleisten sollte.
Versuche der USA, gestützt auf ihr damaliges Atombombenmonopol, diese Ordnung noch in ihrem Entstehen ihren Interessen unterzuordnen, scheiterten. Es dauerte jedoch fast 20 Jahre, bis es in der Praxis gelang, eine allgemeine Orientierung der internationalen Beziehungen auf die Prinzipien der Charta durchzusetzen. Der Dekolonisierungsprozess, der 1960 seinen Höhepunkt erreichte, markiert den Triumph der Völker über die imperialistische Kolonialherrschaft und gab den Menschenrechten einen neuen Stellenwert in der friedlichen internationalen Zusammenarbeit der Staaten. Er führte schließlich auch dazu, dass am 18. Dezember 1962 selbst die USA, Großbritannien und Frankreich der Resolution 1825 (XVII) der UNO-Generalversammlung zustimmen mussten, die darauf drängte, die bereits 1945 in der Charta verankerten grundlegenden Prinzipien erneut zu bekräftigen und klarer zu formulieren, um ihr Gewicht als Maßstab der internationalen Beziehungen zu verstärken. Ausdrücklich wurde in der Resolution unterstrichen, dass diese Prinzipien „für die Weiterentwicklung des Völkerrechts und für die Förderung der Herrschaft des Rechts zwischen den Völkern“ von überragender Bedeutung sind. Es war offensichtlich und wurde in der Debatte auch gesagt, dass es darum ging, auch in den internationalen Beziehungen die Herrschaft des Rechts an die Stelle der imperialistischen Willkürherrschaft zu setzen. Ein entsprechender Text wurde schließlich nach langen Verhandlungen mit der so genannten Prinzipiendeklaration als Resolution 2625 (XXV) anlässlich des 25. Jahrestages der UNO am 24. Oktober 1970 von der Generalversammlung einmütig verabschiedet.
In der öffentlichen Diskussion stehen, wenn über die Entwicklung des Völkerrechts gesprochen wird, normalerweise die Sicherheitsfragen im Vordergrund. Es wäre aber falsch dabei zu übersehen, dass Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Kommunikation und natürlich auch die Militärtechnik mit ihrer gewaltigen Entwicklung in den letzten 50 Jahren einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts ausgeübt haben. Nicht nur traditionelle Bereiche des Völkerrechts wie das Seerecht, Kriegsrecht, das Diplomaten- und Vertragsrecht haben wesentliche Veränderungen erfahren. Es sind auch völlig neue Gebiete in die Reichweite des Völkerrechts gelangt, wie z.B. das Weltraumrecht, das Luftrecht, das Umweltrecht, die Förderung und der Schutz von Menschenrechten, die Telekommunikation und wichtige Aspekte des Wirtschaftsrechts. Andere Bereiche haben eine völlig neue Bedeutung erlangt, wie z.B. die internationale Zusammenarbeit im medizinischen Bereich oder bei der Kriminalitätsbekämpfung. Ohne Zweifel ist das Netz der internationalen Zusammenarbeit der Staaten heute wesentlich umfänglicher, vielfältiger und engmaschiger, und es funktioniert weit gehend unauffällig im Hintergrund, effektiv und ohne große Schlagzeilen zu verursachen. Gerade die Vielgestaltigkeit und das schnelle Wachstum des völkerrechtlichen Regelwerks erfordert und verstärkt die Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit der grundlegenden Prinzipien und zwingenden Normen, die nicht durch einfachen Vertrag und schon gar nicht durch »andersartige« Praxis verändert, aufgehoben oder »weiterentwickelt« werden können. Sie halten das ganze System zusammen und gewährleisten mit der Erhaltung des Friedens seine Funktionsfähigkeit.
Allerdings ist es in all diesen Jahren nicht gelungen, die ökonomischen Beziehungen in das System einzugliedern. Alle Versuche, Regeln für eine neue internationale Wirtschaftsordnung aufzustellen und durchzusetzen, sind am Widerstand der industriell hochentwickelten Länder gescheitert, und die UN Konzeption der Entwicklungshilfe ist praktisch zur Not- und Katastrophenhilfe degeneriert. Es sind diese Defizite in der Völkerrechtsentwicklung, die heute seiner Wirksamkeit Grenzen setzen, seine Effektivität ernsthaft beeinträchtigen, sich als Hindernis für notwendige neue Regeln erweisen und nicht nur in den so genannten Entwicklungsländern die Entstehung von Konflikten begünstigen. Die Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank tragen nicht zur Entwicklung der wenig entwickelten Länder und zum Abbau ihrer »Schulden« bei sondern zum Abbau öffentlicher Einrichtungen und Betriebe, zu neuer Schuldknechtschaft, zur Polarisierung von Reichtum und Armut. Wenn es im Gefolge des ökonomischen und politischen Druckes zum Zerfall von Staaten oder zu schwer wiegenden sozialen Konflikten innerhalb eines Staates kommt, wird dies zum Vorwand genommen, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten erkämpfte Gewaltverbot ausgerechnet im Interesse des angeblichen Schutzes der Menschenrechte außer Kraft zu setzen, den Kern des gegenwärtigen Völkerrechts zu unterlaufen.
Das klassische Beispiel für diese Entwicklung war der Krieg der NATO gegen Jugoslawien und die im Zusammenhang damit entwickelte NATO-Strategie, die inzwischen auch eine EU-Strategie ist und die das Völkerrecht praktisch ignoriert. Offensichtlich befinden wir uns nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa in einer Restaurationsperiode, in der die durch NATO und EU verkörperte »Heilige Allianz« versucht, so wie im Innern der Staaten, die sozialen Sicherheitssysteme in den internationalen Beziehungen die völkerrechtlichen Fortschritte nach dem II. Weltkrieg wieder abzubauen. Das ist besonders deutlich an zwei Eckpunkten der völkerrechtlichen Entwicklung zu beobachten: am Gewaltverbot und an dem Grundsatz der Förderung der Menschenrechte.
Zur Durchsetzung des Gewaltverbots wurde in der Charta versucht, die UNO als kollektives Sicherheitssystem zu konstruieren. Im Kapitel VII enthält die Charta spezielle Regeln, deren Besonderheit darin besteht, dass sie den Sicherheitsrat ermächtigen, im Namen der Mitgliedstaaten der UNO verbindliche Beschlüsse zu fassen, wenn eine Friedensbedrohung oder -verletzung vorliegt und – wenn notwendig – ökonomische, selbst militärische Sanktionen zur Wahrung bzw. Wiederherstellung des Friedens anzuordnen. Dazu bedarf es allerdings einer Mehrheit von 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder, darunter der 5 ständigen Mitglieder (USA, Großbritannien, Frankreich, China, Russland). Das Vetorecht war 1945 als Sicherung gegen den Missbrauch der weit reichenden Kompetenzen des Sicherheitsrates gedacht. Über viele Jahre war jedoch damit die Beschlussfähigkeit des Sicherheitsrates durch den Kalten Krieg behindert. Nach dem Untergang der sozialistischen Staaten in Europa und der Etablierung der »Freien Marktwirtschaft« als globales ökonomisches System ist aber das ökonomische und militärische Übergewicht der USA so groß, dass das »Einstimmigkeitsprinzip« im Sicherheitsrat keine genügende Sicherheit gegen einen missbräuchlichen Einsatz der Kompetenz des Sicherheitsrates bietet. Praktisch agiert die US-Außenpolitik heute nach der Formel: Wenn möglich mit der UNO, wenn nötig ohne oder auch gegen die UNO.
In der Praxis des Sicherheitsrates sind die Bestimmungen der Charta, die Sanktionen gegen Friedensbedrohungen oder Verletzungen vorsehen, lange Zeit nicht angewandt und dann wesentlich entstellt worden. Der Sicherheitsrat hat mit schwammigen Klauseln die Anwendung militärischer Gewalt an einzelne Staaten oder Bündnissysteme delegiert (wie im Irak, in Somalia, Ost-Timor, Haiti und auch bei der Besetzung des Kosovo) und damit die Entscheidung und Kontrolle über den Einsatz militärischer Mittel aus der Hand gegeben – dazu gibt es in der Charta keine Berechtigung. Die bisherige Praxis des Sicherheitsrates ist um so bedenklicher, als er seit 1990 mit einer sehr breiten Definition der Friedensgefährdung arbeitet, die im Einzelfall als Vorwand oder Tor für völkerrechtswidrige Interventionen missbraucht werden kann.
Darüber hinaus hat sich der Sicherheitsrat Kompetenzen als Gesetzgeber und Richter angemaßt, für die es in der UNO-Charta keinerlei Rechtsgrundlage gibt. Aus der Fülle der Beispiele sei hier nur auf die Sanktionsbeschlüsse gegen Libyen hingewiesen, die Einrichtung des Strafgerichtshofes für Jugoslawien und Ruanda, die Grenzregelung zwischen Kuweit und Irak, das Reparationssystem gegen Irak, das ähnlich wie seinerzeit der Versailler Vertrag für Deutschland eine dauernde ökonomische Kontrolle und Ausbeutung des Irak vorsieht. Leider hat gerade auch die letzte Resolution des Sicherheitsrates zur Fortsetzung der Blockade des Irak (1284 (1999)) erneut bestätigt, dass Frankreich, China und Russland derzeit kein ausreichendes Gegengewicht gegen die Interessen der USA darstellen. Sie bringen ihren Unwillen über die Methoden der USA zwar durch Stimmenthaltung zum Ausdruck, haben aber zur Zeit nicht die Kraft, den völkerrechtswidrigen Aktionen der USA mit einem Veto zu begegnen. Auch im Kosovo dulden sie, dass die UN mit der Kfor als Aushängeschild für die Interessen der NATO missbraucht wird. Unter dem Druck der USA schweigt der Sicherheitsrat seit Jahren zu den Verbrechen und der fortgesetzten illegalen Besetzung Palästinas durch Israel. Dagegen hat sich der Sicherheitsrat, wann immer es im Interesse der USA lag und sie in der Lage waren, dafür im Sicherheitsrat eine Mehrheit zusammenzubringen, über seine engen »polizeilichen« Kompetenzen zur Gewährleistung des Friedens hinweggesetzt und wie eine Weltregierung agiert. Der Sicherheitsrat hat gegebenenfalls sogar die dazu notwendigen »Notverordnungen«, die im State Department entworfen wurden, wie ein »Weltgesetzgeber« erlassen. Das hat nicht nur zu schwer wiegenden Deformationen des UN-Systems geführt, sondern auch dazu beigetragen, die geltende Völkerrechtsordnung auszuhöhlen.
Wie gefährlich es z.B. ist, den Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Mittel, den Krieg, auszugeben, wird durch das Strategie-Konzept der NATO vom April 1999 unterstrichen. Darin wurde der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zur Richtschnur für zukünftige militärische Aktivitäten der NATO erhoben. Ausdrücklich wird der militärische Einsatz für Fälle vorgesehen, die „nicht unter Artikel 5 (des NATO-Vertrages) fallen,“ d.h. die nicht der kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff oder der Erfüllung eines UN-Mandates dienen, also völkerrechtswidrig sind. Solche militärischen Aktionen werden als „Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung“ schön geredet. Dabei kann es sich z.B. um ausgedehnte und lang anhaltende Luftbombardements wie im Krieg gegen Jugoslawien handeln. Zu den Risiken, die angeblich zu solchen »Krisenreaktionseinsätzen«, d.h. zum Krieg berechtigen, werden ausdrücklich gezählt: „ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten…“ Dass derart begründete militärische Aktionen nach geltendem Völkerrecht verboten sind, wird in dem Strategiebeschluss der NATO sorgfältig verschwiegen.
Inzwischen ist die EU dabei, nach dem Beispiel der NATO eine »Eingreiftruppe« aufzustellen. Auch hier handelt es sich nicht mehr um ein klassisches Verteidigungsbündnis gegen einen Angriff, sondern um eine völkerrechtswidrige Interventionstruppe, die im Interesse der EU eingesetzt werden soll, wenn diese das für nötig hält. Auch diese Eingreiftruppe soll unabhängig davon eingesetzt werden, ob ein bewaffneter Angriff oder ein Mandat des Sicherheitsrates vorliegt. Obgleich eigentlich durch das Grundgesetz gebunden, betätigt sich die Bundesregierung als treibende Kraft dieser Entwicklung. Nach dem Grundgesetz dient die Bundeswehr ausschließlich der Verteidigung. Deshalb hieß bislang der zuständige Minister Verteidigungsminister und nicht Eingreifminister. Es lässt sich weder mit dem Grundgesetz noch mit dem geltenden Völkerrecht rechtfertigen, dass die Bundeswehr von einer auf die Verteidigung orientierten Armee in eine militärische Einheit verwandelt wird, die als Eingreiftruppe in fremden Ländern eingesetzt werden kann, um Krisen zu bewältigen, die die EU oder NATO u.U. selbst herbeigeführt haben. Diese Umstellung ist Teil einer Politik der Neuordnung Europas und der Welt und sucht die geltende Völkerrechtsordnung, die auf der souveränen Gleichheit der Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht, auszuhebeln.
Nun gibt es »Völkerrechtler« und natürlich Publizisten, die diese Abweichung vom geltenden Völkerrecht als moderne Entwicklung des Völkerrechts zu rechtfertigen versuchen. Sie behaupten, dass jede neue Regel unter Verletzung oder zumindest Veränderung, eben Weiterentwicklung des Rechts entstanden ist. Als typisches Beispiel der neueren Zeit wird dann auf die Entstehung der ökonomischen Zone im Seerecht verwiesen, durch die wesentliche Teile des freien Meeres der allgemeinen Nutzung entzogen wurden. Zweifellos entwickeln sich zahllose Regeln in und durch die Praxis weiter. Zu Regeln werden solche Praktiken aber erst dadurch, dass sie von den Beteiligten, das sind auch die Betroffenen, als Recht anerkannt werden. Eine Praxis, die die Aufhebung des Gewaltverbots oder der souveränen Gleichheit der Staaten beinhaltet, hat deshalb ebenso wenig wie die Wiedereinführung der Sklaverei schon von ihrem Gegenstand her eine Chance, die geltenden Regeln des Völkerrechts abzulösen. Solche Praktiken bleiben schwer wiegende Verletzungen grundlegender Prinzipien des gegenwärtigen Völkerrechts.
Ein Teil der Verwirrung, die z.Zt. systematisch genährt wird, hängt auch damit zusammen, dass man sich in der Frage der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte unter dem Druck der herrschenden Meinung weit gehend auf die Position des Neokolonialismus, der nur den internationalen Aspekt des Neoliberalismus beschreibt, eingelassen hat. Menschenrechte sind – so scheint es – zum zentralen internationalen Thema, zum eigentlichen Inhalt internationaler Politik geworden. Häufig wird der Schutz der Menschenrechte dem geltenden Völkerrecht gegenübergestellt, um so genannte humanitäre Interventionen zu rechtfertigen. „Der Begriff »Menschenrechte« taucht dabei interessanterweise besonders dann auf, wenn es um die Rechtfertigung von Krieg und Gewalt geht.“2 Außerdem ist fast immer, wenn von Menschenrechten die Rede ist, nur der kleine Sektor von Menschenrechten gemeint, der der Entfaltung des Privateigentums dient. Es wird so getan, als würde die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte von 1948 die Menschen nicht „als Personen betrachten, denen sowohl politische und bürgerliche Freiheiten als auch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rechte zustehen“ und davon ausgehen, dass „der Genuss der bürgerlichen und politischen Freiheiten und der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte miteinander untrennbar verbunden ist und ein seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beraubter Mensch nicht eine Person ist, die die Deklaration als Ideal eines freien Mannes betrachtet.“3 Die Identifizierung der Menschenrechte mit der Wertegemeinschaft Marktwirtschaft bedeutet für immer größere Teile der Völker Minderung, oft sogar Verlust grundlegender Menschenrechte. Selbst das Recht auf Leben wird dem untergeordnet, was man daran sehen kann, dass – wie im Kosovo unter offener Verletzung des Gewaltverbots – sogar der Einsatz von Raketen, giftigen Urangeschossen und Bomben gegen wehrlose Zivilbevölkerung als Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte ausgegeben werden.Die Losung von der Universalität und dem Schutz der Menschenrechte wird unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft oft als ein Vehikel zur Rechtfertigung einer Interventionsordnung missbraucht, die die Existenz eines Weltrechts mit den Individuen als Subjekt vortäuscht, um die transnationale, sich über die Souveränität der Staaten hinwegsetzende Herrschaft des Privateigentums zu sichern. Obgleich in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen vom Recht auf Privateigentum oder freie Marktwirtschaft nicht die Rede ist, geht es in der internationalen Menschenrechtsdebatte seit den 80er Jahren nicht mehr um die Rechte des Menschen, sondern um die Sicherung der Entfaltungsmöglichkeiten des Privateigentums und der so genannten freien Marktwirtschaft. Sie ist praktisch zum zentralen Menschenrecht und Kriterium von Demokratie erhoben worden, obgleich sie in keinem der Menschenrechtspakte vorkommt. „Menschenrechte werden schlicht mit kapitalistischer Marktwirtschaft und den sie kennzeichnenden politischen Herrschaftsverhältnissen identifiziert.“ (Joachim Hirsch) Immer offensichtlicher wird jedoch, dass zügellose, d.h. politisch nicht kontrollierte Marktwirtschaft die Demokratie aushöhlt und immer größere Teile des Volkes vom Genuss der Menschenrechte ausschließt. In dieser Ordnung der globalisierten Marktwirtschaft wird das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, frei über seinen politischen Status, seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung sowie seine natürlichen Reichtümer zu bestimmen, durch das Selbstbestimmungsrecht des Kapitals ersetzt. „Der Begriff Demokratie verliert so wichtige emanzipative Bedeutungen und wird zur Legitimation eines internationalen Regimes der ökonomisch-sozialen Apartheid.“ (Joachim Hirsch)
Wenn man Demokratie mit der derzeitigen westlichen Demokratie gleichsetzt und diese als Kriterium der Gewährleistung der Menschenrechte ausgibt, kann man jede politische Herrschaftsform, die den Versuch unternimmt, den Grundsatz »Eigentum verpflichtet« durchzusetzen, als mehr oder weniger schwere Menschenrechtsverletzung ausgeben, als Berechtigung zur Intervention, als Einsatzfall für die Eingreiftruppe missbrauchen. Indem Meinungs- und Pressefreiheit den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, der Herrschaft des Privateigentums untergeordnet werden, werden diese Freiheiten nicht nur 80 % der Bevölkerung entzogen, sondern zugleich zum Instrument zur Manipulierung des Volkes degradiert. Die Qualität einer nationalen Regierung wird nicht mehr daran gemessen, was sie für das Wohlergehen des Volkes bewirkt, sondern wie wirksam sie gewährleistet, dass aus dem Volksvermögen die Zinsen des Kapitals gezahlt werden. Regierungen, die Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Volkes sein wollten und sollten, werden in immer mehr Ländern zu bloßen Bütteln von Gläubigern, zu Exekutivorganen des Internationalen Währungsfonds.
Wenn Menschenrechtsverletzungen als Grund, der Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für einen Krieg ausgegeben werden, so ist das ein zynischer Etikettenschwindel, mit dem das Verhältnis von Gewaltverbot und Menschenrechten in sein Gegenteil verkehrt wird. Im geltenden Völkerrecht gibt es eine solche Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt nicht. Außerdem ist der Menschenrechtskatalog sehr umfänglich. Es gibt zahllose Menschenrechtsverletzungen der verschiedensten Art, gegen die unterschiedliche Reaktionen vorgesehen und möglich sind. Noch niemand ist auf die Idee gekommen, die Verursachung oder Existenz von Millionen Arbeitslosen, von Obdachlosen, Rassendiskriminierung, die Todesstrafe, die Verschleppung von Gerichtsverfahren usw. als Rechtfertigung für den Einsatz von Raketen und Bomben geltend zu machen. Selbst schwere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen nicht den Einsatz militärischer Sanktionen, es sei denn sie nehmen die Dimension einer Friedensgefährdung an.
Vor allem aber sind das Gewaltverbot und die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten selbst Menschenrechte, unveräußerliche Bestandteile des Rechts auf Leben. Förderung und Schutz der Menschenrechte lassen sich nicht von der Einhaltung und Durchsetzung des Gewaltverbots der UN-Charta trennen, zu seiner Aufhebung oder Umgehung nutzen. Schon 1982 hatte der Internationale Menschenrechtsausschuss, ein Organ des Menschenrechtspaktes für politische und Bürgerrechte, in seinem Kommentar zum Recht auf Leben erklärt: „Bereits in der Charta der Vereinten Nationen ist die Androhung oder Anwendung von Gewalt durch einen Staat gegen einen anderen Staat verboten, ausgenommen in Ausübung des unveräußerlichen Rechts auf Selbstverteidigung. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die Staaten die oberste Pflicht haben, Kriege, Akte des Völkermords und andere Akte massenhafter Gewalt, die willkürlich Todesopfer fordern, zur verhindern. Jede Bemühung der Staaten zur Abwendung der Gefahr eines Krieges, insbesondere eines Atomkrieges, und zur Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wäre die wichtigste Voraussetzung und Garantie für die Gewährleistung des Rechts auf Leben.“
Für den Fall, dass Menschenrechtsverletzungen zu einer Friedensbedrohung oder -verletzung werden, hat der Sicherheitsrat die Möglichkeit und die Aufgabe, das festzustellen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Auch dann handelt er nicht als Weltregierung sondern als Polizei, zur Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens, damit die Betroffenen eine friedliche Lösung finden und vereinbaren können. Wenn jedoch die NATO oder einzelne Staaten für sich das Recht in Anspruch nehmen, ohne und gegebenenfalls gegen den Sicherheitsrat zu entscheiden, wann eine Krise oder ein Konflikt eine Dimension erreicht hat, die den Einsatz militärischer Mittel rechtfertigt, und auch noch zu oktroyieren, wie die Lösung des zugrundeliegenden Konflikts auszusehen hat, dann sind wir am Ende der geltenden Völkerrechtsordnung und an der Schwelle des 21. Jahrhunderts wieder im 19. Jahrhundert angelangt. Dann geht in den internationalen Beziehungen wieder Macht vor Recht. Statt von Neoliberalismus sollte man dann richtiger von Neoimperialismus sprechen.
Offensichtlich befindet sich auch die Entwicklung des Völkerrechts z. Zt. in einer Restaurationsperiode, in der versucht wird, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzten Positionen wieder aufzuheben, zumindest aber aufzuweichen. In ihrem Kampf um Frieden und Gleichberechtigung haben die Völker – auch die ökonomisch schwachen Staaten – eine starke Position, weil sie sich in ihrem Kampf auf geltende Normen stützen können. Die weitere Entwicklung wird davon abhängen, dass sich das internationale Kräfteverhältnis verändert und es möglich wird, wesentliche Grundpositionen einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung einzuführen und durchzusetzen. Das setzt allerdings voraus, dass es gelingt, den transnationalen Monopolen Zügel anzulegen und ein Element sozialer Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen einzuführen.
Anmerkungen
1) Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 5. Auflage 1997. München/Wien.
2) Joachim Hirsch, Die Globalisierung der Menschenrechte, Freitag, 19.01.01, S. 11.
3) Resolution 421E(V) der Generalversammlung, vom 4. 12. 1950.
Dr. Bernhard Gräfrath ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 1977 bis 1986 Mitglied im UN-Menschenrechtsausschuss und von 1986 bis 1990 Mitglied der UN-Völkerrechtskommission.